Beitrag: # 426675Beitrag
arkon
15.5.2007 - 20:55
Einige Stunden später fand er sich in einer ganz erstaunlichen Lage wieder: Wieder fuhr Stefan Schumacher voran, aber diesmal mit Samuel Sanchez an seiner Seite. Wieder jagten sie als Duett auf den Schlussanstieg zu. Aber diesmal lauerte er hinten, bei den Verfolgern. Die Hektik war schon ausgebrochen, die große Nervosität vor der entscheidenden Rennphase. Es war das Crescendo vor dem Finale, das langsame aufbauen der Spannung, und er war mittendrin. Er genoss es, die Betriebsamkeit um ihn herum zu beobachten. Helfer jagten durch das Feld, die Kapitäne blickten entschlossen nach vorne, manche versteckten sich aber auch mehr hinter ihren Sonnenbrillen, damit keiner ihre Sorgenfalten sehen konnte.
Ihm war das egal. Mit jeder Pedaldrehung, die er in Richtung Liege zurücklegte, fühlte er sich stärker. Das, was heute Morgen noch ein Flüstern gewesen war, war zu einem Brüllen angewachsen. Ungeduldig rutschte er auf seinem Sattel hin und her. Er wollte endlich loslegen. Aber er musste sich noch länger kontrollieren. Yuri wusste genau, was ihm in Amstel Gold Race und beim Fleche den Sieg verbaut hatte: Sein Temperament. Er musste den richtigen Moment abwarten. Und der würde erst kommen, wenn das Rennen richtig begonnen hatte.
Sammy und Schumacher wurden mit nur wenigen Sekunden Vorsprung im Funk angesagt. Das war es: Das Signal zum Aufbruch. Er richtete sich auf und schaute sich aufmerksam um. Die Gesichter seiner Gegner, ihren Tritt, ihr Sitz auf dem Rad. Jedes Detail sog er auf, studierte es genau. Es waren Nuancen, die einem verrieten, wer gleich losschlagen würde. Nuancen, welche er studierte, seit er das erste Mal ein Rennen gefahren war. Und er war mit der Zeit recht gut darin geworden.
Der erste Antritt kam von einem Liquigasfahrer. Es war nicht Di Luca, den hatte er im Auge. Wieder ein Blick auf die anderen, wer würde das Loch schließen? Cunego zuckte, Cunego fuhr. Und ab da ging es Schlag auf Schlag. Immer wieder ein Angriff, und immer wieder ein Konter. Es war ein sehr riskantes Spielchen, auf das sich Yuri einließ. Er schloss kein Loch, er wartete. Doch dann kam der Angriff von Schleck. Di Luca ging mit, doch wer würde die Lücke zufahren? Die beiden hatten sich den perfekten Moment ausgesucht: Eine Phase des gegenseitigen Anschauens. Auch Yuri schaute sich um. Das konnte doch nicht sein? Es waren genug Fahrer hier, die scharf genug auf den Sieg waren. Sie konnten die beiden doch nicht einfach so ziehen lassen? Er musste doch gewinnen!
Panik machte sich breit, und wie so oft war das erste Opfer dieser emotionalen Reaktion die Logik. Er trat an, kurz und hart, riss ein Loch zu den anderen und begab sich selber auf die Verfolgung. Voller Wut prügelte er die Pedale nach unten. Kein Blick zurück, nur nach vorne. Wo waren sie? Es war sein Sieg auf den die beiden es abgesehen hatten, sein Sieg! Als er die Kuppe des Côte de Saint-Nicolas überquert hatte schaute er sich kurz um. Er war alleine.
Auf der kurzen Abfahrt riskierte er alles. Er konnte den Windhauch spüren als er in seiner geduckten Haltung an den Ecken der alten Häuser vorbeirauschte. Fast hätte er einen Laternenpfahl mitgenommen, der etwas verdeckte hinter einer Kurve stand, doch er hatte Glück. Wo waren die beiden?
Fast hätte er geschrieen, als er sich urplötzlich im finalen Anstieg wieder fand, auf den letzten Metern nach Ans. Noch ein panischer Blick zurück bevor er sich mit aller Kraft dem Berg widmete. Hügel, wie manche Kletterer etwas spöttisch bemerkten, doch diese Hügel waren mehr als steil genug. Er musste aus dem Sattel gehen, wieder ein bisschen Geschwindigkeit aufnehmen. Es bestand permanent die Gefahr sich zu verschalten, absteigen zu müssen und innerhalb von wenigen Sekunden alles zu verlieren. So steil war es hier zum Glück nicht, aber er musste trotzdem ziemlich kämpfen. Doch er fand schnell wieder zurück in seinen Rhythmus, nahm Geschwindigkeit auf und jagte in einem gleichmäßigen Tempo den Berg hoch.
Auf einmal sah er sie. Er fuhr um eine Kurve und da waren sie. Er hatte noch nicht den letzten Kilometer erreicht und er hatte sie eingeholt. Hatte er vielleicht etwas übersehen? Etwas verwirrt schaute er sich um, kein Feld in Sicht. Plötzlich fiel ihm ein dass er ja den Ohrstöpsel besaß. Wie bei einem Fernseher, den man nach einer Werbepause wieder auf laut stellt schaltete er seine Ohren ein. Und hörte erstmal gar nichts. Es war ein Rauschen, unglaublich laut. Reflexartig schaute er sich um, woher das Geräusch kam. Und da begriff er: Es waren die Zuschauer. Er hatte sie schon fast perfekt ausgeblendet. Aber sie waren da und machten einen unglaublichen Lärm. Er nestelte etwas an seinem Ohr herum und hörte ein anderes Brüllen, das seines sportlichen Leiters. Fast überschlug sich seine Stimme, aber er gab zwischen vielen Anfeuerungsrufen immer wieder Abstände und Distanzen durch. Und was er hörte, gefiel Yuri. Mit einem Grinsen, einer hämischen Fratze richtete er sich auf und sprintete locker und leicht die letzten Meter zu den beiden Ausreißern empor. ‚Ihr nehmt mir heute meinen Sieg nicht weg!’ schien sein Gesicht zu schreien, als er ihnen im vorbeifahren einen kurzen vernichtenden Blick zuwarf.
Aus den Augenwinkeln erhaschte er, wie di Luca an sein Hinterrad sprang, aber da war sein Fokus schon längst wieder nach vorne gewandert. Seine Beine hämmerten jetzt mit der Gewalt einer ganzen Höllenschmiede auf die dünnen Karbonrohre ein, die seine Schuhe in ihrer Kreisbahn hielten. Wenn er aus dem Sattel ging und seiner Lunge einer kurzen Moment der Erholung gönnte lag etwas auf seiner Zunge… es war ein komischer Geschmack, es schmeckte nach Sieg.
Die restliche Fahrt hinauf verschwand für ihn mehr in einem Nebel. Er funktionierte, sein Geist stand irgendwo daneben und befand das ganze für Gut. Schließlich… schließlich war er oben. Angekommen an dieser wohl berühmtesten aller Kurven im Radsportzirkus, vielleicht abgesehen von der Einfahrt in das Velodrom in Roubaix. Ungläubig blickte er sich um: Keiner war zu sehen. Reflexartig zog er den Reißverschluss an seinem Trikot zu, gönnte sich aber noch keine Ruhe. Wieder blickte er sich, wieder war keiner da. Hatte er etwas verpasst? Er schaute sich um, sah die jubelnde Masse: Nein, er hatte nicht verpasst, alles war so, wie es gehörte. Er gewann. Wieder ein Blick zurück, wieder war nichts zu sehen. Und wieder stellte er sich die Frage: Ist das alles Echt? Er traute sich noch nicht, sich auf zu richten. Erst als er kurz vor der Ziellinie war und unter seinem Arm hinter sich den abgeschlagenen di Luca erspähen konnte wusste er es: Es war kein Traum.
Mit Tränen in den Augen und einem riesigen Lächeln auf den Lippen richtete er sich auf, streckte seine Arme nach oben und warf seine Sonnenbrille von sich. Er hatte gewonnen! Er hatte es geschafft!
wer keine ahnung hat - einfach mal die fresse halten