Beitrag: # 6744162Beitrag
Andy92
7.11.2008 - 16:17
Hans parkte den Wagen irgendwo in der Nähe auf einem ausgewiesenen Parkplatz, während wir uns zum Bahnhof begeben sollten. Vor der errichteten Bühne saßen bereits einige Zuschauer auf den Bierbänken und klatschten einer jodelnden Volksmusikgruppe zu, die gerade alle Register zog, um die Stimmung auf dem Platz so richtig anzuheizen.
Jetzt wollte ich umso schneller in die Umkleidekabinen. Dort angekommen und umgezogen, wollte ich sofort auf die Strecke, bloß weg von dieser Musik, bevor mich dieser Ohrwurm noch den ganzen Tag verfolgen würde. Doch das war wohl leider schon zu spät.
Wir mussten nämlich noch zur Einschreibung und unsre Startnummern abholen. Anschließend fuhren wir uns auf der Zielgeraden warm, während die Musik weiterhin zu uns herüber schallte und sich in meinem Kopf einhämmerte. Es hörte sich alles gleich an.
„Hey, schau mal“, reif Sven plötzlich und winkte auf den Parkplatz hinüber. Dort befestigten gerade vier in hellblaue Trikots gekleidete junge Radler ihre glänzenden Rennräder auf je eine Rolle. Einige Augenblicke später begannen sie drauf los zu strampeln.
„Verdammt, warum haben die so ein Luxus?“, sagte ich.
„Die haben das nötige Kleingeld für so was.“ Die Antwort hätte ich mir auch so denken können.
Langsam aber sicher füllte sich der Startbereich. Sven versuchte mir noch mal deutlich zu machen, dass ich am besten auf seine Anweisungen hören solle und ich immer bei ihm fahren müsse. Er schien im Moment viel nervöser zu sein, als ich es war. Ja, ich war schon fast richtig entspannt. Mit so vielen Gleichgesinnten war ich noch nie auf einer Straße unterwegs gewesen. Auch, wenn es nur rund dreißig Fahrer waren, kam es mir vor, als würde das Feld hinter uns kein Ende nehmen. Ich beobachtete, wie unsre vier härtesten Gegner zusammen mit zwei Betreuern ihre Konstruktionen wegpackten und sich zu den anderen Fahrern gesellten – ganz am Ende.
Wir dagegen warteten in der zweiten Reihe auf den Startschuss. Auf der Bühne moderierte jetzt ein junger Mann das Geschehen, während sich einige Herren unter dem Transparent aufstellten und die letzten fünf Minuten für sich herunter zählten.
Sven unterhielt sich derweil mit einigen „alten Bekannten“. Ich war mal wieder überrascht und stolz zu gleich, dass die meisten respektvoll, ja fast ehrfürchtig mit Sven sprachen. Die meisten kannte er ja noch von der U17 Altersklasse her. Mit jedem verstand er sich prächtig, obwohl die meisten als Antwort auf das Tagesziel „...vor dir ins Ziel kommen...“ angaben und dabei verschmitzt lächelten.
„Das heißt, unsre vier blauen Engel werden heute letzter“, sagte Sven schließlich wenige Sekunden vor dem Startschuss. Die Spannung lag schon förmlich in der Luft.
Ich musste lachen. Da hob einer der Herren die kleine Pistole in die Höhe und der Knall ertönte. Sofort jagte mir die Erinnerung an das Stilfser Joch durch den Kopf. Ich erstarrte für einen kurzen Augenblick, in dem ich einige Positionen verlor und schon mal die ersten verständnislosen Blicke der anderen Fahrer erntete.
Ich versuchte jeglichen Gedanken an diesen schrecklichen Tag zu vertreiben. Meine Konzentration musste jetzt voll und ganz dem Rennen gelten!
Schließlich beschleunigte ich meinen Tritt und konnte wieder zu Sven aufschließen. Die große Gruppe fuhr geschlossen und ruhig. Vor uns ein Motorrad und hinter uns ebenfalls eins. Nach kurzer Zeit hatten wir den Stadtrand erreicht und der Beifahrer des vorne fahrenden Motorrads fuchtelte wie wild mit einer Fahne herum. Das signalisierte uns, dass das Rennen jetzt freigegeben wurde. Das Motorrad rauschte davon, doch erste Attacken blieben aus. Alle schauten sich an und die Geschwindigkeit nahm tatsächlich ab. Kaum ein Team war größer als drei Mann, wer hätte also das Tempo diktieren sollen?
Wer, wenn nicht sie: Die hellblauen Trikots zogen an mir vorbei und setzten sich an die Spitze. Sofort nahm das Tempo deutlich zu – ich musste aus dem Sattel gehen um der irren Beschleunigung zu folgen. Verdammt, das war doch die erste Runde!
Erst jetzt spürte ich, wie sehr die breite Straße doch anstieg. Es waren vielleicht nur drei oder vier Prozent, aber bei dem Tempo war das genug. Jetzt tauchten wir in den Wald am Seeufer ein. Das klare blaue Wasser funkelte unter uns. Die Sonne schien direkt in das Tal hinein und erleuchtete den gegenüberliegenden Berg. Er war nicht hoch, aber auf seinem Gipfel lag noch etwas Schnee.
Mit berauschenden 59 Stundenkilometern ging es eine kurze Abfahrt hinunter und dann direkt rechts ab auf die kleine Einbahnstraße um den See herum. Es glich einem Wunder, das in dieser Kurve bei dem Tempo keiner gestürzt war. Ich blickte mich um: Die Gruppe war endlos in die Länge gezogen worden, nein, sie war bereits auseinander gerissen!
Mittlerweile fuhr ich vor Sven weiterhin in der zweiten Reihe. Er machte einen hochkonzentrierten Eindruck und beobachtete den Kapitän der hellblauen – ich ging davon aus, dass er es war, denn er hatte sich bis jetzt noch nicht in die Führungsarbeit seiner Teamkollegen eingereiht.
Auf dem kleinen Weg um den See herum wirkte unsre Geschwindigkeit von rund 38 Kilometer pro Stunde noch viel schneller, als auf der breiten Bundesstraße zuvor. Es war richtig berauschend. Trotzdem zog sich die Runde endlos in die Länge und da ja noch der Anstieg und die Abfahrt bevorstanden lies meine Motivation schon mal ein ganzes Stück nach. Warum war ich bloß jetzt schon so kaputt?!
Nach zwanzig Minuten Fahrzeit hatten wir die Anfahrt des Berges erreicht. Völlig unerwartet nahmen die drei an der Spitze das Tempo komplett raus. Ich hatte das Gefühl zu stehen, obwohl wir immer noch mit 18 km/h schnell unterwegs waren. Schon jetzt war der Berg steil. Doch er wurde immer steiler und steiler und wir immer langsamer und langsamer. Keiner fühlte sich jetzt mehr für das Tempo verantwortlich. Das ging ungefähr 500 Meter lang so, dann blickte ich mich ganz unwillkürlich um. Mir blieb fast das Herz stehen, als ich sah, dass unsre Gruppe nur noch rund zehn Fahrer umfasste. Einige Meter weiter hinten, oder sollte ich wohl eher sagen, weiter unten, kämpften bereits sechs, sieben Jungs um den Anschluss. Noch weiter zurück bog gerade eine größere Gruppe um eine der Biegungen, welche die Straße hier im Wald machte, um die Steigung noch in Grenzen zu halten.
Ich wechselte in meinen drittkleinsten Gang. Der Tacho zeigte ernüchternde 15 Stundenkilometer. Ich fühlte mich etwas ausgelaugt, aber immerhin wohler, als auf der Tempojagd im flachen. Wenigstens hatte ich die Geschwindigkeit dort doch nicht unterschätzt.
Sven stupste mich an. Ich blickte noch einmal zurück und er nickte mir bloß zu. Sofort wusste ich, was zu tun war, obwohl ich mich im Moment überhaupt nicht in der Lage dazu fühlte eine Attacke zu setzen, probierte ich es. Heute würde ich mich also für Sven quälen, vielleicht zollte er mir das schon bald wieder zurück.
Ich schaltete also einen Gang hoch und beschleunigte gleichzeitig meinen Rhythmus im Sitzen. Schon war ich ein bis zwei Meter weiter vorne in der Gruppe und startete einen Zwischensprint ausgerechnet in der Kurve, nach der die größte Steigung auf uns wartete. Einer der hellblauen zuckte zusammen. Ich glaubte im Augenwinkel noch zu erkennen, wie er unglaubwürdig zu mir herüber schaute.
„Scheiße, ist das steil!“, dachte ich und keuchte gleichzeitig. Es hatte keinen Zweck ich musste runter schalten und suchte meinen Rhythmus aber wieder im Wiegetritt, denn ich blickte mich sofort um. Der Angriff hatte nämlich nur einen Zweck: Wer geht mit?
Die Antwort war einfach: Keiner.
Irgendwie überraschte mich das doch sehr. Die hellblauen Trikots mit ihren blauen Sonnenbrillen (ich trug ebenfalls so eine) machten nicht mal den Versuch auch nur eine Tempoverschärfung zu starten. Jetzt wusste ich natürlich überhaupt nicht was ich machen sollte. Durchziehen?
Ich suchte den Blickkontakt zu Sven und wackelte dabei wohl etwas zu provozierend mit meinem Hinterteil vor den anderen rum, sodass endlich einer der hellblauen reagierte. Doch das war noch überraschender, denn es war der, der bis jetzt noch gar nichts gemacht hatte. Er reagierte nicht nur, nein, er agierte. Er attackierte schon im etwas flacheren Abschnitt und hatte schnell das Loch von rund fünfzehn Metern zu mir geschlossen. Völlig unerwartet verharrte er nicht bei mir sondern beschleunigte weiter und zog vorbei. Intuitiv ging ich mit. Dabei lernte ich etwas: Gegenangriffe sind bei weitem nicht so schmerzhaft wie Angriffe. Mein Vordermann setzte sich wieder – ich mich auch. Sofort schaute ich mich um. Alle waren gefolgt, die Teamkollegen des Führenden natürlich als letztes, doch drei weitere Fahrer mussten dem Tempo Tribut zollen und waren bereits rund 50 Meter zurück. Der Abstand wuchs schnell an. Irgendwie taten sie mir ja leid – wie sie um jeden Zentimeter kämpften. Es ging in die Abfahrt und die hellblauen setzten sich, bis auf den, der gerade attackiert hatte, an die Spitze und zogen den Angriff durch. Die Belastung an der Gegensteigung war der Hammer!
Die drei abgehängten Fahrer sahen jetzt wirklich kein Land mehr. Wir sieben waren, als es endlich in die lange Abfahrt ging, wohl schon eine Minute voraus. Wie viel es zur der letzten größeren Gruppe war konnte ich nicht sagen – ich hatte sie schon seit einigen Minuten nicht mehr gesehen, doch auf dem kurven- und wellenreichen Kurs war das sowieso ein Ding der Unmöglichkeit.
In der Abfahrt war höchste Konzentration gefordert. Die Höchstgeschwindigkeit betrug ungefähr 65 km/h – ich wagte es kaum noch einen Blick auf den Tacho werfen! So schnell war ich noch nie mit meinem Rennrad unterwegs gewesen. So war es auch nicht verwunderlich, dass ich mich am Ende der Abfahrt an letzter Position befand.
Auch hier fiel mir erst jetzt auf, dass die Bundesstraße nach Immenstadt minimal anstieg. Hier würde man das Rennen mit einem kurzen Antritt also doch entscheiden können. Aber jetzt war daran noch nicht zu denken. Die vier hellblauen, Sven, ein unbekannter kleiner Fahrer und ich fuhren zügig gen Ziel. Nach den zwei Kreisverkehren im Ort befanden wir uns auch schon wieder auf der breiten geraden Straße – in der Mitte das Transparent. Die Stimme des Moderators drang kurz an mein Ohr. Noch etwas, was mir auf der Strecke gar nicht bewusst geworden war: Wenig Zuschauer. Zumindest war es mir nicht bewusst geworden, ob überhaupt jemand an der Strecke stand – zu groß war die Belastung. Doch hier war eindeutig mehr los.
Am Ende dieser langen Gerade – das Ziel hatten wir längst passiert – erreichten vier Fahrer unsre Gruppe. Immerhin hatten wir wieder ein humaneres Tempo angeschlagen. Zwei der vier „Neuen“ hatten vorhin noch an der Spitze des Trios gekämpft. Ich erkannte sie sofort wieder. Die anderen zwei waren mir heute noch gar nicht aufgefallen. Oder? War der eine nicht derjenige gewesen, der Sven als erstes begrüßt hatte? Ich konnte mich schon gar nicht mehr so richtig daran erinnern.
Die vier hellblauen, Sven und ich, waren die einzigen, die noch nicht separiert waren. Das spielte uns leider etwas Verantwortung zu, vor der wir uns aber geschickt drückten. Das nun angeschlagene Tempo war fast schon angenehm im Gegensatz zur ersten Runde. Zügig aber nicht mörderisch. Das führte wohl auch dazu, dass von hinten kein weiterer Fahrer mehr heran kam. Die Runde um den See verlief ruhig. Die hellblauen bestimmten das Tempo. Die Sonne wärmte mich sanft. In der Abfahrt hatte ich gespürt wie verschwitzt mein Trikot bereits war. Jetzt trocknete es fast. Oder hatte ich jetzt bloß meinen Rhythmus gefunden? Ging deshalb auf einmal alles so flüssig? Hatte ich mich wieder in einen „Rausch“ gefahren?
Immerhin waren wir jetzt schon eine Stunde unterwegs – die Hälfte war geschafft und der Berg rief jetzt zum zweiten Mal. Sven klemmte sich an mein Hinterrad und ich fuhr nach vorne an die fünfte Position hinter den hellblauen. Der vor mir machte nicht mehr so einen fitten Eindruck – er war es, der auf der ersten Runde dieses Höllentempo auferlegt hatte. Er trug als einzigster der vieren eine dunklere Sonnenbrille – keine strahlend blaue – wie ich. Wir bogen nach links ab. Es ging leicht hinauf zur Kreuzung der Hauptstraße. Die vier rissen ein kleines Loch zu mir, sodass ich aus dem Sattel gehen musste um den Anschluss zu halten. Eine erneute Tempoverschärfung?
Der vor mir torkelte ein wenig wie Cadel Evans den kurzen Hügel hinauf – die Kreuzung war breit, doch sie hatten sich ausgerechnet die Stelle ausgesucht, wo in der Kurve noch ein wenig Streugut vom Wintereinbruch der letzten Tage lag. Es passierte blitzschnell! Mein Vordermann fuhr so abrupt um die Ecke, dass das Vorderrad auf den kleinen Kieselsteinen weg rutschte. Er schlug mit der Schulter auf, so schnell lag er auf dem Asphalt. Zum Glück hatten sie das kleine Loch gerissen, denn so konnte ich noch rechtzeitig ausweichen. Von meiner eigenen Reaktion überrascht, steuerte ich zunächst auf die Absperrung zu. Als ich merkte, dass das nicht gut gehen würde, legte ich eine weitere Kurve ein, was sich auf dem abschüssigen Gelände als ziemlich schwierig herausstellte und fuhr wieder in die richtige Richtung. Ich hatte unglaublich viel Tempo verloren und musste runter schalten. Meinen Nachfolgern ging es nicht besser – Sven hatte sich ja zum Glück an mein Hinterrad geheftet. Außer dem hellblauen war keiner gestürzt. Ich blickte zurück. Er wälzte sich am Boden. Er tat mir plötzlich so Leid.
„Scheiße!“, rief einer seiner Teamkollegen. Er schien hin und hergerissen, ob er weiterfahren oder doch lieber warten solle.
Mit ungefähr 10 km/h kroch die Gruppe die ersten Meter des Anstiegs hinauf. Wir waren alle betroffen. Drei Hobbyradler waren zu dem Gestürzten gespurtet und kümmerten sich um ihn. Jetzt gesellte sich endlich auch ein Ordner dazu. Daraufhin wendete ich meinen Blick wieder nach vorne. Die verbliebenen drei hellblauen nahmen das Rennen und somit auch das Tempo wieder auf – einer von ihnen schüttelte den Kopf.
Sven blickte über den See. Auch ich erkannte unten am Seeufer eine Gruppe von vier Fahrern. Weit weg waren sie. Dann verdeckten uns die ersten Bäume die Sicht und als sich der Blick wieder öffnete, befand sich die größere Gruppe erst an der selben Stelle. Der Sieger des Rennens dürfte also aus unsrer Gruppe kommen. Den Sturz unseres Kontrahenten mussten wir jetzt einfach vergessen – vor allem in der letzten Runde, wenn wir die selbe Stelle noch einmal passieren würden.
Diesmal geschah am Berg schlicht und einfach nichts. Einer der hellblauen diktierte das Tempo – die zwei hinter ihm rutschten zwar ungeduldig hin und her, als wäre ihnen das Rennen zu langsam oder die Angst vor der Verfolgergruppe würde gleich zur Qual werden, doch sie blieben im Sattel sitzen. Die zweite Runde wirkte fast wie eine Erholungsphase, in der alle ihre Tanks für die letzten 23,5 Kilometer füllten. Mir ging es auf jeden Fall so, doch ob sich die Übersäuerung auf der ersten Runde bei einer neuen Belastung bemerkbar machen würde, war eine andere Frage, die ich mir schon so oft mit „Ja“ beantworten musste. Diesmal sollte es wohl nicht anders kommen.
Auf der Strecke befanden sich jetzt schon deutlich mehr Zuschauer. Das Wetter wurde dazu auch noch immer schöner. Die letzten Nebelfetzen waren komplett verschwunden und der Himmel erstrahlte in einem herrlichen blau. Es war richtig warm – fast schon erdrückend heiß. Unter dem Beifall von geschätzten fünfhundert Zuschauern am Bahnhof passierten wir zum zweiten und letzten Mal das Ziel, ohne alle Karten auf den Tisch zu legen. Beim nächsten Mal würde das mit Sicherheit anders kommen.
Zehn Fahrer, also ein Drittel aller Teilnehmer, hatten noch eine Chance den Sieg zu holen – auf dem letzten Drittel des Rennens. Und wahrscheinlich würde es jetzt erst recht einer der hellblauen werden – einer dieser dreien. Die Zahlen sprachen für sie.
In Immenstadt und auf dem ersten Teil der Bundesstraße passierte weiterhin wenig. Die hellblauen machten immer noch das Tempo, welches bei weitem zu keinem Ausscheidungsverfahren genügt hätte.
Doch dann machte ihr Kapitän ernst. Es war wohl tatsächlich der, der in der ersten Runde am Berg attackiert hatte. Er tippte seinem Vordermann auf die Schulter – sie wechselten kurz ein paar Worte – der vordere nickte und rief dem ersten in der Reihe etwas zu. Obwohl ich an vierter Position fuhr, verstand ich aufgrund des Fahrtwindes kein einziges Wort. Doch deren Bedeutung wurde mir schnell klar. Zwar war das Tempo nicht ganz so hoch wie auf der ersten Runde, doch mit der nun einsetzenden Ermüdung mindestens genauso hart.
Allerdings war ich diesmal darauf gefasst und beschleunigte schon im Sitzen den kleinen Hügel in den Wald hinauf. Oben blickte ich zurück und sah den letzten Fahrer der Gruppe in Schwierigkeiten. Es ging wieder über dem See am Hang entlang. Dann folgte die kurze Abfahrt und die scharfe Kurve. Zum letzten Mal befanden wir uns auf der anderen Seite des Alpsees. Das Tempo war enorm. Doch ich hielt im stand. Es ging mir viel besser, als auf der ersten Runde. Ich schien mich tatsächlich in einen Rausch gefahren zu haben. Nicht so der letzte Fahrer der Gruppe. Er musste reisen lassen. Damit waren es also nur noch neun: Drei hellblaue, Svens alter Kumpel, drei unbekannte Fahrer, Sven selbst und ich. Wir vom RC Weißenhorn fuhren direkt hinter den hellblauen von Immenstadt. Sie kannten die Strecke in und auswendig und wussten genau, wo dem Gegner eine Attacke am schmerzhaftesten war.
Wir erreichten die Sturzstelle. Von den Ereignissen, die nun rund vierzig Minuten zurück lagen, war nichts mehr zu sehen. Die Kieselsteine in der Kurve waren sogar bei Seite gekehrt worden, wahrscheinlich wegen dem Eliterennen morgen, und so stand einem spannenden Finale nichts mehr im Wege.
Ich sollte es ganz entscheidend mit prägen. Diesmal fühlte ich mich dazu in der Lage. Der an der Spitze fahrende hellblaue machte Tempo – so wie er fuhr, war er am Limit. Ich fand den perfekten Gang für die ersten Meter des „Zaumberges“ – das Schild war mir erst jetzt ins Auge gesprungen – und setzte mich wie besprochen an die Spitze der Gruppe. Ungefähr zwei Stundenkilometer war ich schneller, als der führende hellblaue, der sofort nachgab, den Kopf schüttelte und sich zurück fallen lies – der war fertig. Aber das würde ich auch gleich sein. Jetzt diktierte ich nämlich das Tempo. Ja, ich! Ich diktierte bei einem offiziellen Rennen das Tempo!
Als mir das durch den Kopf schoss, schienen mir aus den Schulterblättern Flügel zu wachsen – das Tempo war mir zu langsam und ich legte noch einmal zu. Mein Tacho zeigte 18, 19, 19,5 und dann 20 Kilometer pro Stunde!
Jemand keuchte hinter mir. Sven war es nicht – es konnte nur der letzte Tempomacher der hellblauen sein. Das leise „fuck“ verlieh mir nur noch mehr Genugtuung und damit Energie. Ich zog voll durch und flog dem steilsten Stück förmlich entgegen. Ein paar Zuschauer klatschten begeistert – ein Hobbyradler lachte sogar als er mich vorbei rasen sah. Es war wie ein Traum! Meine Oberschenkel brannten – und wie! Ich war jetzt am Limit und mein Tacho zeigte 21 Stundenkilometer! Jetzt war ich wieder in der Ekstase des Stilfser Jochs. Diesem unheimlichen Geschwindigkeitsrausch. Zum ersten Mal seit Monaten kam mir dieser Alpenpass wieder positiv in Erinnerung. Welche Erfahrungen ich dabei gemacht hatte – diese Glücksgefühle der absoluten Kontrolle über das Renngeschehen!
Ich glaubte ungefähr fünfzig Meter vor mir Jörg Jaksche radeln zu sehen. Mein Rhythmus war noch nie so flüssig gewesen wie heute. Ich kam immer näher an den virtuellen Jaksche heran, ja, ich schoss gerade so an ihm vorbei. Ich nahm allen Schwung mit und bog um die nächste Kurve – doch das hatte ich ganz vergessen! Es warteten ja noch einmal die fünfzehn Prozent auf mich!
Ich schaltete runter – ich kam runter – ich musste mit dem Rest an Energie haushalten. Ein Blick zurück gab mir ein Fünkchen Hoffnung: Ich hatte bereits ein kleines Loch gerissen – fünf Meter – die zwei hellblauen mit gequälten Gesichtern an der Spitze – ein unbekannter Radler am Ende der Gruppe lag bereits einige Meter zurück. Meine Tempoverschärfung hatte also was gebracht!
Ich drehte mich wieder nach vorne. Und da hörte ich etwas hinter mir klicken – es summte – ein Ruf – ein Zuschauer klatschte einem anderen Fahrer zu – er war neben mir – er rauschte an mir vorbei! Es war Sven!
„Danke dir“, keuchte er, als er an mir vorbei jagte. Seine Stimme war nicht mehr als ein leises Krächzen, dennoch hatte ich die Worte deutlich vernommen. Damit war meine Arbeit getan. Jetzt konnte ich das Rennen für mich zu Ende fahren.
Doch da schoss noch einer an mir vorbei – und noch einer – der beutelte sein Rad aber schon arg hin und her. Es waren zwei unbekannte Fahrer. Ich lies mich zurück fallen. Jetzt war ich in der Gruppe mit den zwei hellblauen und Svens alten Kumpel. Der dritte unbekannte – der kleine – war jetzt noch weiter zurück gefallen – zwanzig Meter – der kommt nicht mehr zurück – jetzt schüttelte er den Kopf – das war’s für ihn.
Der vordere hellblaue opferte sich jetzt für seinen „Kapitän“ auf. Er schien keinen guten Tag erwischt zu haben. Wenn ich mir seine Attacke aus der ersten Runde jetzt noch einmal durch den Kopf gehen lies, dann wurde mir so einiges klar. Auch er hatte damals nicht gut ausgesehen. Er hatte kurz den Kopf geschüttelt. Und hatte relativ unrhythmisch in die Pedalen getreten. Durch meine Tempoverschärfung und Svens Angriff war er jetzt komplett eingebrochen. Und sein „Helfer“ sah auch nicht besser aus: Der gab sein letztes.
Jetzt wusste ich auch, warum die beiden, mit denen sich Sven jetzt sechzig, siebzig Meter vor uns in Form von kleinen Attacken herumstritt, nicht sofort reagiert hatten. Sie wollten sehen, ob der hellblaue mitgeht. Sven war ja kein unbeschriebenes Blatt. Da hätte der Immenstädter eigentlich schon mitgehen müssen, doch er hatte es nicht getan. Er hatte es nicht gekonnt. Der Sieg würde so also nur über Svens Gruppe gehen. Doch dorthin würden die Immenstädter nicht mehr kommen. Der letzte Helfer schüttelte den Kopf und nahm sprichwörtlich die Beine hoch. Ungläubig, ja fast vorwurfsvoll schaute ihm sein Kapitän hinterher. Jetzt musste er es selbst regeln. Ich fuhr in seinem Windschatten über die Kuppe, die kurze Abfahrt hinunter und die Gegensteigung hinauf. Hier griff Svens alter Kumpel an: Der Genickschlag für den hellblauen. Ich lies ihn stehen und versuchte Svens Kumpel zu folgen. Doch er schien noch so stark zu sein, um zu der Spitzengruppe aufschließen zu können. Ich versuchte dran zu bleiben, doch bevor der höchste Punkt der Strecke erreicht war, stagnierten meine Beine völlig und ich lies ihn ziehen.
Stattdessen schaute ich mich um: Der vorhin zurückgefallene Fahrer hatte bereits zu dem ersten Immenstädter aufgeschlossen. Doch sie waren weit zurück. Der zweite Immenstädter war nur wenige Meter von mir entfernt. Ich beschloss auf ihn zu warten, um in der Abfahrt und auf den letzten Kilometern einen Begleiter zu haben. Er hätte mich wahrscheinlich sowieso noch geholt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er das Rennen tatsächlich schon aufgegeben hatte.
In der Mittagssonne konnte ich Svens Trikot am Waldrand verschwinden sehen. Es waren wohl doch schon dreißig Sekunden Differenz. Ich schaute auf die Uhr meines Tachos. Meine Schätzung war gar nicht so schlecht. 26 Sekunden waren es, die mir zur Spitze fehlten.
In der Abfahrt überlies ich meinem Gefährten die Verantwortung. Er ging volles Risiko und ich hielt einen gebührenden Respektsabstand, verlor aber zu meiner eigenen Überraschung den Anschluss nicht. Mittlerweile hatte ich mein Rad gut unter Kontrolle. So sehr wie heute, würde ich mich nie wieder weiterentwickeln können – in jeder Hinsicht, das war mir klar. Trotzdem war das Rennen schon jetzt ein voller Erfolg für mich. Auch wenn ich jetzt nur noch ins Ziel kommen wollte, um den Strapazen ein Ende zu setzen.
Wir bogen auf die Bundesstraße ein. Hier konnte man, wie ich es erwartet hatte, tatsächlich alles gut überblicken: Ganz, ganz weit vorne kämpfte ein einsamer Radler gegen den Wind – dann kamen seine zwei Verfolger – Svens rotes Trikot konnte ich dort erkennen – und, was mich völlig baff machte: Svens Kumpel war nur noch wenige Meter von dem Verfolgerduo entfernt.
Schließlich lief vorne alles zusammen. Vier Fahrer an der Spitze und auf dem leicht ansteigenden Terrain gab es immer wieder Angriffe. Ich konzentrierte mich fast mehr auf Svens Rennen als auf meins, doch dann waren die vier zwischen den Häusern verschwunden. Ich stoppte wieder die Zeit: 18 Sekunden!
Mein Begleiter machte die ganze Arbeit alleine – ich hatte ja keinen Grund dazu zu führen, aber er machte seine Sache wirklich gut. Obwohl er die Zeit eher in der Abfahrt herausgeholt haben dürfte, aber das konnte ihm ja egal sein. Zum Sieg konnte es auf jeden Fall nicht mehr reichen, denn wir passierten gerade das Schild am Straßenrand, welches die letzten 1000 Meter ankündigte.
Mich interessierte jetzt eher das Geschehen hinter uns: Ungefähr fünfzig Meter fehlte dem Duo, obwohl der hellblau dort genauso wenig tat wie ich hier. Noch weiter hinten, um genau zu sein, in unerreichbarer Ferne glaubte ich den Fahrer zu erkennen, der noch vor dem letzten Berg abgehängt worden war. Vom Rest des Feldes fehlte noch jede Spur.
Wir beide passierten jetzt die zwei Kreisel und die letzte Kreuzung an der Bahnlinie. Die Zielgerade lag vor uns und wir fuhren unter dem Fußgängerüberweg hindurch. Es folgte der leichte Rechtsknick am Bahnhofsgebäude vorbei und die letzten zweihundert Meter mit Transparent lagen vor uns!
Der Sprint wurde von meinem Kontrahenten entfacht. Er wurde gebührend empfangen und wollte sich hier keine Blöße geben. Zunächst war ich überrascht, wie viel Energie immer noch in ihm steckte, doch ich gewann schließlich Meter um Meter in seinem Windschatten zurück und zog auf den letzten vierzig Metern an ihm vorbei – es fehlten nur noch ein paar Zentimeter – dann hatte ich ihn geschlagen und jubelte wie über einen Sieg!