Im siebten Himmel

FIKTIVE Radsport-Geschichten von Usern, die sich für schreibtalentiert halten

Moderator: Grabba

crojkr
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Beitrag: # 6767634Beitrag crojkr
16.5.2009 - 20:30

Ich denk mir, dass es für mich als stillen leser deiner Geschichte, es mal langsam an der Zeit ist, dir einen Kommentar zu diesem, in meinen Augen sehr sehr guten, AAR zu geben.
Du baust immer mehr Spannung auf und man kann nie vorrausahnen, was wohl als nächstes passieren wird! Das gefällt mir sehr und zieht mich in den bann einfach weiter zu Verfolgen, was passieren wird und ob es was mit Melinda werden wird, was noch in den Sternen steht, weil man nicht weiß wie sie denkt. Deine Screend der Landschaften sehen auch immer wunderschön aus, was mir auch sehr sher gut gefällt.
Im Großem und Ganzen ein echt toller AAR und ich freue mich auf hoffentlich viele weitere Teile von dir mit weiterhin so viel Spannung und Ungewissheit!

Andy92
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Beitrag: # 6767705Beitrag Andy92
17.5.2009 - 12:33

Danke für dein Lob. :D

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Am Himmel zeichneten sich die typischen zerrissenen und flachen Fönwolken ab. Die Sonne brüllte vom Himmel auf die unzähligen bunten Helme der jungen Nachwuchsfahrer herab und ein böiger Wind lies das Fahrerfeld schon jetzt erzittern. Zwölf Teams waren für das Rennen gemeldet, sodass insgesamt 72 Fahrer hier im Start- und Zielbereich auf das Signal warteten, während die doch recht zahlreich erschienenen Zuschauer von einem Sprecher mit kecken Werbesprüchen für sämtliche Sponsoren über die Lautsprecher mehr oder weniger unterhalten wurden.
Ich wartete im vorderen Drittel des Feldes neben Sven und Danilo auf den Startschuss. Wir unterhielten uns über absolut belanglose Dinge, die uns von der Nervosität und der Angst vor dem kräftezehrenden Gegenwind ablenken sollten. Angst war wohl eher übertrieben, ich verspürte aber trotzdem gehörigem Respekt. Ich wusste nun mal überhaupt nicht, was in wenigen Augenblicken auf mich zukommen würde.
Gleich war es soweit. Der Funkspruch vom Gipfel des Glaubenbergpasses kam ungefähr 15 Minuten später als erwartet. Die Jungs des U17 Rennens, dass vor unserem gestartet wurde, hatten also eine Viertelstunde länger gebraucht als berechnet. Das nahm mir auch noch die letzte Hoffnung auf eine etwas angenehmere erste halbe Stunde.

Der Sprecher kündigte nun offiziell den Start an. Die Zuschauer applaudierten, als der Startschuss fiel und nach und nach, alle vor mir in ihre Pedalen klickten und sich auf den Weg machten. Irgendwo in den ersten Reihen befanden sich Michael und die anderen zwei. Sven, Danilo und ich orientierten uns immer weiter nach vorne, was auf den ersten drei neutralen Kilometern durch ein Gewerbegebiet von Luzern auch nicht allzu schwer war. Wir passierten die Autobahn in Richtung Gotthardpass, ein, zwei Kreisverkehre und landeten schließlich auf der breiten N4. Die erste Straße, die direkt Richtung Süden führte und sofort blies uns der Wind ins Gesicht. Ich erinnerte mich, dass die Rennleitung hier das Geschehen offiziell frei geben wollte. Aber wir waren immer noch nicht weit genug vorne, um das Rennen von Anfang an kontrollieren zu können. Ich ging mit Sven und Danilo am Hinterrad leicht in den Wind und versuchte nach vorne zu kommen, doch es war bereits jetzt ein äußerst zäher Kampf.
Im gleichen Augenblick bemerkte ich das Auto vor dem Feld, aus dessen Dachfenster jetzt ein Mann hervorlugte und prompt die Fahne als Startsignal schwenkte. Verdammt! Uns fehlten vielleicht noch 5 Positionen um mit den anderen einen Zug aufbauen zu können, doch das erledigten gerade andere. Ein niederländisches Team verschärfte sofort in gestaffelter Mannschaftsaufstellung das Tempo. Ein unglaublicher Ruck ging durch das Feld. Bis jetzt hatten wir gegen den Wind magere 25 km/h entgegengesetzt. Jetzt musste ich mit aller Mühe und Not 33 zusammen kratzen, um überhaupt noch dran zubleiben. Direkt vor mir, an ungefähr 20. Position, fuhr jetzt Sven, hinter mir Danilo. Doch ich hatte das ungefähr 2 Meter große Loch zu Sven zu spät bemerkt, zu groß war die Beschleunigung vorne im Feld geworden. Ich gab alles, doch was ich auch tat, aus den zwei Metern wurden schnell drei, vier, fünf, zehn. Plötzlich waren es zwanzig! Ich musste aus der Führungsarbeit gehen, doch hinter mir fuhr der Bergfloh Danilo, auch er lies die Führung aus und so übernahmen andere das Ruder. Ich warf einen Blick zurück: Es war unglaublich, aber unsere Gruppe fasste vielleicht noch zwölf Mann, dann folgte ein Loch zu einer etwas größeren Gruppe und in weiter Ferne kämpfte die letzte Gruppe um den Anschluss.
Der Abstand von ungefähr 50 Meter schien ungefähr gleich zu bleiben, doch als ich mich an ungefähr sechster Position wieder einreihte und nach vorne blickte, konnte ich die Spitzengruppe nicht mehr sehen. Da vorne kam eine Rechtskurve, in vielleicht siebzig Metern. Das war doch unmöglich! Wo war die Gruppe hin?
Wir mussten für die Kurve gar nicht mal anbremsen, so breit war die Straße und so langsam waren wir selbst. Mein Tacho zeigte etwas mehr als 30 Stundenkilometer als wir auf eine weitere Gerade abbogen, die direkt auf den Pilatus, den Hausberg Luzerns, zuführte. Jetzt kam der Wind von der Seite und von vorne – das war noch weitaus schlimmer! Beinahe hätte ich den Anschluss wieder verloren, als ich unkonzentriert auf das Geschehen direkt vor mir, die Straße nach der Spitzengruppe absuchte. Gerade noch so, konnte ich wieder ans Hinterrad meines Vordermanns springen und den Zusammenhalt der Gruppe wahren. Und das sollte jetzt auch Priorität haben, denn die zwanzig Jungs an der Spitze hatten bereits einen Vorsprung von fast zweihundert Metern. Gerade bogen sie um die nächste leichte Rechtskurve. Ich schaute auf die Fahrzeit meines Tachos und zählte die Sekunden, bis wir die Kurve erreicht hatten. Es war ernüchternd: 21 Sekunden!
Wollten wir heute irgendwann noch einmal herankommen, dann musste die Gruppe jetzt funktionieren, doch jetzt folgte erst einmal eine ganz kurze Rampe hinauf zu einem Kreisverkehr. Danach links ab, wieder mit Gegenwind, jetzt über dem Ufer des Vierwaldstättersees entlang, über den nächsten Kreisverkehr hinweg und weiter gerade aus. Jetzt klappte die Zusammenarbeit in der Gruppe prima. Jeder blieb ungefähr 2 Sekunden lang in der Führungsarbeit, sodass wir es tatsächlich schafften, einen perfekten belgischen Kreisel zu kreieren. Wir wurden immer schneller, schossen durch ein kleines Tunnel und fanden uns direkt neben der Autobahn wieder. Logischerweise standen hier keine Zuschauer am Streckenrand, nur das Begleitmotorrad vor uns versicherte uns mit seiner Anwesenheit, dass wir noch auf dem richtigen Weg waren.
Für den See links neben uns hatte ich nur einen kurzen Blick übrig. Es bot sich mir ein berauschendes Bergpanorama, doch aus Angst, vielleicht doch wieder den Anschluss zu verlieren, konzentrierte ich mich lieber auf die Straße. Wir erreichten einen Ort, der sich hier zwischen Berghang und See zu quetschen schien. Die Autobahn verschwand teilweise hinter einer Galerie oberhalb des Ortes, während wir der Strecke hinunter zum See folgten und dort die nächste unendlich erscheinende Gerade vor uns hatten. Jetzt konnte ich auch zum ersten Mal sehen, warum auf diesem Teil der Strecke, der Wind überhaupt so extrem stark war: Vor uns befand sich ein kleiner in den See vorgelagerter Berg, der das Nord-Süd-Tal so stark verengte, dass der Wind wohl beinahe so wie durch eine Bergscharte pfiff. Uns bot der Berg, durch den zurzeit ein neues Autobahntunnel gebaut wurde, nun aber ein wenig Windschatten. Doch trotz aller Arbeit, hatte die Spitzengruppe ihren Vorsprung weiter vergrößert.
Als wir den Hafen des Ortes und somit eine scharfe Linkskurve erreichten, der eine weitere Gerade am Hang des Berges entlang folgte, knackte es plötzlich in dem kleinen Stöpsel, den ich mir ins linke Ohr gesteckt hatte. Alexander meldete sich zu Wort: „In welcher Gruppe bist du?“
Ich zupfte an meinem Trikot herum, sodass ich in das, in das Gewebe eingearbeitete, Mikrofon sprechen konnte:„In der zweiten, zusammen mit Danilo“, antwortete ich. Man merkte mir die Anstrengung wohl deutlich an, denn im Nachhinein würde ich meine Antwort eher als Keuchen bezeichnen.
„Ihr habt ungefähr vierzig Sekunden Rückstand zur Gruppe mit Michael und Sven. Wo die anderen sind, weiß ich nicht. Beteiligt euch einfach an der Führungsarbeit, zum Taktieren ist jetzt keine Zeit“, entgegnete Alexander. Das waren ja tolle Neuigkeiten!
„Klar“, antwortete ich und dachte kurz nach. Warum waren Sven und Michael vorne alleine? So stand es ja noch schlechter als ich befürchtet hatte und der Sieg war für uns eh in weite Ferne gerückt...
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Andy92
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Beitrag: # 6767998Beitrag Andy92
18.5.2009 - 22:27

Als wir den Bergvorsprung umrundet und endlich den Alpnacher See erreicht hatten, gönnte ich mir zwei Energieriegel. Ich fühlte mich bereits jetzt leer und ausgelaugt. Beim Blick in die Gesichter meiner Begleiter konnte ich genau die selben Emotionen ablesen. Mittlerweile hatte ich mir ein genaues Bild von der Gruppenbesetzung machen können: Neben Danilo und mir, befanden sich noch drei Fahrer aus einem anderen Schweizer Nachwuchsteam in der Gruppe. Dazu kamen noch drei Italiener aus zwei unterschiedlichen Teams, sowie einem Deutschen, einen Österreicher und zwei Franzosen, letztere aus einem Team. Von Alexander erfuhr ich, dass außer uns keiner von ihnen Teamkollegen in der Spitzengruppe hatte, deren genauen Zusammensetzung nun bekannt war. Tatsächlich hielten sich von uns dort nur Sven und Michael auf. Unsere anderen zwei Teamkollegen hatten sich seltsamerweise in der allerletzten Gruppe befunden, die aber mittlerweile immerhin zu unsrer Verfolgergruppe aufgeschlossen hatte.
Als wir das letzte rund zwei Kilometer lange gerade und flache Stück mit ordentlich Gegenwind erreichten, wurden endlich die Teamwagen nach vorne gelassen. Pro Team war nur einer erlaubt – die letzte Gruppe wurde von einem neutralen Begleitfahrzeug versorgt, sodass sich das Auto mit Alexander, Tino und Melinda urplötzlich hinter unsrer Gruppe befand. Sie beschlossen zumindest noch bis zum Anstieg hier bei uns zu bleiben, während andere ganz nach vorne fuhren. Tino informierte mich über die neuen Abstände: 1:30 Minuten nach vorne, und 2:30 nach hinten, wo man die konsequente Verfolgung angeblich schon aufgegeben hatte. Als wir Sarnen erreichten betrug die Fahrzeit bereits 40 Minuten. Endlich bogen wir am Kreisverkehr rechts ab und der Anstieg begann – mein Terrain?
Obwohl ich mich doch relativ schlapp fühlte und meine Oberschenkel schon nach wenigen Metern leicht zu brennen begannen, fand ich mich wie vor zwei Wochen im Training plötzlich an der Spitze der Gruppe wieder. Ich schaute mich um. Danilo fuhr direkt an meinem Hinterrad. Er interpretierte wohl irgendetwas in meinen Blick, nickte mir zu und fuhr vorbei. So schlecht war seine Idee gar nicht, denn er diktierte der Gruppe ein höllisches Tempo auf. Hier im steilsten Stück des Anstieges hatten wir sogar noch leichten Gegenwind, der sich nun aber rasant abzuschwächen schien. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass hohe Bewölkung aufgezogen war und sich weit im Süden bereits erste dichtere Wolken näherten.
„Der Wind hat stark nachgelassen und laut Wetterdienst könnte es bald anfangen zu regnen. Das könnte euch jetzt zu Gute kommen, weiter so!“, rief mir Alexander ins Ohr.
„Was passiert vorne?“, wollte ich sofort wissen, trotz der Anstrengungen, die mir Danilo auferlegte – er schien jetzt voll durchzuziehen, obwohl er von dem Funkspruch überhaupt nichts mitbekommen hatte.
„Rückstand liegt immer noch bei rund 1:30“, antwortete Alexander. Keine Antwort ist aber auch eine Antwort, dachte ich und wusste sofort, dass es vorne wohl Attacken geben musste. Hoffentlich hatte er Michael und Sven gesagt, dass wir vielleicht noch mal nach vorne kommen könnten, nicht dass die zwei bereits selbst die Initiative ergriffen hatten.
Ich fühlte mich Meter für Meter besser und musste dabei über meinen eigenen Körper schmunzeln. Zwar war es mir schon immer so ergangen, dass ich mich auf den ersten Metern einer Steigung am schlechtesten gefühlt hatte, bis sich meine Beine an den Rhythmus gewöhnt hatten, doch heute fühlte ich mich sogar gegenüber der Ebene sehr viel wohler. Dieser Berg schien mir einfach zu liegen.
Viel schneller als gedacht, erreichten wir den Ort Stalden, in dem es die kurze Abfahrt gab. Ich warf wieder einen Blick zurück und feuerte Danilo sofort an, weiter Druck zu machen: Der Italiener, der die ganze Zeit schon isoliert in unsrer Gruppe gefahren war, hielt mit Mühe und Not noch den Anschluss an mein Hinterrad. Der Rest der ehemaligen Verfolgergruppe verschwamm im Hintergrund.
Wir nahmen die nächste Rampe in Angriff und konnten tatsächlich konstant 23 km/h halten. Gut, hier oben war die Steigung auch nicht ganz so groß wie im unteren Abschnitt, aber dennoch war die Leistung beachtlich – und für den Italiener, unseren letzten Begleiter, wohl unaufbringbar. Ungefähr nach zweihundert Meter nach Stalden musste er abreißen lassen. Kurz darauf erreichten wir das erste Waldstück und anschließend die erste Kehre. Wie aus dem Nichts tauchte vor uns ein Fahrer auf. Er schien förmlich auf der Straße zu kleben, wiegte unrhythmisch hin und her, während wir an ihm mühelos vorbeischossen. Es war einer der niederländischen Mannschaft gewesen, die zu Beginn des Rennens attackiert hatte. Die Theorie, dass dieses Team bisher das ganze Rennen von der Spitze bestimmt hatte und jegliche Angriffe damit unmöglich sein müssten, wuchs nun in mir heran. Ich versuchte mich an diesem Hoffnungsschimmer so lange und so intensiv wie möglich zu motivieren.
In der nun folgenden Kehrenkombination überholten wir sogar zwei Fahrer, aber keine aus dem angesprochenen Team. Sie wirkten eher wie große und kräftige Flachlandspezialisten. Die nächste Tatsache, die mir Hoffnung gab. Denn nach den Witterungsverhältnissen zu urteilen, könnten sich in der ersten Gruppe vor allem solche Fahrer aufgehalten haben. Aber dieser Berg war nichts für sie – da schlug jetzt die große Stunde von so Bergflöhen wie Danilo oder so schmächtigen Typen wie mir. Ja, jetzt war ich mir sicher! Ich würde wieder nach vorne kommen und das Rennen an der Spitze mitbestimmen – vom Sieg wagte ich nach diesen Anstrengungen aber nicht mehr zu träumen. Nein, das war wirklich unmöglich.

Der nächste Wald umhüllte uns, als wäre es bereits nacht. Der Himmel hatte sich mittlerweile sehr stark verfinstert und ich rechnete jeden Augenblick damit, dass es zu Regnen begann. Als wir das recht kurvenreiche und verwinkelte Waldstück wieder verließen, begann es tatsächlich leicht zu nieseln. Sogleich folgte die nächste Kehre – und wen sahen wir hinter dieser? Zuerst einen Fahrer und dann etwas weiter vorne ein weiteres Duo. Somit dürften wir nur noch 14 Fahrer vor uns haben, sehr gut. Danilo führte mich im Wiegetritt um die nächste Kehre. Er fuhr einen relativ dicken Gang und sein Tritt wirkte nicht mehr ganz rund. Wie lange würde er diese Aufholjagd noch durchhalten?
War das gerade eben nicht schon die letzte Kehre vor der Passhöhe? Ich blickte mich um und erkannte die Umgebung. Ja, tatsächlich, ab jetzt ging es nur noch am Hang entlang, fast gerade aus. Somit könnte wir die Gruppe vielleicht schon bald erblicken – so gesehen war das Gelände hier oben vielleicht doch nicht so von Nachteil, wie ich noch auf den Trainingsfahrten gedacht hatte.
Vor uns tauchte jetzt sogar ein Trio auf. Danilo führte mich wie selbstverständlich heran, doch plötzlich winkte er ab und heftete sich an das Hinterrad des letzten Fahrers in der Gruppe. Ich benötigte einen kurzen Augenblick zu begreifen, dass er mit den Kräften am Ende war. Gerade noch so klopfte ich ihm als Dankeschön im Vorbeifahren auf den Rücken, nahm den Schwung mit und lies die Gruppe hinter mir. Ich beschleunigte noch ein bisschen, bis auf meiner Pulsuhr eine Zahl aufleuchtete, die schon sehr nahe an meinen Laktatschwellenbereich heran kam. Viel mehr wollte ich jetzt noch nicht investieren. Das wäre möglicherweise fatal. Erst jetzt, da ich alleine unterwegs war, bemerkte ich den immer noch vorherrschenden zarten Gegenwind. Sicherlich bremste er meine Fahrt ein wenig, aber im Gegensatz zum Wind von vorhin, fühlte es sich jetzt fast an wie Rückenwind.
Apropos Rücken, wo war eigentlich unser Teamfahrzeug? Als wäre es Gedankenübertragung fuhr es gerade von hinten heran. Gut zu wissen, das einem jemand den Rücken stärkt. Auch die Zuschauer am Streckenrand wurden jetzt in der Nähe der Passhöhe doch wieder etwas zahlreicher. Auch sie motivierten mich, doch so richtig bekam ich bei all den Anstrengungen nicht viel von den Anfeuerungsrufen mit. Ich glaubte sogar, dass mich einige Zuschauer vom Ächerlipassrennen wieder erkannten und mir sehr viel euphorischer applaudierten, als den drei Fahrern, die ich in der Zwischenzeit überholte. Aber vielleicht war das auch nur Einbildung gewesen – mittlerweile hatte ich den Richtwert der Anstrengung an der Pulsuhr aufgegeben, viel zu sehr hatte ich bereits übersäuert, als dass es jetzt noch darauf ankam. So langsam spürte ich, wie ich an meine Grenzen kam – ich war am Limit! Ich musste um jeden Pedaltritt kämpfen! Immer wieder kostete es sehr viel Überwindung abermals zu beschleunigen, um die Geschwindigkeit zu halten.
Als ich den ersten Aussichtspunkt mit Parkplatz erreichte, der sich meiner Erinnerung nach gerade mal noch 1,5 Kilometer vor der Passhöhe befand und die Steigung doch noch mal ein wenig nachließ, gab ich die Hoffnung auf noch bis zur Spitzengruppe vorzustoßen. Genau in diesem Moment fuhr der Teamwagen ein Stückchen neben mich. Eine Stimme brüllte mir etwas zu, doch im ersten Moment war ich viel zu überrascht. In meinem Kopf schwirrten nur noch die Worte „Gewitter“, „Funksystem“ und „20 Sekunden“ herum. Irgendwie assoziierte ich, dass das Funksystem wohl aufgrund eines Gewitters in der Nähe zusammengebrochen war – wie auch immer – die letzten beiden Worte waren die wichtigsten: Zwanzig Sekunden! Ich trat an, sprintete ein paar Meter und versuchte dann meinen Oberkörper in eine ruhige Lage zu versetzen, um die optimale Kraftübersetzung eines Zeitfahrens zu simulieren.
Den Reaktionen der Zuschauer nach war ich wohl um einiges schneller als die Fahrer vor mir, denn sie feuerten mich jetzt so richtig an, ja sie trieben mich regelrecht nach vorne. Viele waren es nach wie vor nicht, aber immerhin so viele, wie ich es noch nie erlebt hatte. Was für eine Erfahrung! Wie musste es dann erst sein, bei einem großen Rennen wie dem Giro durch das Zuschauerspalier auf einer Bergetappe zu fegen! Ich erinnerte mich an die Ereignisse von vor zwei Wochen in den Dolomiten – plötzlich schienen Di Luca, Cunego und Contador neben mir zu fahren – es war nur ein ganz kurzer Moment, aber reichte aus, um den Schmerz zu vergessen und in den Rausch der Geschwindigkeit zu kommen!
Noch Fünfhundert Meter! Theoretisch hätte ich die Passhöhe jetzt schon sehen müssen, aber ein Fahrer direkt vor mir versperrte mir die Sicht. Beinahe hätte ich ihn über den Haufen gefahren. Im Augenwinkel erhaschte ich noch, wie er regelrecht zusammenzuzucken schien – so schnell war ich unterwegs. Doch das Geschehen vor mir motivierte mich sehr viel mehr, als das hinter mir: Ganz vorne vier Fahrer – zwei aus dem niederländischen Team an der Spitze, dann Michael, ein unbekannter; Sven kämpfte vielleicht drei Meter zurückliegend um den Anschluss. Weitere Meter zurück reihten sich die restlichen sechs Fahrer mit immer größeren Abständen und geringeren Geschwindigkeiten wie an einer Perlenschnur auf. Ich hatte es tatsächlich geschafft! Gleich würde ich zur Spitzengruppe stoßen und am besten gleich noch Sven mit nach vorne ziehen, damit wir eine Überzahlsituation haben würden – den Niederländern wollte ich es jetzt heimzahlen. Im Finale würden sie dafür büßen müssen, auf den ersten Kilometern so ein höllisches Tempo gebolzt zu haben.
Ich konzentrierte mich bei jedem Fahrer, den ich überholte auf das Hinterrad, saugte mich heran und flog dann vorbei. Zwei abgehängte Fahrer waren jetzt noch vor mir – vielleicht noch dreißig Meter bis ganz nach vorne, da war die Spitzengruppe schon unter dem kleinen Banner hinweg und verschwand um die Ecke im Wald. Die letzten zwei Fahrer zog ich noch vor der Passhöhe ab, dann stürzte ich mich hinter den führenden fünf in die Abfahrt. Ich war um einiges schneller als sie und hatte den Anschluss schließlich noch vor der ersten Kehre gefunden. Sven hatte es auch noch geschafft und fuhr direkt vor mir an die Gruppe heran...
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HamitonFan007
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Beitrag: # 6768000Beitrag HamitonFan007
18.5.2009 - 22:36

Absolut geiler AAR! Bitte schnell weitermachen, ich bin total auf das Ende gespannt :P Also ich hab die letzten Tage immer bis um 2uhr nachts an deinem AAR gelesen und konnte einfach nicht aufhören, erst als ich vor müdigkeit direkt eingeschlafen bin ! Schnell weiter machen :P
RPG: Denis Menchov

Andy92
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Beitrag: # 6768088Beitrag Andy92
19.5.2009 - 14:47

Danke, danke :D . Könnte jetzt aber etwas länger dauern, bis ich wieder was schreiben kann. Frühestens morgen Abend gibts den letzten Teil von dem Kapitel. Sorry, aber es geht leider nicht früher.
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Jimbooo
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Beitrag: # 6768387Beitrag Jimbooo
20.5.2009 - 22:51

ich bin auch sehr begeistert habe ih auch in 3 tagen durchgelesen und will mehr:D

Andy92
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Beitrag: # 6768604Beitrag Andy92
21.5.2009 - 22:43

Wir rasten mit unglaublicher Geschwindigkeit bergab, während es leicht zu tröpfeln begann. Hoffentlich blieb die Straße auch noch lange trocken. Es gab zwar wenige Kurven und Serpentinen, aber bei dieser Geschwindigkeit wäre eine unübersichtliche Stelle möglicherweise schon fatal gewesen. Zum Glück hatten wir uns die Abfahrt vorher gut eingeprägt und so wusste ich, dass die nächste Kehrenkombination erst in einem Kilometer kam. Die Zeit bis dahin, in der wir den Anschluss an die Gruppe eh nicht verlieren konnten, nutzten wir zu einer kleinen Besprechung. Dazu ließen wir uns ans Ende der Gruppe fallen, an die mittlerweile ein weiterer Fahrer herangerollt war. Ich schaute mich vorsichtshalber kurz um, doch da war keiner mehr. Zwischen diesen sieben Fahrern sollte sich das Rennen also entscheiden: zwei Niederländer, dem mir vorhin noch unbekannten Österreicher, dem eben herangefahrenen Italiener, und uns drei, also einem Schweizer und zwei Deutschen.
Wir einigten uns mit einem Satz und ein paar Gesten darauf, dass ich es bei nächster Gelegenheit probieren sollte. Alexander stimmte per Funk zu, während es jetzt immer stärker zu regnen begann. Spätestens jetzt war die Kampfsau in mir geweckt! Mir war es egal, wie fertig ich schon war, ich wollte nur noch Angreifen – einmal dieses Rennen anführen und aktiv mitbestimmen!

Die Niederländer führten die Gruppe an. Sie hielten das Tempo hoch, aber nicht zu hoch. Doch der richtige Moment war noch nicht gekommen. Ich wusste genau, wo ich angreifen musste – am Ortseingang von Finsterwald. Dort wurde es flach und kurz darauf gab es sogar eine kleine Steigung. Wir passierten bereits den Parkplatz, der den ersten Teilen der Zivilisation vorauseilte. Dann befanden wir uns zwischen den vereinzelten Höfen umgeben von grünen Almen. Mittlerweile hatte es sich eingeregnet. Nicht nur die Straße, auch wir, waren völlig durchnässt. Aber bis jetzt hatten wir alle schwierigen Passagen gemeistert, auch wenn bei mir die Konzentration langsam nachließ. Die erste Rennstunde war einfach viel zu anstrengend gewesen.
Wir fuhren durch ein kleines Waldstück. Eher zufällig befand ich mich plötzlich am Ende der Gruppe – wir beteiligten uns eher fadenscheinig an der Führungsarbeit. Jetzt war es soweit! Ich lies mich ein, zwei Meter zurückfallen, dann ging ich aus dem Sattel und holte dabei in Michaels Windschatten Schwung – auch wenn mir dabei das ganze Wasser von seinem Hinterrad ins Gesicht spritzte. Ich zog vorbei, um einiges schneller als alle anderen und spürte sofort, dass der Angriff gesessen hatte! Immer noch im Wiegetritt sauste ich um eine leichte Biegung. Erst jetzt setzte ich mich zurück in den Sattel und schaltete sofort auf eine größere Übersetzung. Ich wagte einen ersten Kontrollblick über die Schulter: Sven und Michael fuhren ganz am Ende der Gruppe – die Jungs schauten sich alle kurz an, dann übernahm der Niederländer, der die ganze Zeit schon den Hauptteil der Führungsarbeit geleistet hatte, die Spitze. Ein Loch von zwanzig Metern hatte ich gerissen und trotzdem konnte ich noch den schmerzverzerrten Gesichtsausdruck des Führenden der Verfolgergruppe erkennen. Er war gezeichnet. Er hatte im Anstieg und hier in der Abfahrt, wo ich mich bis jetzt eigentlich nur ausgeruht hatte, für seinen Kapitän direkt hinter ihm viele Kräfte gelassen, da war ich mir sicher. Die Auswirkungen für die Gruppe war wohl verheerend – die Konstellation sowieso. Für uns lief es einfach perfekt. Ich setzte mich immer weiter ab – und dann kam in einer langgezogenen Kurvenkombination der erste kleine Anstieg seit dem Gipfel. Ich zog einfach voll drüber. Kompromisslos, aber mit großen Schmerzen. Hoffentlich ging es bald wieder bergab!
Schnell wurden meine Rufe erhöht. Schon jagte ich durch den Ortskern von Finsterwald und direkt danach konnte ich erstmals ins Tal hinunterblicken – in das Tal, in das wir nie kommen würden, denn die Fahrt ging auf einer kleinen, schmalen Straße oberhalb am Berg entlang und führte dann konstant bergab in Richtung Ziel in Kerns. Wie geschaffen für eine Soloflucht. Verwinkelt und verwegen war die Strecke – für einen Kämpfer geschaffen, und der war ich jetzt. Ich blickte mich abermals um. Die Gruppe jagte erst jetzt zwischen den Baumgruppen hindurch, die ich vor wenigen Sekunden passiert hatte. Jetzt waren es schon ungefähr einhundert Meter. Doch es sollte noch mehr werden. Jetzt ging es von der eh schon einspurigen Hauptstraße rechts ab auf eine noch kleinere Nebenstraße. Wegen des Wetters standen jetzt noch weniger Zuschauer am Straßenrand – und dann noch auf der Abfahrt...
Doch mit dem Anblick, der sich mir jetzt bot, hätte ich überhaupt nicht gerechnet: Es ging unterhalb eines baumlosen Hügels in einem langen Linksbogen leicht bergab, es folgte eine scharfe Rechtskurve und dann stand ich in dem rund achthundert Meter langen Anstieg – durchschnittliche Steigung von 7 %! Die Daten waren mir plötzlich wieder durch den Kopf geschossen. Zum Glück hatte ich noch rechtzeitig geistesgegenwärtig gehandelt und auf das kleine Blatt runtergeschaltet, sonst wäre ich jetzt wohl verratzt gewesen. Hier musste ich den Vorsprung noch einmal richtig ausbauen, damit mich die Verfolger endgültig aus ihrem Blickfeld verloren. Doch das sollte mir gelingen – die Kulisse war atemberaubend! Anscheinend stand hier an diesem Hügel das ganze Dorf – trotz Regen – so euphorisch war ich noch nie einen Berg hinaufgeschrieen worden! Das Schweizer Publikum verlieh mir förmlich Flügel und erst als ich mich oben auf der Kuppe umschaute, keinen meiner Freunde oder Feinde erblickte und links abbog, spürte ich, wie meine Beine brannten! Es schien unerträglich! Mit letzter Kraft rettete ich mich über die letzten flachen Meter in die Abfahrt.
Laktat abstrampelnd, rief eine Stimme in meinem Kopf und ich versuchte fieberhaft ein wenig mitzutreten, doch meine Beine riefen genau das Gegenteil. Die Abfahrt war nicht sehr anspruchsvoll und so haute ich mir noch mal zwei Energieriegel rein, trank so viel es ging und schaute mich irgendwann doch wieder um – doch da war keiner mehr. Der Himmel über mir schien sich sogar wieder etwas zu erhellen und wenige Meter später hörte es endlich auf zu regnen. Ich schöpfte neue Motivation. Dann endlich lag das Tal unter mir – Kehre, Kehre, gerade aus, noch mal zwei Kehren und endlich hatte ich die N2 erreicht. Es ging nach rechts und ich wusste – noch 11,5 Kilometer – das hatte uns Alexander regelrecht eingetrichtert.
„Von hier sind es noch 11,5 Kilometer!“, hörte ich seine Stimme in meinem Kopf wiederhallen. Wie in Trance erlebte ich die Strecke – die trockene Strecke. Ich war am absoluten Limit, kämpfte und kämpfte und erreichte nach einer schier endlosen Strecke das Banner der 10-Kilometer-Marke – ernüchternd...
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Hagen
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Beitrag: # 6769543Beitrag Hagen
26.5.2009 - 15:31

wann gibts endliche den nächsten Teil?!kanns nämlich kaum noch aushalten
Einfach mal den Bimbam baumeln lassen!

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Jimbooo
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Beitrag: # 6769552Beitrag Jimbooo
26.5.2009 - 16:16

ich auch:D will mehr^^

Andy92
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Beitrag: # 6769831Beitrag Andy92
27.5.2009 - 20:12

Ihr werdet erlöst. :D

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Da bemerkte ich den Teamwagen hinter mir. Sie hatten ihn tatsächlich vor gelassen! Wie groß musste da wohl der Vorsprung sein?
„Dreißig Sekunden!“ Es war Melinda, die mir aus dem Beifahrerfenster zurief, als sich der Wagen links neben mir befand. Warum sagte es mir Alexander nicht über Funk? Ach ja, richtig, das System war ja zusammengebrochen.
„Komm, auf geht’s, zieh durch!“, brüllte sie. Plötzlich sah ich wieder klarer. Durch ihre Motivationsrufe hatte ich den Tunnelblick verloren und die Schmerzen stiegen wieder vollends in mir hoch. Ich wollte keinen Meter mehr weiter! Doch es waren auch ihre selbigen Worte, die mich wieder vorantrieben. Sie glaubte an mich! Das erschien mir im Moment am wichtigsten.
Und schon hatte ich alles um mich herum wieder vergessen. Der Teamwagen verschwand hinter mir und aus meinem Sichtfeld, während ich wieder stur die Straße entlang blickte und mich auf die nächste Kurve konzentrierte. Aber genau das war so gut wie unmöglich, denn die Strecke verlief wirklich fast schnurgerade in den nächsten Ort hinein. Einige Zuschauer klatschten mir am Straßenrand zu, während ich um einen leichten Linksknick sauste. Nach den Häusern begann die immer noch absolut gerade Strecke wieder leicht anzusteigen. Doch diese flachen, am Ende eines Rennens befindlichen Steigungen lagen mir in der Regel. So auch heute. Zusätzlich steuerte ich jetzt auf zwei drei kleinere Häuserzeilen, sowie einige Kurven zu. Urplötzlich erreichte ich das 5-Kilometer-Banner! Ich ging noch einmal aus dem Sattel und beschleunigte. Wie schnell diese 5 Kilometer im Vergleich zu den 1,5 von vorhin doch vergangen waren. Ich schöpfte wieder ungeheure Motivation und steuerte jetzt das letzte Waldstück des Rennens an. Oh Mist! Hier ging es ja nach rechts durch die Schlucht ins parallel verlaufende Nachbartal! So nah war das Ziel also doch nicht. Unglücklicherweise konnte ich mich an den genauen Verlauf der Strecke auf diesen letzten Metern nicht mehr erinnern – das kam jetzt auch noch hinzu.
Den Wald hatte ich bereits hinter mir gelassen, da ging es plötzlich rechts um eine fast 180 Grad Kurve und, wie sollte es anders sein, steil bergan. Nicht so extrem steil wie vorhin, aber diese vielleicht 5 oder 6 % zogen mir jetzt den Zahn. Ich konnte nicht anders als aus dem Sattel zu gehen, doch schon nach einhundert Metern schien ich förmlich auf dem Asphalt zu kleben! Ich kam kaum noch vorwärts, während ich einen meiner kleinsten Gänge unrhythmisch und mit viel zu niedriger Trittfrequenz durchdrückte. Sollte ich es wagen auf den Tacho zu schauen? Die Überwindung erledigten meine Augen von ganz alleine – 14 km/h! Oh je! Jetzt sehnte ich mich nur noch dem Ende dieser Steigung herbei, aber zunächst ging es nur in den Wald zurück und langsam um eine Linkskurve.
Ein paar wenige Zuschauer hatten sich auch hier an der Strecke eingefunden, doch keiner von ihnen hätte dieser unscheinbaren Steigung wohl diese entscheidende Wirkung zugetraut. Und wie schon in Immenstadt war es ein etwas älterer Hobbyradler, der mir den letzten Funken Motivation auf den Weg gab.
„Zieh einfach durch! Du hast noch viel Vorsprung!“ rief er, als er neben mir herjoggte. Eine gutgemeinte Lüge, denn keine zehn Sekunden später flog ein Fahrer an mir vorbei – ich wusste nicht wer. Es war mir auch egal. Ich blickte einfach nur noch zu Boden und lies meiner Enttäuschung und Erschöpfung freien Lauf. Es war vorbei! Einfach so! Jetzt würde ich definitiv nicht mehr gewinnen – so viel stand fest.
Da ging es Schlag auf Schlag! Schon überholten mich die nächsten beiden Fahrer – ungefähr drei Sekunden Rückstand – mit weiteren vier Sekunden folgten die letzten zwei aus der ehemaligen Spitzengruppe. Es hatte also Attacken gegeben. Nach der Frische zu urteilen, die der erste Fahrer, der mich überholt hatte, noch versprüht hatte, hatte es die ersten Angriffe wohl erst gegeben, als sie mich gesehen hatten – ich ging einfach mal davon aus, denn das würde bedeuten, dass es sogar Michael oder Sven gewesen sein könnten – bei meiner Geschwindigkeit war es ja völlig egal gewesen, ob man seinen Teamkollegen attackiert hätte. Ich dachte noch ein wenig weiter und schließlich stand mein Entschluss fest, dass es Sven gewesen sein musste, da sich Michael ja eher auf den Sprint verlassen würde.
Endlich erreichte ich die ersten Häuser. Es wurde flacher und sofort fand ich wieder einen guten Rhythmus. Hätte ich mich doch bloß schon früher an diese letzte Steigung erinnert! Wäre es flach dahingegangen, hätte ich das Rennen mit Sicherheit gewonnen – aber so hatte ich mir einfach keine Körner für solche Steigungsprozente aufgespart. Es war wirklich ärgerlich und zeigte zugleich, wie wichtig exakte Streckenkenntnis doch war!
Ich schaute mich um – vor mir weit und breit keiner zu sehen – hinter mir auch nicht. Ich gab wieder Gas. Den sechsten Platz wollte ich jetzt zumindest noch erreichen – den Platz, den ich mir am Glaubenbergpass durch die Aufholjagd mit Danilo erarbeitet hatte.
Die Strecke führte um ein paar langgezogene Kurven, immer noch ganz leicht ansteigend, während die Anzahl der Häuser immer mehr zunahm. Schließlich erreichte ich schon fast im Ortskern den Teufelslappen – klar, das Rennen war also schon längst entschieden. Und dennoch konnte ich noch einen kleinen Erfolg feiern: Kurz vor der letzten Kurve konnte ich wieder aufs große Blatt schalten, die letzten Meter voll durchziehen. Ein letzter Blick zurück – da war kein Verfolger in Sicht. Mit einer doch recht ansehnlichen Endgeschwindigkeit erreiche ich schließlich den Zielstrich mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen.
Hier im Zielbereich hatten sich doch etliche Zuschauer eingefunden und jubelten auch mir noch euphorisch zu. So, jetzt wollte ich aber unbedingt wissen, wer gewonnen hatte. Die Stimme des Moderators auf der Bühne wurde durch meine Fahrt verzerrt, sodass ich kein Wort verstand. Die Antwort gab mir ein ganz anderer, als ich letztendlich vor der Bühne zum Stehen kam – alle fünf Fahrer, die das Ziel vor mir erreicht hatten, waren noch anwesend, umringt von ihren und den auf die restlichen Fahrer wartenden Betreuern. Urplötzlich stürzte mitten aus diesem Getümmel ein Junge auf mich zu, klopfte mir auf die Schulter, zerdrückte mich, riss mir fast den Helm vom Kopf und das alles in einer Sekunde! Endlich zeigte er mir sein Gesicht – es war Sven! Seine Augen glänzten von ein, zwei Tränen und leuchteten wie die immer noch von den Regenwolken verdeckte Sonne! Ich warf ihm einen fragenden Blick zu. Er gluckste vor Freude und nickte so heftig mit dem Kopf, dass unsre Helme schon wieder gegeneinander prallten – Michael stürzte sich wie aus dem Nichts auf uns! Yes! Sven hatte es geschafft! Wir hatten das Rennen gewonnen!
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Andy92
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Beitrag: # 6770060Beitrag Andy92
28.5.2009 - 21:49

Unter lautem Gegröle klirrten schon zum x-ten Mal die Bierflaschen zusammen. Irgendwann hatte ich aufgehört zu zählen, aber warum auch? Wir hatten unser Ziel erreicht! Sven hatte das Rennen über den Glaubenbergpass mit einem beherztem Angriff am letzten Hügel als Solist gewonnen! Michael hatte sich im Sprint der Verfolgergruppe Platz zwei gesichert – Doppelsieg! Was wollten wir mehr? Noch nie hatte ich so große Lust gehabt zu feiern – doch wenn die Adrenalinschübe vorübergehen und dem Testosternausstoß Platz machen, die schier unerträglichen Schmerzen der Freude weichen, dann kennt das Glück keine Grenzen mehr! Bisher hatte ich dieses Gefühl überhaupt nicht gekannt, geschweige denn erwartet, dass ich es je verspüren würde, doch jetzt war es allgegenwärtig und ich wollte es nie wieder loslassen – ich fühlte mich auf eine gewisse Art und Weise unbesiegbar!
„So, Jungs, dass ist die letzte Runde!“, rief Alexander, als wir zum Trinken ansetzten. Er, Melinda und Tino saßen genauso mit am Tisch im Speisesaal des Internats wie alle sechs Fahrer aus der Siegermannschaft. Schon vor Stunden war die Sonne, die sich in ihren letzten Zügen doch noch am Horizont gezeigt hatte, in einem schillernden Abendrot über Luzern untergegangen, als wir uns gerade – bereits mit einem Kasten im Auto – auf dem Nachhauseweg befanden. Melinda schien am meisten zu trinken – wir Jungs befanden uns ja unter den Argusaugen von Alexander und Tino, die mittlerweile aber auch schon etwas müde drein blickten. Doch das tat der Stimmung keinen Abbruch!
Auch, dass das U23-Team mit Mühe und Not nur einen Top-Ten Platz erreicht hatte, konnte die Freude nicht trüben. Zu spannend war unser Rennen gewesen! Nachdem jeder das Geschehen aus seiner Sicht geschildert hatte – im Teamwagen schien es drüber und drunter gegangen zu sein – erreichten wir jetzt einen toten Punkt. Die Feier ging langsam zu Ende – kurz nach Mitternacht erhoben sich die ersten vom Tisch und gingen nach oben. Immerhin hatten wir sechs morgen schulfrei, aber ein wenig Regeneration sollten wir unserem Körper nach diesen Anstrengungen des Tages doch noch geben.
Gerade als ich die letzten Tropfen aus meiner Flasche gesaugt hatte und diese mit einem lautem Seufzen auf den Tisch knallen lies, waren auch die letzten gegangen – nur Melinda und Sven waren noch da. Letzterer war schon auf dem Weg nach oben. Trotz der benebelnden Wirkung des Alkohols erschien mir die Situation plötzlich ganz real. Durch meine Adern jagte ein kleiner Schuss Adrenalin, der meine Hände zittern lies. Wir saßen kurz schweigend zusammen, während sie ihre Flasche ebenfalls endgültig leerte. Den Nachschub hatte Alexander leider mitgenommen – also mussten wir zwangsweise auch irgendwann das Feld räumen. Aber bis es soweit war, könnte ich die Situation doch noch soweit ausnutzen und ein Gespräch beginnen. Doch mein Gehirn brachte keinen klaren Gedanken mehr zusammen und meine Augen verloren sich vorzugsweise in ihren glänzenden, wunderschönen Augen, als nach einer Initialzündung in der näheren Umgebung zu suchen.
„Du wirst es nicht glauben, aber Dank dir, weiß ich jetzt, was ich machen will“, ergriff sie anstatt mir das Wort.
„Tatsächlich?“ Ich war überrascht bei meinem derzeitigen Zustand noch so eine treffende Formulierung zustande zu bringen.
„Wirklich – du hast mich heute inspiriert“, hauchte sie und formte mit ihren Händen beinahe gebieterisch eine Art unsichtbaren Bogen in die stickige Luft. Ich verstand nur Bahnhof. Betrunken war sie ja ganz süß, vielleicht noch süßer als sonst, aber sie laberte leider viel zu viel wirres Zeug, als dass man sich mit ihr gescheit unterhalten könnte. Anstelle direkt eine Antwort oder besser gesagt eine Reaktion zu geben, setzte ich erneut meine Flasche an, erwartete den Fluss des kühlen Bieres, der nicht kam, lugte verdutzt in die Flasche und stellte fest, dass sie leer war – oh ja, mein Gedächtnis litt im Moment sehr.
„Wie meinst du das?“, fragte ich schließlich. Die Worte drangen nur gedämpft an meine Ohren – hoffentlich lallte ich nicht irgendetwas daher, doch sie schien mich ganz gut verstanden zu haben.
„Na, deine Fahrweise. Am Berg, deine Aufholjagd und dann gleich angegriffen und fast gewonnen, ich hab richtig mitgefiebert und gehofft, dass du das Ding gewinnst – du hättest es wirklich verdient gehabt. Gut, es war ein taktischer Angriff, klar, aber trotzdem fand ich es irgendwie...“, sie suchte augenrollend nach dem richtigen Wort, „ja...beeindruckend!“
Ich schaute sie verdutzt an und spürte wie die Hitze in mir hochstieg und meine Wangen rot anliefen. „Oh...danke.“ Ich nickte ihr mit einem verschmitzten Lächeln zu. Sie musterte mich kurz, dann setzte sie wieder an: „Willst du gar nicht wissen, zu was du mich damit inspiriert hast?“
„Was? Oh, doch, natürlich, klar“, entgegnete ich, während noch mehr Blut in mein Gesicht schoss. Sie grinste.
„Alkohol macht müde, gell?“ Sie wartete auf eine Reaktion, doch ich zuckte bloß mit den Schultern. „Also. Ich habe beschlossen, dass ich wieder mit dem Radfahren anfangen werde. Hier im Internat gibt es ja auch ein paar Mädchen, da werde ich mich schon irgendwie zurecht finden. Und wenn nicht, dann trainiere ich einfach bei euch mit.“ Ich riss förmlich die Augenbrauen nach oben. „Kein Sorge, das ist keine Idee, die aus Euphorie oder übertriebener Selbsteinschätzung gewachsen ist. Vor ein paar Jahren hab ich selbst schon einmal in einem Verein mittrainiert und glaube mir, alle haben gesagt ich hätte unheimlich großes Talent – aber irgendwie habe ich dann wegen der Schule nicht mehr so die Zeit gefunden, um zu trainieren und dann blieben natürlich auch die Erfolge aus. Das wiederum hatte die logische Folge, dass ich die Lust am Selbst-Radfahren verlor – aber jetzt! Jetzt ist alles wieder da! Wenn hier jetzt ein Rennrad in der Ecke stehen würde, dann könnte ich sofort ein paar Runden drehen. Vor ein paar Wochen bin ich mal wieder eine Runde gefahren und du wirst es nicht glauben, aber so schlecht bin ich eigentlich gar nicht – es lief um einiges besser als gedacht. Und das heute hat mir den Rest gegeben.“
Ich war sprachlos.
„Hey, du hast doch morgen frei, oder?“, fragte sie nach einer kurzen Pause, in der ich sie mit glasigem Blick angestarrt hatte.
„Äh, ja, stimmt. Das haben wir uns aber auch wirklich verdient“, rief ich, nur um mal etwas mehr als ein paar Wörtchen von mir zu geben.
„Hast du nicht Lust mit mir eine Runde um den Rigi zu fahren? Oder auch noch weiter?“ Ich war total geschockt. Melinda bat mich darum, mit ihr einmal um den Berg zu fahren, auf dem wir gerade saßen – mit dem Rad – mit meinem Element. Was erhoffte sie sich davon? Moment mal. Warum hegte ich Zweifel? War ich jetzt total plemplem?! Bei diesem bittenden Lächeln konnte ich doch gar nicht wiederstehen. Sie setzte so einen süßen bettelnden Blick auf, als ob ich ihr überhaupt keinen Gefallen geben wollte, dabei war es doch schon längst um mich geschehen.
Was für ein Wiederspruch! Melinda, so musst du mich doch gar nicht bitten, dachte ich und hätte es am liebsten auch laut gesagt. Zum Glück war ich aber nicht sturzbesoffen, sonst hätte ich ihr wahrscheinlich gleich einen Heiratsantrag gemacht.
„Äh...wie...was“, stammelte ich. „Klar! Ja, natürlich gerne!“, rief ich endlich und es schien mir regelrecht ein Stein vom Herzen zu fallen, so erleichtert war ich, dass ich mich getraut hatte – aber was war denn da schon dabei gewesen? Doch im gleichen Moment fiel mir noch ein Problem ein, dass wir beide erst einmal überwinden mussten. „Aber zuerst muss ich meinen Rausch ausschlafen, sonst breche ich morgen vor Kopfschmerzen nach 20 Kilometern zusammen.“
„Klar“, lachte sie und wir gingen zusammen nach oben...

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Jimbooo
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Beitrag: # 6771117Beitrag Jimbooo
5.6.2009 - 20:14

andy mach mal bitte weiter will wissen wie es mit den beiden so läuft xD

Andy92
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Beitrag: # 6771203Beitrag Andy92
6.6.2009 - 18:54

8.Kapitel - Gewitter

Eigentlich hätte ich erwartet, dass ich an diesem Morgen mit einem ordentlichen Kater aufwachen würde. Als ich mich am Abend zuvor mit einem Schwindelgefühl und wirbelndem Kopf ins Bett gelegt hatte, glaubte ich bereits zu ahnen, welche unangenehmen Auswirkungen ich am nächsten Tag zu tragen hatte. Für die durchschnittlichen Trinkverhältnisse dieser Gesellschaft hatte ich zwar noch verdammt wenig Alkohol getrunken, wenn man es als Besäufnis bezeichnen wollte, doch für meine Verhältnisse – mittlerweile war ich seit einem guten Jahr absolut trocken gewesen – lagen drei, vier Bier schon hart an der Grenze.
Doch als ich um viertel vor zehn die Augen aufschlug fühlte ich mich fit wie ein Turnschuh. Im ersten Moment durchzuckte mich ein Funken Enttäuschung, doch bevor ich dieses Gefühl überhaupt richtig wahrnehmen konnte, wich es auch schon der Überraschung und schließlich dem Erstaunen, das wiederum eine ganze Weile währte. Ich hatte nicht einmal einen Brand. Hatten die neun Stunden Schlaf wirklich ausgereicht?
Ich sprang auf und fühlte mich als ob ich nie sicherer auf zwei Beinen gestanden hätte. In wenigen Sekundenbruchteilen war ich hinüber zur Balkontür gesprungen und riss den Vorhang auf. Die Sonne schien von einem strahlend blauem Himmel herab. Wie warm es wohl war? Ich öffnete die Türe und trat auf die im Schatten liegenden kalten Fliesen hinaus, während ich meinen Blick hinunter zur Stadt schweifen lies, die bereits voll in der Sonne lag. Es war angenehm frisch. Vielleicht vierzehn, fünfzehn Grad, was nicht für einen besonders warmen Tag sprach, aber ein besonders schöner sollte es durchaus werden.
Ein Bauer mähte am Gegenhang mit einem etwas älteren Traktor und einer genauso angerosteten Scherenkonstruktion eine riesige Almwiese. Der Duft von frisch gemähten Gras, den ich schon immer mit der Bergwelt der Alpen verbunden hatte, erfüllte die Luft. Ich lehnte mich vor aufs Geländer, atmete den berauschenden Geruch tief ein und beobachtete wie sich die zwei Seilbahnkabinen der Rigi-Scheidegg-Bahn weit über dem plötzlich winzig erscheinenden Traktor kreuzten. Zum Glück hatte ich heute keinen Unterricht – trainingsfrei sowieso. Der Tag war einfach viel zu schön, als drinnen im Klassenzimmer zu hocken und irgendwelche Exponentialgleichungen aufzustellen. Hatte ich heute schon was vor? Ich dachte kurz nach und kam zu dem Entschluss, dass eigentlich nichts besonderes anstand. Vielleicht würde ich heute Nachmittag doch eine kleine Runde mit dem Rad fahren, anstatt bloß faul in der Sonne zu liegen. Oder...Moment mal! Irgendwas war da doch.
Ich ging wieder rein und grübelte nach, während ich mich umzog. Sven grunzte im Schlaf und drehte sich um. Ein sanfter Windhauch streichelte durch die offene Tür herein, aber das reichte schon, um ihn zu wecken. Er stöhnte laut auf – anscheinend ging es ihm nicht so gut. Doch zu meiner Überraschung rappelte er sich bereits wenige Sekunden später auf.
„Bevor ich wieder einschlafe“, krächzte er und grinste mir von der Bettkante zu.
„Morgen“, entgegnete ich, während ich immer noch darüber nachdachte, was heute ganz oben auf meiner Liste gestanden hatte. Ich wusste jetzt immerhin wieder, dass es etwas verdammt wichtiges war – bloß was?
„Wann fahrt ihr eigentlich los?“, fragte Sven plötzlich.
„Wie ‚wir’?“
„Na, du und Melinda. Wenn du dich da schon nicht dran erinnern kannst, dann solltest’ doch besser da bleiben. Nicht, dass du am Ende noch gegen nen’ Baum fährst, so wie auf deiner ersten Ausfahrt mit’m Verein!“ Sven lachte klopfte mir angeberisch, ja fast väterlich auf die Schulter und ging raus auf den Balkon.
Jetzt fiel mir alles wieder ein! Der Ausflug mit Melinda, das war es! Sofort begann mein Herz wie wild zu schlagen, der Adrenalinausstoß schoss ins Unermessliche. Hatten wir nicht ausgemacht schon Vormittags zu fahren? Ja, ich glaubte mich zu erinnern. Jetzt erinnerte ich mich sogar daran, dass wir vergessen hatten eine Uhrzeit auszumachen. Na, super. Und wer sollte überhaupt wen abholen? Diese Frage beantwortete sich in diesem Moment.
„Morgen Andreas! Na, ausgeschlafen?“ Eine geballte Ladung guter Laune und unglaublicher Frische schlug mir entgegen, als ich die Türe öffnete. Noch nie hatte ich so ein Mädchen getroffen, dass wie Melinda, so eine beinahe beängstigend berauschende Ausstrahlung besaß. Es fühlte sich an als ob man gegen eine unsichtbare Wand lief, als ob man in einen Raum mit abgestandener, verbrauchter Luft lief und einem für einen kurzen Moment die Luft wegblieb, man die Besinnung verliert und beinahe in Trance verfällt, nur mit dem Unterschied, dass diese Wand nicht aus stickiger und stinkender Luft besteht, sondern aus einem frischen Duft nach Frühling, Freiheit und Freude!
„Hi“, würgte ich lediglich heraus. Mir war sofort aufgefallen, dass sie ihre Haare heute ganz anders trug. Nicht mehr hochgesteckt, sondern lang herabfallend bis auf die Schultern und irgendwie wirkten sie um einiges heller als sonst. Aber womöglich lag das auch nur am morgendlichen ungünstigen Lichteinfall – ach was! Ungünstig, war genau das falsche Wort – dieser Ausdruck spiegelte nichts anderes wieder, als den Testosterongehalt in meinem Blut, der jetzt gewaltig nach oben schnellte. Vielleicht hatte Sven mit seiner Vermutung gar nicht so Unrecht. Möglicherweise würde ich heute tatsächlich irgendwann gegen einen Baum fahren, aber mit Sicherheit nicht wegen des Alkohols, der schon längst verflogen war, sondern wegen ihrer Schönheit, ihrer Ausstrahlung – ich konnte meine Augen schon jetzt nicht mehr von ihr abwenden.
Es war nicht einmal eine Sekunde zwischen meinem krächzenden, stammelnden „Hi“ und meinem nun folgenden „Komm erst mal rein“ vergangen. So langsam begann ich damit, mich wieder zu fangen. Es konnte ja auch nicht ewig so weiter gehen, dass ich in ihrer Gegenwart keinen klaren Gedanken fassen konnte, von ihrem Anblick jedes Mal wie berauscht angewurzelt stehen blieb, um mir immer wieder einzureden, wie unglaublich hübsch und süß sie war.
Genau in dem Moment, als ich mich mit Melinda im Schlepptau umdrehte und den Raum betrat, stand Sven in der Balkontür. Ein kurze Schrecksekunde seinerseits, dann war es ausgerechnet ich, der am schnellsten handelte.
„Gut, das war vielleicht keine gute Idee“, lachte ich, hörte Melinda kichern, drehte mich wieder um und bugsierte sie wieder aus dem Zimmer. Eigentlich war es mir egal, ob sie meinen Kumpel halb nackt sehen konnte – es war eher eine instinktive Handlung, vielleicht um die eventuelle Konkurrenz möglichst gering zu halten.
„Wann wollten wir noch mal losfahren?“, fragte ich sie, um nun völlig abzulenken. Sie betrachtete mich wie schon so oft kurz mit ihrem durchdringenden und sogleich so fesselnden und süßen Blick, als würde sie genau abwägen, warum ich gerade genau das tat und sagte. Sie wickelte mein Gehirn so geschickt um den Finger, dass es mit einer kleinen Geste oder mit einem kaum merklichen Zucken einiger Gesichtsmuskelpartien die ganze Wahrheit offenbarte. Es war mit Sicherheit kein unangenehmes Gefühl. Nein, es war wunderschön sich in ihren Augen zu verlieren. Und dennoch beschlich es mich genau in diesem Moment zum ersten Mal, sie könnte in mich hineinhorchen, oder besser gesagt mich aushorchen. Und im Gegenzug dazu gab sie mir diesen herzerreißenden Blick, der ihr sogleich als Lockmittel diente. Sie tat das mit Sicherheit nicht bewusst und ich schien außer einem leisen Anflug dieses Gedankens auch nichts von diesem Prozess zu spüren, doch in diesem Augenblick flackerte in meinem tiefsten Inneren plötzlich die Frage auf, wie oft sie bei diesen Abhörversuchen schon auf die Antwort „Ich liebe dich“ gestoßen war. Mit Sicherheit unzählige Male, lautete die simple und dennoch vielsagende Antwort.
Exakt in diesem Moment lächelte sie zufrieden, als hätte sie gefunden, wonach sie suchte. Es war seit meiner laut gestellten Frage nicht einmal ein Wimpernschlag vergangen und so brach das Gedankengerüst von eben wieder in sich zusammen – ich vergaß alles schlichtweg wieder. Denn dieses Gerüst war lediglich der Bestandteil eines Gefühls gewesen, und eben dieses verflog genauso schnell wieder, wie es gekommen war.
„Ich weiß nicht. Hast du schon was gegessen?“, entgegnete sie.
„Nein, noch nicht. Bis wir fertig sind, ist es eh frühestens halb elf. Um den Berg sind es gute fünfzig Kilometer, das schaffen wir vielleicht in zwei...“
„Das schaffen wir schneller, glaub mir! Ich hatte eigentlich nicht vor eine Kaffeefahrt zu veranstalten.“
„Ja, schon klar. Aber ich weiß nicht, ob ich heute dazu in der Lage bin...“
Warum sagte ich das eigentlich? Ich fühlte mich doch prima.
„Komm, jetzt stell dich nicht so an! Ich dachte du wärst ein Kämpfer – so wie du gestern gefahren bist, schaffst du das doch locker. Es ist immerhin alles flaches Terrain und den Anstieg rauf zum Internat bist du eh schon tausend Mal gefahren.“ Sie stieß mir völlig unerwartet mit der Faust vor die Brust und ich gab doch tatsächlich leicht nach. Ich war vor lauter Überraschung über mein eigenes Unterbewusstsein, das ihre Aufmunterungen durch meine vorrausgegangenen und vorgetäuschten Ermüdungsanfälle provoziert hatte, noch völlig hin und weg gewesen.
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Andy92
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Beitrag: # 6771705Beitrag Andy92
11.6.2009 - 12:31

Mit ungeheurem Selbstbewusstsein, ungesunder Selbstverliebtheit, Verliebtheit und maßlos übertriebener Selbsteinschätzung startete ich das Unternehmen Bergumrundung in einer Stunde und dreißig Minuten zusammen mit Melinda nach einem gemeinsamen und ausgiebigen Frühstück mit Sven um halb elf. Vollgepackt mit Energieriegeln und Wasserflaschen machten wir uns auf den Weg hinunter nach Gersau – Melinda kontrollierte ihr Rennrad als ob sie nie etwas anderes gemacht hätte und legte im Flachen schon mal ein ordentliches Tempo vor.
Noch vor der Abfahrt hatte sie mir mit einem Lächeln auf den Weg gegeben, dass sie von Alexander die Aufsichtspflicht über meine Wenigkeit übertragen bekommen hatte und ich deshalb keinen Scheiß machen solle. Ein seltsames Gefühl, wenn man wieder einmal merkt, dass das Mädchen, in das man sich unsterblich verliebt hat, zwei Jahre älter und somit schon fast 19 ist, als man selbst und jetzt auch noch auf einen aufpassen soll, als ob sie der eigene Babysitter wäre.

Ich versuchte diesen Gedanken zu verdrängen, indem ich mich auf die wunderschön gelegene Strecke direkt am Seeufer entlang und die herrliche Bergkulisse konzentrierte. Auf dem Wasser tummelten sich bereits unglaublich viele Segelboote, Surfer und Motorbote. Kurz vor Vitznau, als wir uns bei der Seeenge zwischen dem Rigi und dem Bürgenstock befanden, wurde das mediterrane Ambiente von einigen Palmen am Wegesrand komplettiert. Allmählich beruhigte sich nun auch der Berufsverkehr, bis wir schließlich bei leichtem Rückenwind nebeneinander her fahren konnten. Kein Wunder also, dass wir relativ zügig voran kamen. Nach gerade mal 20 Minuten erreichten wir Weggis, nach einer halben Stunde Küssnacht. Beim lesen des Ortsschildes musste ich kurz schmunzeln und schielte zu Melinda hinüber, die jedoch keine Reaktion zeigte. Sie war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt und betonte immer wieder, dass sie sich richtig gut fühle und es eigentlich noch schneller gehen könne. Letzteres konnte ich jedoch nicht mit ihr teilen, dazu war ich noch zu geschlaucht vom gestrigen Rennen. Dennoch hatte ich bei dieser lockeren Runde das Gefühl, dass sich gewisse Verspannungen in meinen Beinmuskulaturen langsam auflösten.
Dieser Effekt hielt noch eine Weile an. Zumindest noch bis um die Ecke des Berges, als wir den Vierwaldstättersee verließen und der Zugersee vor uns auftauchte, an dessen Südufer wir jetzt unterhalb der Autobahn entlang gondelten. Hier herrschte absolute Windstille. Das bedrohlich wirkende Rigimassiv blockierte den theoretischen Rückenwind, der sich jetzt in Gegenwind umgewandelt hatte. Ich schaltete an meinem Tacho zum ersten Mal von der Fahrzeit auf die Uhrzeit um – es war erst halb zwölf, aber schon verdammt warm. Hoffentlich hielt das mein Kreislauf durch. Ein Sonnenstich war bei dem Wetter vielleicht gar nicht so unrealistisch.
Genau in diesem Moment verdunkelte sich die Sonne. Das Rigimassiv ragte jetzt noch viel imposanter vor uns auf, ja fast beängstigend. Wir hörten zwar das Rauschen der Autos von der Autobahn, aber hier auf der Landstraße war doch relativ wenig los – und plötzlich beschlich mich ein wenig das Gefühl der Einsamkeit. Der Anblick der Mythen, zwei Berge aus reinem Fels mitten in die Landschaft gesetzt, die in der Ferne vor uns aufragten, verdrängten dieses Gefühl aber sofort wieder, indem sie es mit einer Mischung aus Überraschung und Sorge überdeckten. Dort über den zwei Spitzen türmte sich, wie auf den umliegenden Bergen und Hügeln eine kleine Quellwolke auf. Auch rechts von uns über dem Rigi waberte bereits dessen weißer Zwilling in schwindelerregender Höhe. Tatsächlich machte es den Eindruck, als gäbe es jetzt ringsum zwei Gebirge, eines aus Felsen, Wäldern und Wiesen und das andere aus weißen und dunklen Wolken. Dieses würde in ein paar Stunden jedoch weitaus imposanter, bedrohlicher und angsteinflößender sein, als die echten Berge. Es stand vollkommen außer Frage, ob es heute noch zu einem Gewitter kommen würde – nur das Wann und Wo war noch nicht geklärt.
Es war schon seltsam. Vor gut einer Stunde hatte ich noch Bedenken, ob ich nicht wegen Melindas Anwesenheit gegen einen Baum fahren würde. Mittlerweile hatte ich mich jedoch so sehr an sie gewöhnt und mich mit ihr so ausgedehnt unterhalten, dass alle Nervosität von mir abgefallen war. Sicherlich verspürte ich auch weiterhin ein leichtes Gribbeln, wenn sie mal wieder in meinem Blickfeld auftauchte – und das geschah zufälligerweise ziemlich häufig – und darüber hinaus war ich auch nach wie vor unsterblich in sie verliebt, doch das bisschen Normalität im Umgang mit ihr, tat mir wirklich gut.
Doch jetzt wäre ich beinahe wegen den Besorgnis erregenden Quellwolken in den Straßengraben abgebogen. Zum Glück hatte es Melinda nicht bemerkt. Mit dieser Aktion hätte ich sicherlich die bisher so hervorragende Stimmung versaut, was jetzt aber auch die Aussicht auf die Gewitterwolken tun würde. Doch sie schien die plötzlich aufziehenden Wolken gar nicht zu bemerken. Sie schossen zwar direkt vor ihren Augen von Minute zu Minute höher und höher in den Himmel, aber das ignorierte sie einfach, als gäbe es nichts alltäglicheres. Trotzdem, dachte ich, sollten wir etwas an Tempo zulegen, sonst würden wir wirklich noch in ein Unwetter geraten. Nur wie sollte ich ihr das jetzt geschickt unterjubeln? Auf ein Rennen wollte ich eigentlich verzichten.
„Sag mal, willst du wirklich nicht schneller fahren?“, fragte sie und nahm mir damit die ganze Denkarbeit ab. Ich tat so, als ob ich noch unentschlossen meinen Kopf hin und her wiegen würde, bis ich schließlich zustimmend nickte – auch wenn meine Beine langsam leichte Ermüdungserscheinungen aufzeigten.
„Wir könnten eigentlich Windschattenfahren trainieren, oder? Weil gestern hat das bei mir teilweise nicht wirklich gut geklappt“, fügte ich noch hinzu und sofort beschleunigte Melinda und zog an mir vorbei. Ich klemmte mich sofort an ihr Hinterrad, ohne große Probleme – natürlich, bei diesen Windverhältnissen funktionierte das ja auch prima. Aber gestern war das etwas völlig anderes gewesen.
Sie führte ungefähr eine Minute, dann war ich an der Reihe – ich bolzte gleich mal zwei Minuten lang richtig Tempo, in der Hoffnung, ich würde damit ihre schier unerschöpflichen Kraftreserven etwas aufbrauchen, doch ich weckte mit dieser Aktion nur einen unermüdlichen Ehrgeiz in ihr. Anscheinend hatte sie das so aufgefasst, als wolle ich sie abhängen – es war das Rennen entstanden, dass ich eigentlich vermeiden wollte. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
Sie legte natürlich noch eins drauf und sofort hatte ich Schwierigkeiten dran zu bleiben. Ich hatte offenbar einen ganz schlechten Tag erwischt, was nach dem Rennen gestern, bei dem ich mich total verausgabt hatte, nun wirklich kein Wunder war. In meiner Not, vor einer peinlichen Niederlage gefeit zu bleiben, stach mir plötzlich ihr anmaßend schönes Gesäß ins Auge. Sie trug eine enganliegende schwarze Radlerhose – mit der Betonung auf enganliegend. An diesem Mädchen schien wohl beinahe jedes Detail zu stimmen und da ich gerade kaum etwas anderes sah, als ihren Hintern, tat sich dieser jetzt natürlich besonders hervor. Ich war mir sicher, dass sich dieser Anblick in der virtuellen Rangliste meiner Eindrücke von ihr, mit Sicherheit sehr weit oben einreihen würde.
Bei einem flüchtigen Blick – ich wollte das beste ja nicht verpassen - auf meine Pulsuhr war ich mir nicht mehr ganz so sicher, durch was der abnorm hohe Wert tatsächlich zu Stande kam. Und auch die Ursache meines plötzlichen Sabberanfalls blieb zunächst noch ungeklärt – ob Anstrengung oder Erregung, ich war mir da nicht so sicher und grübelte noch nach, als sie schließlich aus der Führung ging...
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Hagen
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Beitrag: # 6771710Beitrag Hagen
11.6.2009 - 13:15

Jetze funkts ja langsam zwischen den beiden :) obwohl ich noch nich richtig weiss ob auch Melinda was von ihm will:-)

Aufjedenfall wieder sehr gut geschrieben,dieser Text :D
Einfach mal den Bimbam baumeln lassen!

Andy92
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Beitrag: # 6771794Beitrag Andy92
11.6.2009 - 23:17

Nur wenige Kilometer entfernt beäugte im selben Augenblick der Radprofi Jörg Jaksche mit dem selben Misstrauen die Quellwolken über den Berggipfeln, während er den anderen 175 Fahrern der Tour de Suisse über die Startlinie in Flums folgte. Die Etappe gestern auf den gleichnamigen Berg hatte kein sonderlich gutes Ende für ihn genommen, genauso wenig wie für das Team selbst. Er hatte rund eine Minute und dreißig Sekunden auf den Tagessieger Robert Gesink verloren – sein Teamkollege Markus Fothen sogar fast zwei Minuten.
Einige Stunden zuvor hätte der Tross der Schweizer Rundfahrt nur um wenige Meter Unterschied die Strecke eines anderen, kleineren Radrennen gekreuzt. Zwar hatte Jörg nichts von diesem Rennen mitbekommen, da es weiter oben am Berg entlang geführt hatte, als das der Profis unten im Tal, doch natürlich hatte er im Vorfeld schon davon gehört. Genauer gesagt war es ein Jugendrennen gewesen, an dem ein ihm wohlbekannter Andreas Wagner teilgenommen hatte. Heute Morgen musste Jörg beim Besuch der Website der dortigen Wettkampforganisation leider erfahren, dass nicht sein um einige Jahre jüngerer Freund das Rennen gewonnen hatte, sondern ein gewisser Sven von Klavsen – vermutlich ein Niederländer.
Vielleicht, so dachte Jörg, würde es in den kommenden Tagen weniger Enttäuschungen geben. Auf den beiden Flachetappen heute und morgen, würde er ich super einrollen können, um seine Position in der Gesamtwertung auf dem Weg nach Caslano und Verbier noch deutlich zu verbessern. Auf seiner Homepage hatte er zwar angekündigt die Tour de Suisse nur als Training für die in wenigen Wochen bevorstehende Tour de France zu nutzen, doch der gestrige Tag und der mehr als deutliche Rückstand wurmte ihn doch ganz gewaltig. Jetzt hatte sich noch mehr Wut in ihm angestaut, noch mehr Frust, der abgebaut werden musste. Irgendwann würde der Funken schon überspringen, da war er sich sicher. Irgendwann würde die Etappe kommen, bei der er von Anfang an mit den Besten mithalten wird und er endlich weiß, dass er in Topform ist. Die harte Arbeit der letzten Wochen würde sich schon noch auszahlen. Das Training war auch gar nicht das Problem, viel mehr mangelte es an Rennhärte und so seltsam es klang, an Erfahrung. Er bewegte sich nicht mehr so sicher wie früher im Fahrerfeld, hatte nicht mehr den richtigen Riecher für die entscheidenden Rennsituationen, für den Moment der Angriffe der großen Favoriten, so wie auch gestern, als er Markus auch noch mit reingeritten hatte, der sich lange Zeit an ihm orientierte und ihm gefolgt war, bis er nicht mehr konnte. Kein Wunder, sein Ziel war in diesem Jahr nicht die Tour in Frankreich, sondern die in Deutschland. Doch ein Sieg dort, würde keine schlechte Tour de France entschädigen, wo er, Jörg, in Sachen Gesamtwertung die alleinige Verantwortung trug. Der sich langsam aufbauende Druck, den er sich teilweise selbst, andererseits auch schon von der Teamleitung auferlegt bekam, tat ihm dabei nicht wirklich gut. Druck hatte ihm schon immer geschadet. Zwar liebte er es als Kapitän aufzutreten, doch ganz gezielter Druck, auch von der Öffentlichkeit ausgehend, half ihm überhaupt nicht weiter.
So würde er einfach warten müssen, bis sich der Knoten von alleine aufgelöst hat. Hoffentlich noch bevor es in die entscheidende Woche bei der Tour ging, andererseits würde sich der Sponsor wie angekündigt wohl tatsächlich zum Jahresende zurückziehen. Jetzt durfte er auf keinen Fall den Fehler machen, zu verkrampfen, sondern einfach locker weiter rollen und irgendwann die Chance nutzen, wenn sie sich bietet. Seine Hoffnungen ruhten neuerdings auf der Etappe nach Caslano über den Lukamierpass gen Süden. Dort gab es einen relativ kurzen Anstieg einige Kilometer vor dem Ziel. Vielleicht würden die Favoriten diesen Berg bei der danach noch zu absolvierenden Distanz bis zum Ziel unterschätzen. Außerdem folgte am nächsten Tag eine Bergankunft, und darüber hinaus hatte er auch schon einiges an Rückstand kassiert – gute Argumente für eine Soloflucht, als Training allemal gut geeignet.
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Hagen
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Beitrag: # 6772166Beitrag Hagen
16.6.2009 - 14:47

Wann kommt der nächste Teil???
will das Rennen zwischen Andreas und Melinda erleben :lol:
Einfach mal den Bimbam baumeln lassen!

Andy92
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Beitrag: # 6772917Beitrag Andy92
21.6.2009 - 1:11

Sorry, dass es so lange dauern musste, aber ich habe lange über den richtigen Weg in diesem Teil nachgedacht. Das Kapitel wurde/wird vielleicht sogar noch wichtiger als ich gedacht hatte, aber lest selbst. :D

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Während sich das Fahrerfeld der Tour de Suisse außerhalb der Gewitterzone langsam aber sicher dem Ziel näherte, befanden sich zwei andere Radler mitten im Hexenkessel der Wetterküche. Die beiden kamen nur noch schleichend voran, sie kämpften gegen einen unbezähmbaren Gegenwind mit orkanartigen Böen, ausgelöst von einer gewaltigen Zelle, welche sie als pechschwarze Walze, sowie als weiß und wild aufschäumendes Gebilde in unermessliche Höhe aufbäumendes Ungetüm verfolgte und dabei jede noch so kleine Wolke in seiner Umgebung ansog, als schwebe ein Magnet gigantischen Ausmaßes über verstreuten Eisenspäne am Fußboden einer Werkstatt. Die Wolke war so riesig, dass sie ihr völlig eigenes Wettersystem schaffte. Äußere Einwirkungen gab es nicht. Ursprünglich hatte man für diesen Tag ganz leichten Südwind, am Nachmittag Südwestwind vorrausgesagt, doch der Sturm fegte jetzt genau in der entgegengesetzten Richtung über das Alpenvor- und Hochland rund um den Vierwaldstättersee und die Stadt Luzern. Die Gewitterwolke feierte ein Trinkgelage ungeheuren Ausmaßes! Sie stürzte sich in ein Meer warmer Luft, trank sich förmlich hindurch, und dabei herrschte so ein großer Überfluss an Energie, dass die Wolke einfach blind soff, so viel wie möglich und dabei nicht spürte – wie sollte sie auch –, dass sie ein absolut instabiles Wettersystem bildete, welches, sobald die Sonne untergehen würde, nach wenigen Stunden völlig spurlos in sich zusammenfallen würde.
Aber daran war jetzt noch nicht zu denken. Hier über den Bergen konnte sie aus dem Vollen schöpfen. Aus den warmen, feuchten, träge aufsteigenden Luftmassen der Berghänge war sie geboren worden, hatte sich mit einigen ihrer Artgenossen vereinigt, war plötzlich aus dem Nichts empor geschossen und waberte jetzt über dem schmächtigen kleinen Häuflein Stein des Rigimassivs umher, auf dem die Tannen unter den extremen Winden schwer litten. Längst hatte sich ihr gesamtes oberes Drittel in ein ambossförmiges Gebilde aus gefrorenen Wassertröpfchen verwandelt, die darin wild umher schossen. Die Ausmaße des gesamten Phänomens waren aus der Sicht eines einzigen Menschen unbeschreiblich. Es reichte vom Titlis bis zum Zürichsee, von Bern bis nach Luzern und schob sich gerade über den Gipfel des Rigi Kulms hinweg – doch noch geschah nichts. Es grummelte ein wenig in ihrem rotierenden Inneren, sie klebte schwarz, wie ein gigantisches Raumschiff am Himmel und wartete darauf ihre Waffen im richtigen Moment einzusetzen.

Ich wusste längst, dass wir gegen die unbezähmbaren Aufwinde einer Superzelle ankämpften. Es würde nicht mehr lange dauern, dann würde uns beiden sprichwörtlich der Himmel auf den Kopf fallen – die Ruhe vor dem Sturm legte sich über das Tal, über Schwyz und den Lauerzersee, den wir jetzt endlich völlig abgekämpft hinter uns ließen. Nachdem wir zum Mittagessen in Goldau einem Fast-Food-Restaurant einen dem Begriff keines Falls entsprechenden kurzen Besuch abgestattet hatten, hätten wir erst gar nicht wieder losfahren sollen. Doch weder ich noch Melinda hätten erahnen können, dass keine zehn Minuten später ein großes schwarzes Etwas über die Berge hinter uns schwappte und sich als Gewitter mit Tornado-Potential entpuppte.
Wir unterquerten die Autobahn und befanden uns endlich wieder in besiedeltem Gebiet. Die Straßen waren völlig ausgestorben. Uns begegneten lediglich zwei Liefer- und ein Postauto, deren Insassen hier am Montagnachmittag noch ihrem Dienst nachgingen, obwohl in unmittelbarer Zukunft eine kleinere Naturkatastrophe über sie hereinbrechen würde. Ich suchte schon seit unendlich erscheinenden Minuten nach einem Unterstand. Aber wohin? Ein Supermarkt? Ein Restaurant? Wir hatten kein Geld mehr, was in Deutschland ein großes Problem dargestellt hätte, war hier in der Schweiz kein allzu großes. Da hätte man uns bei so einem Unwetter sicherlich wohlwollender und selbstverständlicher – sofern überhaupt – aufgenommen.
Ungeschickt, wie wir in der Hektik waren, hatten wir jetzt auch noch die direkte Abzweigung in Richtung Brunnen und Gersau genommen, die wieder aus Schwyz herausführte. Auf offenem Feld begann es zu regnen – vereinzelte große schwere Tropfen fielen vom nun komplett schwarzen Himmel. Über uns hatte sich eine gespenstische schwarze Walze über den Berg zur Rechten gekämpft und zog – man konnte es an den obersten Tannenwipfeln sehen – eine tobende Gischt aus Regen und Sturmböen hinter sich her, die rasend schnell ins Tal hinunter sauste und wie eine Wand unaufhaltsam auf uns zuraste.
Ich handelte schnell. Kurz bevor uns der Platzregen erreichte, der uns in wenigen Sekunden bis auf die Knochen durchnässt hätte, zog ich Melinda fast noch während der Fahrt vom Rad und zerrte das Bündel aus zwei Fahrrädern und einem wunderschönen Mädchen hinter mir her in Richtung einer einsamen Scheune direkt neben der Straße. Besser gesagt, rutschten wir die Böschung hinunter, strauchelten über einen Landwirtschaftsweg und prallten gegen das verschlossene Tor des alten heruntergekommen Bretterverschlags, der immerhin etwas geschützt unterhalb des Berghanges lag. Genau in diesem Moment zuckte ein Blitz dort oben in den Wald – der ohrenzerfetzende Donner benötigte ungefähr zwei Sekunden, um über die Luft gegen mein Trommelfell zu schlagen und in meinem Kopf ungeheure Panik auszulösen. Donner! Das war eines der lauten Geräusche, vor denen ich so richtig Angst hatte. Irgendetwas in meiner Kindheit hatte einen Fimmel gegen sämtliche Laute mit einem markanten Knallen ausgelöst, vornehmlich diejenigen, bei denen man das Unheil förmlich auf sich zurasen sah.
Der Regen setzte ein. „Scheiße!“, rief Melinda hinter mir. „Ist die zu?“
„Ja“, brüllte ich gegen das Tosen des Windes an. Es kam mir fast so vor, als würde der Wind über den Bergkamm hinüberstürzen, sozusagen als zusätzlicher Fallwind wirken, der darüber hinaus auch noch unglaublich kalt und nass war.
Bei genauerer Betrachtung des Schlosses, dass an einer Kette befestigt, eine Holzplanke fixierte, die beide Torflügel versperrte, fiel mir plötzlich auf, dass es gar nicht richtig verschlossen war, oder durchgerostet, was auch immer! Auf alle Fälle riss ich so schnell wie möglich die Kette weg, schleuderte die Holzplanke davon und öffnete unter einem kaum hörbaren Ächzen der Scharniere den linken Torflügel gerade so weit wie nötig. Ich hechtete förmlich mit meinem Rad hinein, Melinda hinterher. Die Lichtverhältnisse boten zu draußen kaum einen Unterschied, dennoch sah ich zunächst nichts anderes als ein langes Stück Holz mit einem Eisenhaken, das an einem Stützbalken lehnte. Ich packte es und verriegelte damit das Tor von innen, obwohl es der Wind schon längst wieder zugedrückt hatte.
In Sicherheit schwelgend, jagte mir sofort der nächste schauerliche Gedanke durch den Kopf: Was wenn hier ein Blitz einschlägt? Um uns herum tobte das Gewitter jetzt im vollen Maße. Ein ohrenbetäubender Donner nach dem anderen lies die Balken erzittern und gleichzeitig hatte man den Eindruck eine Horde von Fotografen würde einen verfolgen. Ich wusste, dass uns eigentlich nichts anderes übrig blieb, als abzuwarten und zu hoffen, dass diese kleine unscheinbare Hütte am Fuße des Berges verschont bliebt – was doch äußerst wahrscheinlich war.
Es gab ein Fenster – nach Schwyz gerichtet. Der Wind fegte jetzt genau in der entgegengesetzten Richtung durch das Tal. Ich beobachtete noch kurz, wie ein Sonnenschirm über die Wiesen jagte, dann vergaß ich die Welt außerhalb dieser Hütte, denn mein Blick fiel auf den wohl schönsten weiblichen Körper dieser Erde, der völlig erschöpft im Dämmerlicht auf einem Heuballen hockte und sich gegen einen weiteren Stützbalken gelehnt hatte. Melinda atmete immer ruhiger, dennoch schien ihr Schweiß und das Regenwasser, welche ihr auf der nackten Haut standen immer intensiver zu glänzen. Tatsächlich fiel jetzt etwas helleres Licht durch das Fenster herein, doch dessen Ursache war mir im Moment völlig egal. Einzig und alleine die Wirkung, die damit erzielt wurde, interessierte mich. Nein, sie interessierte mich nicht nur, sondern sie versetzte mich in einen völlig ekstatischen Gemütszustand, der mich alles um mich herum komplett vergessen lies. Doch ein bisschen Beherrschung war mir vom Anfang unseres Ausflugs noch geblieben, so wendete ich meinen Blick kurz ab und setzte lieber meinen Helm ab, den ich neben meinem Rad ablegte. Schon aus dem Augenwinkel sah ich, dass es beim Hinabrutschen der Böschung einiges abbekommen hatte. Es war leider nicht irgendein Trainings- oder Wettkampfrad von unserem Hauseigenen Materialsponsor, sondern mein Rad – das Bergamont von Jörg. Ich wusste, dass es wahrscheinlich sogar enormen Schaden genommen hatte, doch davon wollte ich im Moment nichts wissen. Jetzt musste ich mich erst einmal ein wenig vom Stress der letzten Minuten erholen, der teilweise auch jetzt noch anhielt – das Gewitter war ja noch längst nicht überstanden und so jagte ein Blitz dem nächsten.
Ich schob einen zweiten Heuballen an den gegenüberliegenden Stützbalken und lies mich darauf fallen. Melinda schenkte mir ein seltsames ironisches Lächeln, das ich sofort erwiderte – besser gesagt, erwidern musste. Es war viel mehr ein automatischer Reflex meiner Gesichtsmuskeln und dennoch kam dieses Lächeln wie jedes, dass ich ihr zuwarf aus meinem tiefsten Inneren.
„Beschissener hätte das heute nicht laufen können“, lachte sie. Im ersten Moment wollte ich schon zustimmend nicken, doch dann fiel mir eine viel bessere Antwort ein.
„Ach, also ich find’s hier ja ganz gemütlich.“ Im selben Moment schlug ein Blitz keine dreihundert Meter von uns entfernt ein! Der Donner war so gewaltig, dass er das Glas im Fenster erzittern lies! Und dennoch lachten wir darüber, anstatt uns Sorgen um unsre Sicherheit zu machen.
„Dein Rad sieht ja nicht so gut aus“, meinte Melinda nach einigen Augenblicken des Schweigens. Diesmal nickte ich bloß verdrießlich und warf einen trauernden Blick hinüber zu dem matt schimmernden Haufen Metall, der ansatzlos auf dem Boden lag.
Ich gab mir einen Ruck und ging hinüber. Überraschenderweise hatte es keinen Totalschaden, denn ich konnte es noch problemlos aufstellen. Doch schon als ich das Vorderrad etwas hin und her wog und dabei ein seltsames Quietschen bemerkte, wusste ich, dass ich hier in dieser Scheune wohl noch etwas länger bleiben musste. Der Vorderreifen war absolut platt. Es ratterte kurz in meinem Kopf, dann stöhnte ich auf und schlug mir mit der Hand vor die Stirn. Ich hatte zwar Flickzeug dabei, aber keinen Ersatzschlauch, den hatte ich schon vor ein paar Wochen gebraucht, und dabei ganz vergessen einen neuen in das kleine Satteltäschchen zu legen. Ich schaute mir den Reifen genauer an und stellte schnell fest, dass mir auch das Flickzeug nichts helfen würde, denn offensichtlich war das Ventil an einer Seite abgeplatzt. Wie auch immer das passieren konnte, es war mir ein Rätsel. Wahrscheinlich ein Materialfehler, gepaart mit einer unsachgemäßen Behandlung, die ich dem Rad vorhin ja durchaus verpasst hatte.
Des Weiteren war der Umwerfer der Kassette und der linke Bremshebel verbogen und mein Tacho und der Lack hatten an mehreren Stellen kleine und unschöne große Kratzer abbekommen.
„Meins hat auch was abgekriegt“, seufzte Melinda, nachdem sie ihr Rad ebenfalls für einige Sekunden begutachtet hatte. Immerhin stammte ihres aus dem Internat und gehörte nicht ihr, dennoch würde das von Alexander mehr Ärger geben, als der Schaden an meinem.
„Na ja. Ich werde mich wohl abholen lassen müssen. Oder. Du hast nicht zufällig einen Schlauch dabei?“
„Einen was...ach so, nein leider nicht“, lachte sie. „Unsre Handys werden jetzt wohl nicht funktionieren, also wird’s wohl noch eine ganze Weile dauern.“
Plötzlich bemerkte ich ein immer lauter werdendes fernes Grummeln. „Jetzt sowieso nicht“, seufzte ich, dann war er da – der Hagel! Fast so als würde eine Büffelherde draußen vorbeirennen, so laut war es plötzlich! Ich machte mir tatsächlich Sorgen, ob die dünnen Brettchen über uns die Eisbrocken aushalten konnten. Doch schon nach einer halben Minute verschwand das tiefe Grummeln genauso schnell wieder, wie es gekommen war und hinterlies draußen auf den Wiesen eine dünne, schnell schmelzende Eissicht.

Doch das Unwetter tobte weiterhin beträchtlich. Der Regen nahm erst nach etwa zehn Minuten spürbar ab, vielleicht war es aber auch nur der Wind, der jetzt nicht mehr allzu sehr gegen die Außenwand der Scheune drückte. Langsam aber sicher sickerte die kalte Luft von draußen herein, ein erstes Zeichen für das Ende des Gewitters. Wir sprachen nicht mehr viel. Melinda meldete sich erst wieder zu Wort, als sie einen prüfenden Blick auf ihr Handy warf und feststellte, dass sie immer noch kein Netz hatte, obwohl es draußen schon deutlich heller geworden war. Dennoch bestand noch immer kein großer Unterschied zu einem kleinem Sommergewitter, so wie der Regen jetzt gerade gegen die Hütte gepeitscht wurde. Das Schlimmste war zwar überstanden, dennoch zuckten auch weiterhin unzählige Blitze vom Himmel – und zwar in nicht gerade großem Abstand zur Scheune.
Es verstrichen weitere Minuten des Wartens und mir fiel kein Thema ein, über das man hätte sprechen können. Ich wusste einfach nicht, wie ich diese Situation ausnutzen konnte. Zwar hatte ich schon so oft irgendwelche Filme gesehen, in denen ähnliche Situationen vorgekommen waren, doch dort verlief alles immer perfekt nach Plan und meistens auch noch ohne große Worte. Aber hier funktionierte das überhaupt nicht. Ich grübelte schon darüber nach, ob diese Traumgeschichten überhaupt irgendeinen reellen Wert besaßen, da bemerkte ich plötzlich, dass es ihr fröstelte. Sofort schoss frisches Adrenalin durch meine Adern. Ja, perfekt!
Ich zerrte meine eng zusammengefaltete, eigentlich noch nie benutzte Windweste aus meiner Trikotasche, bemerkte mit einem Gefühl der Genugtuung ihr überraschtes und aufgeheitertes Gesicht, als ich mir meinen Heuballen schnappte und mich neben sie pflanzte. Mit einem Grinsen rückte sie ein wenig zur Seite, sodass ich mich auch noch an den Holzbalken lehnen konnte. Dann legte ich ihr die Weste um die Schultern und lies aufgrund eines genialen Geistesblitzes meinen Arm gleich auch noch dort liegen – so nah war ich ihr noch nie gekommen. Mein Herz schlug mir bis zum Hals! Ich wartete auf eine Reaktion und tatsächlich grinste sie dankbar und zugleich mit einem Ausdruck vollkommenen Wohlbefindens zu mir hinauf.
Doch so richtig konnte ich mich gar nicht darüber freuen, denn mir fiel erst jetzt auf, da ich sie ja fast schon in den Armen wiegte und sich unsre Oberkörper aneinander schmiegten, dass sie tatsächlich zwei Jahre älter war als ich. Ich las es in ihrem Gesicht ab, sah es an ihrem Hals, ihren Armen und am Brustansatz, den ich von hier oben tatsächlich in seiner vollen Schönheit bestaunen konnte.
Was folgte war eine aus der Panik entstandene Kurzschlussreaktion, die ich in meiner Unerfahrenheit als einzig richtigen Weg ansah. Ich hatte bis jetzt erst ein Mädchen geküsst und damals waren wir vorher beide umeinander rumschlawenzelt, um den richtigen Moment abzupassen, zu dem ich im Endeffekt eigentlich kaum etwas beigetragen hatte. Damals war es nicht ich gewesen, der die Initiative ergriffen hatte, sondern sie und so hätte ich es diesmal, wenn überhaupt auch handhaben sollen. Es wäre vielleicht sogar besser gewesen, die Situation einfach so zu belassen, wie sie war, denn darin lag zumindest noch ein nicht gerade unbedeutender Anteil von freundschaftlichem Wert und den machte ich mit dieser unnötigen Aktion wohl völlig zu Nichte.
Ich küsste sie flüchtig auf die Wange, um mich sozusagen im gleichen Atemzug zu ihrem Mund vorzutasten – aber da war dann Schluss! Ihr Zeigefinger bohrte sich dazwischen und sie setzte ein unwiderstehliches entschuldigendes Lächeln auf.
„Ich hab es mir schon die ganze Zeit gedacht. Aber hör mal zu, versteh das bitte nicht falsch, was ich jetzt sage. Du bist wirklich ein – kleiner – süßer Junge, aber aus meiner Sicht viel mehr ein Kind. Ich bin 19 ein halb und du wirst erst im August 17 – das sind fast drei Jahre Unterschied. Wir würden einfach nicht zusammen passen. Aber als meinen – kleinen – Freund und Trainingskollegen hab ich dich echt gerne.“
Diesmal schockte sie mich nicht mit ihrer unglaublich wohltuenden Frische, sondern mit einer eiskalten Peitsche, die sie mir taktlos ins Gesicht schlug. Ich war völlig erstarrt, konnte nichts mehr denken, außer an den ersten Satz ihrer „Rede“ und wie oft das Wort „klein“ darin vorgekommen war.
Warum hast du es dann so weit kommen lassen!, schrie ich ihr in Gedanken wimmernd und heulend ins Gesicht...
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commandercharly
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Beitrag: # 6772934Beitrag commandercharly
21.6.2009 - 10:49

Echt super geschrieben, und die 2te Abfuhr die sich unser kleiner Kollege abholt. *seufs* Ob der jemals die große Liebe finden wird ????

Andy92
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Beitrag: # 6772959Beitrag Andy92
21.6.2009 - 12:34

Danke dir. :D

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9.Kapitel - Freundschaft

„Sorry. Da hab ich wohl gerade was falsch verstanden“, entgegnete ich und tat möglichst so, als ob mir die ganze Sache überhaupt nichts ausmachen würde. Aber das war fast ein Ding der Unmöglichkeit. Melinda hatte mir einen Dolchstoß versetzt – direkt in mein Herz! Es tat unheimlich weh von ihr einen Korb zu bekommen, obwohl ich es ja schon die ganze Zeit hätte ahnen können. Natürlich wollte ich es nicht wahr haben – vielleicht war es deshalb so schmerzhaft die Wahrheit einfach so als Tatsache ins Gesicht geklatscht zu bekommen.
Noch unangenehmer waren aber die Fragen, die mir immer wieder durch den Kopf schossen. Sie lähmten mich – sie machten die Zukunft aussichtslos. Hatte ich es gerade verbockt? War alles meine Schuld? Würde ich es aushalten können, „nur“ ein Freund von ihr zu sein? Würde ich das? Ja?! Tatsächlich? War es nicht viel wahrscheinlicher, irgendwann vor Verlangen zu explodieren? Konnte ich ihr jetzt überhaupt noch in die Augen sehen, sie überhaupt in meiner Nähe haben?
Unwillkürlich wendete ich mich in diesem Moment von ihr ab – mein Blick blieb aber weiterhin auf ihr kleben. Sie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, lies es dann aber doch bleiben und schwieg. Ich konnte mir schon gut vorstellen was sie sagen wollte. Vorhin hatte sie es ja auch schon erwähnt. „Ich hab es mir schon die ganze Zeit gedacht.“ Dieser eine Satz war schon schlimm genug gewesen. Sie hatte mich also tatsächlich ins offene Messer laufen lassen – oder hatte sie sich doch nur eingeredet, dass sie sich täusche. Hat sie deswegen nie darauf geachtet, keine neuen Signale auszusenden, wie wild mit ihnen um sich zu werfen?
Mit meiner Antwort, dass ich gerade etwas falsch verstanden hätte, machte ich mich auch noch richtig unbeliebt. Als ob ich sie aus einer Laune heraus hätte abschleppen wollen. Wie schlecht war das denn? Dieses Mädchen einfach so zum Spaß – nein – wenn, dann wollte ich mich für immer an ihr berauschen – sie war wie eine Droge, die auch jetzt noch auf mein Gehirn wirkte, alles vernebelte und mich in eine tiefe Depression stürzte.
Ich war ihr schon länger verfallen, und das wusste sie auch ganz genau. Gerade, dass sie es nicht laut aussprach, gab mir wieder Hoffnung, dass sie es mit einer Freundschaft doch sehr ernst nahm, und dass sie mich doch mochte, nur nicht auf die Weise, wie ich es gerne gehabt hätte. Ja, vielleicht war sie schon längst auf meine Bekanntschaft angewiesen! Wenn sie jetzt gesagt hätte, dass sie es genau wisse, dass ich mich unsterblich in sie verliebt hatte und sie nicht einfach bloß als Trophäe im Schrank wollte, um damit vor meinen Kumpels anzugeben – Hey, ich hab locker und leicht ne 19-jährige abgeschleppt! –, dann war ihr unsre Freundschaft wirklich wichtig. So gesehen, war die Aktion nur ein kleiner Ausrutscher, den man schnell wieder vergessen konnte, nichts wichtiges, alles blieb ganz unkompliziert – und letzte Unklarheiten durch unbewusste Zeichen hervorgerufen, schienen aus der Welt geschaffen zu sein. Mein Entschluss stand fest – ich wollte zumindest ihr Kumpel bleiben. Versuchen die Gefühle zu verdrängen, mich ab und zu an ihrer Gegenwart berauschen – bisher hatte das ja auch wunderbar funktioniert – und wer weiß, vielleicht würde der Funken ja doch noch irgendwann überspringen. Geduld, war das Zauberwort, ja Geduld! In ein paar Monaten, vielleicht sogar Jahren, sah die ganze Sache vielleicht schon völlig anders aus.
Wenn ich älter bin, über 18, in einem Radteam fahre, ein geregeltes Einkommen habe, dann würde sie vielleicht anders denken. Attraktiv und „nett“ war ich ja ganz offensichtlich, das hatte sie ja gesagt, also bestand sogar noch die Möglichkeit diese „Waffen“ ganz bewusst einzusetzen, um mich mit anderen Freundinnen von ihr abzulenken – ja, das war der perfekte Plan. Freundschaft und Nähe vorgaukeln, Sicherheit geben und ein bisschen Eifersucht schüren, dann würde es irgendwann Klick machen! Dann würde sie versuchen, mir um den Hals zu fallen – genau auf diesen Moment musste ich warten, geduldig warten, und dann nicht zu hektisch sein, keinen Fehler machen, sondern die „Falle“ behutsam um sie schließen und sie nie wieder loslassen.
„Ist doch nicht so schlimm. So was passiert glaube ich jedem mal, gerade bei solchen Umständen“, redete sie gefühlvoll auf mich ein und meinte mit „solchen Umständen“ wohl die filmreife Szene hier in der Scheune, auf Heu und mit einem tobenden Gewitter vor der Türe.
„Ja, da ging wohl irgendwas mit mir durch“, lächelte ich. „Vergiss es einfach.“
„Denk’ auch, dass das, das Beste sein wird.“ Sie nickte bekräftigend lange und gab mir damit gleichzeitig das Zeichen, dass mir alles überhaupt nicht peinlich sein sollte.
„Wir trainieren aber schon weiterhin zusammen, auch wenn der Tag heute nicht besonders gut dafür geeignet war, oder? Das macht nämlich echt Spaß mit dir.“
„Klar“, antwortete ich, mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren, um ein wenig Ablenkung zu finden, und tatsächlich fiel mir sofort etwas ein. „Zeig mir doch mal dein Rad“, schlug ich vor und sofort setzte sie sich runter auf den Boden neben ihres...
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Andy92
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Beitrag: # 6773097Beitrag Andy92
21.6.2009 - 21:29

Alexander holte uns ab, als es schon längst dämmerte. Natürlich war er sauer über unsren Leichtsinn, machte sich aber natürlich auch selbst Vorwürfe uns an diesem gewittrigen Tag alleine rauszulassen. Alles hätte ganz schön böse enden können, wie wir am Abend im Radio erfuhren: Zwischen Gersau und Vitznau hatte es einen Murenabgang gegeben, der die Straße nach Luzern wohl für einige Wochen unpassierbar machen würde – wenn nicht sogar noch länger, denn keiner wusste ob die Straße unter dem ganzen Schlamm überhaupt noch existierte und nicht schon längst in den See gerutscht war.
Immerhin hatte das auf uns im Internat keinerlei größere Auswirkungen. Trainingsrouten hatten wir noch genug und der Gersauer Bergcup in rund zwei Wochen, also drei Tage nach den Deutschen Juniorenmeisterschaften, an denen meine Wenigkeit ja auch teilnehmen würde, wurde dadurch auch nicht beeinträchtigt. Inzwischen war nämlich die genaue Strecke veröffentlicht worden: Start war in Gersau, dann ging es dreimal auf einer Runde an unserem Internat vorbei, über den Sattel am Ende des Hochtals auf mehr oder weniger asphaltierten Straßen hinüber nach Lauerz, von dort um den Rigi und über Brunnen wieder zurück nach Gersau – nach der dritten Runde stand der Schlussanstieg hinauf auf die Rigi Scheidegg an. Genau diesen mörderischen Anstieg, den Sven, Alexander und ich vor wenigen Wochen besichtigt hatten. Eine Runde war 30 Kilometer und das Rennen somit insgesamt fast 100 Kilometer lang. Dabei waren gut 3500 Höhenmeter zurückzulegen! Wer weiß, vielleicht hatte mich Alexander diesmal doch falsch eingeschätzt, denn ich war mir nicht wirklich sicher, ob ich diese unglaubliche Leistung wirklich vollbringen konnte. Er nannte es einfach: Die eigenen Grenzen ausloten, oder besser gesagt eine Grenzerfahrung machen, ans absolute Limit herankommen. Gut, wenn er unbedingt wollte, dass er danach ein paar Wochen nichts mehr mit mir anfangen konnte, dann fuhr ich doch gerne mit.
In Wahrheit willigte ich wegen etwas ganz anderem ein: Melinda wollte nämlich plötzlich auch an diesem MTB-Marathon teilnehmen – im Frauenrennen versteht sich. Und ich war da natürlich ihr perfekter Trainingspartner. Sven sagte darüber hinaus noch ab und so konnte ich mit ihr in den kommenden doch wieder recht sonnigen Tagen ein paar wunderschöne einsame Stunden auf der Rigi Scheidegg beim Sonnenbad nach brutalem Aufstieg – sie legte stets ein Höllentempo vor – oder in den Wäldern bei gemütlicher Abfahrt hinunter nach Lauerz verbringen. Es war einfach herrlich die Freizeit in ihrer Nähe zu verbringen und tatsächlich hatten wir ungeheuren Spaß miteinander. Ich bekam es sogar hin, sie wirklich nur als Freundin zu sehen, als Kumpel, als Radsportlerin. Dennoch sah ich es immer wieder gerne, wenn sie sich schweißgebadet irgendeinen Anstieg hinaufquälte. Wir trainierten nicht nur an der Rigi Scheidegg, sondern auch mit den Rennrädern wo es nur ging. Ich vergaß in dieser Woche und der nächsten einfach alles, schaute nicht einmal nach was bei der Tour de Suisse abging, trainierte überhaupt nicht mehr mit meiner Trainingsgruppe, vernachlässigte die Schule, denn es war mir alles einfach schlichtweg egal. Sie war zum wichtigsten Menschen in meinem Leben avanciert! So wohl wie in ihrer Nähe hatte ich mich noch nie bei jemanden gefühlt. Und dennoch verlor ich mehr und mehr das Gefühl, sich unsterblich in sie verliebt zu haben. Es spielte sich eine Art Normalität ein, eine Normalität in diesem Rauschzustand. Schon längst kicherte das ganze Internat über uns zwei, doch es war uns völlig egal. Wir zwei wussten, dass zwischen uns nichts lief, zumindest körperlich – sollten die anderen doch denken, was sie wollten!
Beinahe hätte ich sogar das Kriterium in Luzern vergessen. Erst als mich, ein inzwischen schon fast eifersüchtiger Sven am Sonntagmorgen im allerletzten Moment aus dem Bett gerissen hatte, begriff ich endlich, dass es vielleicht doch noch etwas anderes gab, außer Melinda. Die anderen Jungs fragten mich ständig darüber aus, ob ich nun mit Melinda zusammen bin, oder nicht – ich verneinte natürlich ständig, was sie aber nicht glauben wollten. Warum fragen sie mich dann ständig? Am Montag erzählte ich ihr davon und sofort brachen wir eine gute Viertelstunde in schallendes Gelächter aus. Irgendwie verstanden wir uns einfach prima, ja fast blind.
Beim relativ wichtigen Kriterium in Luzern verrichtete ich trotz allem eine tadellose Arbeit für unseren Sprinter, der das Rennen gewann – Melinda war zum Glück nicht dabei gewesen, sonst hätte meine Fahrt wohl in einem Desaster geendet. Die Tour de Suisse gewann übrigens Frank Schleck vor einem nach seinem zweiten Comeback immer stärker werdenden Lance Armstrong und Kletterkönig der vergangene Tour Mauricio Soler. Jörg wurde elfter und verpasste die Top10 um gerade mal eine Sekunde! Ihn würde ich endlich einmal wieder bei den Deutschen Meisterschaften sehen, zwar telefonierten wir ab und zu miteinander, doch ihn mal wieder persönlich zu sehen, würde doch wieder etwas Besonderes sein.
Gleichzeitig mit dem Ende der Tour de Suisse gab Alberto Contador bekannt, auf eine Tourteilnahme zu verzichten, und dass er sich jetzt auf die Vuelta konzentrieren werde. Damit entging er einer Blamage, die sich schon bei der Dauphiné Libéré bereits angedeutet hatte. Doch es folgte noch etwas viel erstaunlicheres: Im Hause Silence-Lotto schien sich eine Eskalation einer zunächst schier harmlosen Situation zu entwickeln! Zunächst hatte der unglaublich starke Cadel Evans über Knieprobleme gejammert, dann hatte er Teamärzte beschuldigt falsche Diagnosen gezogen zu haben – ich fühlte mich da sehr an Alexanders Schicksal erinnert – und dann hatte er es plötzlich mit einem Disziplinarverfahren seiner Teamleitung zu tun, die ihn plötzlich aus dem Kader haben wollte. Der sonst so sympathische, nette, ruhige und zurückhaltende Cadel Evans muckte anscheinend auf, wohl völlig ohne Grund und stand ganz plötzlich kurz vor der Suspendierung. Das erledigte sich dann aber doch schneller wieder als gedacht – angeblich hatte man sich einen Nachmittag zusammen an einen Tisch gesetzt und alle Probleme aus der Welt geschafft, doch dann wurde seine Tourteilnahme aus einer ganz anderen Richtung gefährdet: Hexenschuss! Rund eine Woche vor der Tour diese unsagbare Katastrophe für das belgische Team! Evans hatte schon wegen den Knieproblemen eine Woche lang kaum trainieren können, hatte viel an Form verloren und jetzt das – selbst bei einer Teilnahme hätte er dem Team jetzt mehr geschadet als genutzt. So zog man letztendlich die Karte Yaroslav Popovych und versuchte so immerhin noch ein bisschen was in Hinblick auf das Gesamtklassement zu retten.
Somit trat also Astana mit Andreas Klöden als Kapitän an, Caisse d’Epargne mit Oscar Pereiro, Gerolsteiner mit Jörg Jaksche, meinem Kumpel, der ganz plötzlich zu den Mitfavoriten auf die Top10 zählte, Liquigas mit Franco Pellizotti, LPR mit Danilo Di Luca, Rabobank mit Denis Menchov, Silence eben mit Yaroslav Popovych, Columbia mit Armstrong, der jetzt natürlich richtig auf den Geschmack des achten Toursieges gekommen war und als seinen ärgsten Gegner ausgerechnet den Deutschen Andreas Klöden ausmachte, der wie ja bekannt sein dürfte auch schon 2004 hinter dem Amerikaner Zweiter gewesen war, und das Team von Bjarne Riis, CSC-Saxo Bank, mit Frank Schleck und Carlos Sastre. Eine interessante Tour de France 2008 – vielleicht sogar mit einem deutschen Sieger?
Doch noch war es eine gute Woche bis zum Tourstart in Brest. Und das Highlight Deutsche Meisterschaft war in meinen Augen natürlich viel gewichtiger als die Grande Boucle in Frankreich – dennoch sollten mich die Profirennen der DM so richtig auf die Tour einheizen. Doch noch ahnte ich nichts davon, als wir uns am Mittwochabend, den 26. Juni 2008 auf den Weg in Richtung Deutschland, nach Bochum, machten...
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