Beitrag: # 329604Beitrag
arkon
4.2.2006 - 0:56
18. Dezember, Elgea
Eigentlich hatte Dave nicht vorgehabt, in diesem Winter oder überhaupt jemals Jerdona beim Training zu besuchen. Aber genauso, wie er mit jedem neuen Tag tiefer in den Radsport verwickelt wurde, so änderten sich auch seine Vorsätze. Sein Leihwagen preschte die kleine Straße zum noch kleineren Ort hoch. Elgea war ein Nest mit vielleicht ein bis zwei Hundert Einwohnern, wunderschön gelegen zwischen den Bergen in der Nähe von Vittoria, direkt neben einem See, dessen Namen er sich nicht merken konnte. Jerdona war hier nicht geboren worden, aber im Laufe seines Radfahrerlebens hierher gezogen, um ungestörter trainieren zu können. Dave konnte zwar nicht verstehen, wie ein Mensch mit 23 Jahren freiwillig den gesamten Herbst und Winter eingesperrt in einer viel zu kleinen Wohnung in einem noch kleineren Dorf zu verbringen, aber an die Ruhe und die Aussicht hier oben könnte er sich gewöhnen. Vielleicht, in ein paar Jahren, wenn er selber genug beiseite gelegt hatte und den Job nicht mehr machen musste...
Den Job? Welchen Job? Er war nirgendwo angestellt, bekam lediglich hier und da etwas Geld zugesteckt. Er hatte keinen festen Auftraggeber, niemanden, der ihn mit Material versorgte... Er tat eigentlich gerade genau das, was er seit Jahren machen wollte: Eigentlich das gleiche, aber nur für seine Seite. Niemand schrieb ihm vor, auf wen der nächste Schlag abzielen sollte. Wenn ihm jemand ans Bein pinkelte, dann stand es ihm frei, sich zu rächen. Klar, damals, in Staatsdiensten, hatte er immer "hard intelligence", wie man es nannte, bekommen, neue Ausrüstung (soweit diese seinem damaligen Ausrüster zur Verfügung stand) und, wenn auch nicht viel, so doch einen sicheren Betrag Geld. Ihm war es immer frei gestellt gewesen, sich woanders hin versetzen zu lassen. Aber mit den Änderungen, die die Welt in den letzten Jahren durchgemacht hatte... Zuerst war er vom Staatsdienst quasi nahtlos privat übernommen worden, zusammen mit fast allen Kollegen. Mehr Geld, bessere Ausrüstung, weniger Hintergrundberichte, weniger Sicherheit. Aber immer noch ein großer Wille, dem er sich unterwerfen musste. Erst in den letzten Jahre hatte er sich "selbstständig" gemacht. Und dank Tobias lohnte es sich für ihn auch. So wie in Jerdonas Fall. Der gute wusste wahrscheinlich weder, an wen er geraten war, noch, wie viel Glück er eigentlich gehabt hatte. Naja, hauptsache er würde es irgendwann erkennen, wenn er selber genug Geld in der Tasche hatte. Auch Dave musste etwas essen.
Dank der guten Wegbeschreibung fand er Jerdonas Haus relativ schnell. Er stellte seinen Wagen ab und betrachtete es aus der Nähe. Haus war vielleicht etwas zu viel gesagt. Eine baufällige Hütte mit vielleicht 2 bis 3 Zimmern, eingequetscht zwischen einem größeren Haus und einer Steinwand, die wohl in den Fels getrieben worden war, um das Dorf vor Steinschlag zu schützen. Trotzdem gefiel es ihm hier auf anhieb. Diese spanische Atmosphäre, die ihn sofort erschlug, war einfach traumhaft. Viel zu klischeehaft, um wirklich zu sein. Er pochte kurz gegen die Tür und wartete, bis er sicher war, das niemand da war.
Langsam schlenderte er die Straße hinab ins Dorfzentrum. Jerdonas Haus stand am Nordende, dem höchsten Punkt der Siedlung. 100 m die Straße hinab befand sich schon der Brunnen, welcher wohl früher zentraler Punkt der Stadt gewesen war. Zweckmäßigerweise hatten sich die meisten Häuser unterhalb angesiedelt, damit die Einwohner die leeren Eimer bergauf und die vollen bergab schleppen konnten. Hier war auch heute noch das 'soziale Zentrum', wenn man bei einem Kaffee, einem Kramladen und einem sehr verlassen wirkenden Post/Bank Verschnitt von so etwas sprechen konnte. Dave verliebte sich fast augenblicklich in diese Szenerie, in der er mit Sonnenbrille, Handy und Jeans wie von einem anderen Planeten wirkte.
Er setzte sich an einen Tisch, bestellte sich einen Kaffee (trank man hier so etwas?) und fragte den Kellner, einen jungen, aufgeweckten Burschen, nach Jerdona. "Ach der, kein Ahnung, wo der heute wieder steckt. Emanuel und er fahren jeden Tag hoch in die Berge und trainieren da. Sie kommen meistens so in" ein kurzer Blick auf die Uhr "einer halben Stunde her. Wenn sie hierbleiben, treffen Sie sie sicher!" Dave bedankte sich und nahm die Auszeit gerne in Kauf. Eine halbe Stunde Zeit darüber nachzudenken, wie es weitergehen sollte. Ihm fehlte immer noch ein längerfristigerer Plan...
Die Bremsen quietschten nur leise, als Jerdona schlitternd vor dem Cafe zum stehen kam. Die Männer an den Tischen schauten auf und begrüßten ihn alle, als er herüber kam, seinen Helm unterm Arm und ein paar Worte mit ihnen wechselte. Sie flachsten ein wenig über das Training, den Radsport und Gott und die Welt. Jerdona bemerkte Dave und grüßte ihn, tauschte aber noch der Höflichkeit halber ein paar Worte mit den Dorfältesten.
In der Zwischenzeit kam schon ein anderer junger Mann die Straße heruntergelaufen, auch er wurde begrüßt. Es musste wohl Emanuel sein. Tobias hatte Dave ein wenig über ihn erzählt, aber selber kennengelernt hatten sie sich noch nicht. Als Jerdona ihn bemerkte, winkte er ihn zu sich herrüber und gemeinsam gingen sie zu Dave, wo sie einander vorgestellt wurden. Nach den üblichen einleitenden Floskeln verdünnisierte sich Jerdona auch schon, "Ich muss kurz noch Duschen".
Während Dave also weiter seinen Kaffee schlürfte, sich die richtigen Worte zurecht legte und auf Jerdona wartete unterhielt er sich ein wenig mit Emanuel. Die Fachkentniss, die der junge Mann an den Tag legte und die Begeisterung, mit der er seinen Gegenüber schon innerhalb dieses kurzen Gespräches in die diffizielen sportlichen Feinheiten des Radsports einführte, hätte auch einen Radsportkommentator beeindruckt. So aber hatte er für ihn nur große Augen übrig. Er hatte sich eigentlich schon immer recht viel um seine Gesundheit und seinen Körper gekümmert, musste aber anerkennen, das ihm zum Niveau eines modernen Leistungssportler noch so einiges fehlte.
"He Dave, schön das du vorbei kommst" begrüßte ihn Jerdona endlich. "Schön, das du in so einem schönen Dorf wohnst. Es hätte mich schlimmer treffen können" flachste er zurück, setzte aber dann dazu "Jerdona, ich muss mit dir unter vier Augen reden". Emanuel stand schneller auf, als er den Satz ausgesprochen hatte, verabschiedete sich kurz und setzte sich an den Nebentisch.
"Es gibt da ein Problem" Dave stellte kurz die Situation dar, ließ aber natürlich die wahren Hintergründe, wer Aleksei war und wie das alles zusammenhing, aus.
"Yuri Madarkady? Noch nie gehört" entgegnete Jerdona, nachdem er geendet hatte. "Aber ich bin mir sicher, das ich ihn im Team unterkriege, wenn ich Legeay persönlich frage. Ich habe bei ihm einen ziemlichen Bonus, ich bin ja irgendwie jetzt der neue Star der Mannschaft" er musste, trotz der Situation grinsen. "Was, glaubst du, kann Aleksei schlimmstenfalls tun?"
"Naja, er weiß von Paris. Wenn er das ausplaudert, wird man schon irgendwie rekonstruieren können, das in der Nacht Besuch da war, der ohne weiteres auch an die Proben hätte herankommen können. Beweisen kann er nichts, aber alleine schon wenn eine Untersuchungskomission eingesetzt wird, wäre deinem Ruf geschadet. Und so streng, wie du danach sicherlich überwacht werden würdest, wäre es ein leichtes, dir nochmal was unterzuschieben. Das wäre dann, Publicitytechnisch, dein Ende. Sportlich kann man vielleicht nochwas drehen, aber wenn dich kein Team mehr bei einer GT als Kapitän einsetzt..."
Das Thema war eigentlich viel zu schön für so einen Tag. Obwohl es natürlich auch hier etwas kühl war, schien die Sonne doch prächtig wie eh und je, und hätte man ohne Pulli herumlaufen können...
"Ich werde es versuchen. Ich kann nix versprechen" Eine Pause "Was ist eigentlich bei dem Rekorder in Ronsinos Wohnung herumgekommen? Du hattest ihn doch da platziert?" "Naja, sagen wir: Auswertung läuft noch. Ich habe ihn wieder, aber ich brauche ein bisschen Zeit zum akustischen Aufbereiten und dann natürlich zum logischen Auswerten"
Ein Nicken.
"Dave, vielen Dank für das, was du hier tust. Wenn ich meinen ersten Gehaltsscheck bekomme..." "Alles klar. Ich vertrau auf dein Fairness in finanzieller Hinsicht. Und solange du nicht umziehst..."