Es waren herrliche Tage, die Oscar abseits der Tour de France verlebte. Während sich alles auf das angeblich größte Rennen der Welt konzentrierte, konnte er mit seiner Frau, ohne dass von ihm Notiz genommen wurde, einige erholsame Tage an der Biskaya verleben.
Nicht umsonst war man vorher im heimischen Torrelavega gewesen. Denn neben der Begutachtung der Zielankünfte und entscheidenden Streckenpassagen der Vuelta-Etappen nach Leon, Santillana del Mar und Burgos, die er ohnehin aus dem Effeff konnte, nutzte er die Gelegenheit, seinen kleinen Marcos mal für ein paar Tage bei der Familie zu "parken". Er wusste ihn in guten Händen, so dass einem Kurzurlaub frei von Sorgen nichts mehr im Wege stand.
Frei von Qualen war dieser indes nicht. Nicht einmal das intensive Einschreiten seiner besseren Hälfte konnte ihn davon abhalten, zumindest hin und wieder seine Rennmaschine, ohne die er kaum abgereist wäre, mit ein paar Sonnenstrahlen zu beglücken. Ganz einrosten wollte er schließlich nicht, und da war immer noch dieses eine Rennen, das es ihm angetan hatte. Donostia! Allein der Name klang wie Musik in seinen Ohren, doch so oft er es versucht hatte, es war immer wieder zum Scheitern verurteilt. Nun wollte er endlich vor eigenem Publikum jubeln, auch wenn man einem kantabrischen Sieger dort vielleicht weniger euphorisch als einem Basken entgegentreten würde. Wieder und wieder hatte er sich über die Scharfrichter des Rennens gequält, wollte nichts dem Zufall überlassen. Schien die Motivation einmal flöten zu gehen, erinnerte er sich daran, welche Bergriesen ihn noch bei der Tour erwartet hätten. Da war dies bei weitem das kleinere Übel, auch wenn die Temperaturen im Hochsommer Oscar das Leben erheblich schwerer machten.
Doch an Tagen wie diesem, an dem man begleitet vom Meeresrauschen die Seele baumeln lassen konnte, hatte die sonst so unbarmherzige Sonne auch ihre guten Seiten. Während Laura an seiner Seite es vorzog, eine kleine Siesta zu halten - offensichtlich war die vergangene Nacht an ihr nicht spurlos vorübergegangen -, blätterte Oscar ein wenig in der AS, die er aus der Empfangshalle des Hotels hatte mitgehen lassen. Nicht ohne Hintergedanken, schließlich hatte der Journalist, den er einige Tage vorher beim Training getroffen hatte, ihm für heute die Veröffentlichung seines Interviews angekündigt. Und er hatte nicht zu viel versprochen, sogar überraschend wenige Änderungen vorgenommen...
Ganz Spanien fragt sich derzeit, was mit seinem Rad-Idol Oscar Freire los ist. Wir haben den dreimaligen Weltmeister auf einer seiner Trainingsfahrten nahe seiner Heimat Torrelavega aufgespürt und ihn zu dessen Saison, seinen weiteren Zielen und zur Tour de France befragt.
AS: Señor Freire, Spaniens Radsport-Fans sind derzeit in großer Sorge. Nach einer durchwachsenen Saison haben sie sich kürzlich mit einer durchaus zweifelhaften Geste von der Tour de France verabschiedet? Geht da eine große Karriere zuende?
Freire: Natürlich ist es euer Job, diese provokanten Fragen zu stellen. Läuft es gut, seid ihr die ersten, die auf der Welle des Erfolges mitschwimmen wollen, im Gegenzug stürzt ihr euch aber auch wie Geier auf ein gefundenes Fressen, wenn mal der Wurm drin ist. Fakt ist, dass ich mir wohl im April zu viel zugemutet habe. Die harten Rennen in Limburg und den Ardennen, dazu die kräftezehrenden Kopfsteinpflasterklassiker, das konnte mein Körper nicht verarbeiten. Zwar lief es in Katalonien noch ganz passabel (Freire holte hier seinen ersten und bisher einzigen Saisonsieg, d.Red.), aber bei der Tour de Suisse musste ich dem harten Programm dann erstmals Tribut zollen.
AS: Man sagt, es wäre wieder ihre alte Verletzung aufgebrochen, die ihnen schon so viele Probleme in ihrer Karriere bereitet hat.
Freire: Nun, ich habe mir die Rückenschmerzen nicht ausgesucht. Aber ich kann Entwarnung geben, es sieht nicht so schlimm aus wie noch in vergangenen Jahren, bereits jetzt kann ich wieder beschwerdefrei trainieren. Es hat halt nur nicht gereicht, um nach so kurzer Zeit bereits wieder auf höchstem Niveau mitzuhalten, bei der Tour ist ja immer die komplette Weltelite am Start...
AS: ...gegen die sie auch ziemlich alt ausgesehen haben. War ihr Ausstieg begleitet von dieser unschönen Geste auch ein Ventil für den Frust, den sie in der ersten Tour-Woche aufgebaut haben?
Freire: Ja ja, diese Geste, die ist hängen geblieben, oder? Sicher gab es bei einigen Zielankünften Momente, wo ich gewissen Kollegen für ihre Fahrweise gerne die Meinung gegeigt hätte, aber das ist ja Alltag in unserem Sport. Man muss schon ein Schlitzohr sein, wenn man es weit bringen will. Aber letzten Endes war es nicht Frust, sondern Kalkül. Was wäre das denn für ein Bild, wenn ein Oscar Freire auf einer Bergetappe fernab vom Geschehen unter Schmerzen ins Teamauto steigt? So bleibe ich im Gespräch, und jeder weiß, dass man mich in diesem Jahr noch nicht abschreiben darf.
AS: Sie sprechen bereits die kommenden Monate an. Dürfen wir davon ausgehen, dass Oscar Freire sich für die verkorkste erste Saisonhälfte revanchieren wird?
Freire: Verkorkst ist in meinen Augen zu hart, andere würden sich nach meinen Ergebnissen die Finger lecken. In gewisser Weise haben sie aber natürlich recht, gemessen an den Ansprüchen ist das bisher eindeutig zu wenig. Versprechen kann ich auch nichts, aber dass ich mir viel vorgenommen habe, steht außer Frage.
AS: Sehen wir wieder einen spanischen Weltmeister?
Freire: Wenn die Mannschaft sich ohne zu murren in meinen Dienst stellt (lacht)...ein WM-Titel ist nicht planbar. An so einem Tag muss alles passen, es wird so viele Anwärter geben, dass man ohne das entsprechende Quäntchen Glück chancenlos ist. Aber da ich weiß, wie es sich anfühlt, gehe ich ohne jeglichen Druck an die Sache heran. Alles andere abgesehen von einer gewissenhafte Vorbereitung liegt nicht in meinem Einflussbereich.
AS: Welche weiteren Ziele haben sie sich für den Rest der Saison gesteckt?
Freire: Da hält der Kalender noch so einige Leckerbissen bereit, unter anderem ein paar hübsche Eintagesrennen, die mir in meinen Palmares noch fehlen. Nicht zu vergessen die Vuelta, die in diesem Jahr auch in meiner Heimat Station machen wird. Dass ich da nicht fehlen darf und natürlich auch meinen Fans etwas bieten will, ist selbstverständlich. Ich habe ja auch gerade einmal knappe 30 Renntage in den Beinen, da sind noch einige Reserven vorhanden. Ich darf nur nicht wieder den Fehler des April haben, muss meine Einsätze besser dosieren. Dann kommt der Rest auch von selbst...
AS: Bei so viel Optimismus: Warum haben sie dann die Tour de France vorzeitig beendet? Vielleicht hätten sich die Schmerzen noch rechtzeitig für einen Sieg in Paris in Luft aufgelöst.
Freire: Das glaube ich kaum. Und selbst wenn...die Atmosphäre bei dieser Tour ging mir gehörig gegen den Strich. Da kommt ein aufgeblasener Cowboy aus Übersee, spielt sich einmal im Jahr wie der Allergrößte auf, und alle kuschen vor ihm. Und das schlimmste: Er wird von Jahr zu Jahr arroganter. Da freut es mich natürlich, dass unsere Franzosen ihn in den letzten Tagen immer mal wieder ärgern konnten. Wirklich in Gefahr bringen kann ihn aber wohl nur Alejandro (Valverde, d.Red.), doch der ist offenkundig ein ganzes Stück von seiner Bestform entfernt. So befürchte ich, dass der Ami auch dieses Jahr im Gelben Trikot nach Paris fahren und einmal mehr dem Irrtum aufsitzen wird, der beste Rennfahrer der Welt zu sein...
AS: Señor Freire, vielen Dank, dass sie sich die Zeit für dieses Interview genommen haben. Wir möchten sie dann auch nicht weiter bei ihrem Vorhaben stören.
Freire: Gerne wieder. Bei diesen Temperaturen kam mir eine kleine Trainingsunterbrechung auch ganz gelegen.
Kurz warf er noch einen Blick auf die Ergebnisse der letzten Tour-Etappe und vernahm mit Genugtuung die Plazierungen von Totschnig, der bisher sehr unauffällig agierte, Chavanel, dem mit seinem Etappensieg der große Wurf gelungen war, Rinero, der einen großen Kampf um das Bergtrikot lieferte, sowie Valverde, der nach anfänglichen Problemen auch langsam in Fahrt zu kommen schien. Mit der Zeitung über dem Kopf verlor schließlich auch er den Kampf gegen die Müdigkeit, die nun auch ihn langsam heimsuchte.