Im siebten Himmel

FIKTIVE Radsport-Geschichten von Usern, die sich für schreibtalentiert halten

Moderator: Grabba

Fus87
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Beitrag: # 6742381Beitrag Fus87
28.10.2008 - 23:33

Ich lese den AAR auch von Anfang an - und habe keinen Beitrag dazu geschrieben, da die Kritikpunkte, die mir einfielen, von anderen schon angesprochen wurden.

Schöne Geschichte; mach weiter so!
Und wenn es mir nicht mehr gefällt, melde ich mich. ;)

Andy92
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Beitrag: # 6742400Beitrag Andy92
29.10.2008 - 8:05

Ja, passt schon, Leute. :D
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Andy92
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Beitrag: # 6742520Beitrag Andy92
29.10.2008 - 22:18

In der letzten Woche der Weihnachtsferien herrschte wunderschönes Wetter. Es war zwar eisig kalt mit zum Teil unter null Grad, doch dafür schien mir beim täglichen Training stets die wärmende Sonne von einem tiefblauen Himmel herab auf den Kopf. So glücklich wie in dieser Woche hatte ich mich noch nie auf dem Rad gefühlt. Es lief einfach grandios!
Nicht nur das Rad, nein, auch mein Körper schien neue Kraft getankt zu haben und leistete plötzlich viel mehr als je zuvor. Ich hatte kräftig an Ausdauerfähigkeit zugelegt, die mir sowieso schon in den Genen lag, doch jetzt stellten relativ entspannt gefahrene Workouts von 100 Kilometern kein Problem mehr dar.
Auf sehr langen Distanzen und auf Ausfahrten um die Vier-Stunden-Marke herum, konnte ich mich in einen richtigen Rausch fahren. Am Ende zog ich den üblichen Schlussanstieg im Ort hinauf, als wäre ich gerade erst losgefahren. Was für ein atemberaubendes Gefühl zu merken, wie der eigene Körper jeden Tag ein bisschen besser wird!
Doch nicht nur das. Auch meine täglichen Liegestützen und Klappmesser erzielen mittlerweile sichtbare Ergebnisse. Dabei muss ich aber aufpassen, nicht zu viel unnötige Muskelmasse aufzubauen. Doch ein „angedeutetes“ Sixpack und ein bisschen mehr Bizeps sind für die Optik doch sehr hilfreich.
Wahrscheinlich mache ich das sowieso nur für dieses eine Mädchen. Sicherlich stellt sie auch einen Teil der Trainingsmotivation dar, denn irgendwo verfolge ich doch auch das Ziel, sie mit meinen Leistungen zu beeindrucken. Ich konnte es kaum erwarten sie wieder zu sehen – einfach nur zu sehen und mich in ihrem hübschen Antlitz zu verlieren....Für mich war es wohl jetzt schon Frühling.
Tatsächlich konnte die warme Jahreszeit gar nicht schnell genug kommen – ich wollte endlich wieder mit kurzer Hose und Trikot trainieren, doch bis dahin war es noch sehr lange hin. So genoss ich noch das schöne Wetter und freute mich doch tatsächlich auf das Ende der Ferien – oder sollte ich besser sagen – auf Christine?
Schon seit Tagen trug ich jetzt ein kleines schlummerndes Kribbeln in meinem Bauch herum, dass sehnsüchtig nach der Erlösung suchte – heute sollte es soweit sein. Doch aus dem süßen Kribbeln wurde eine wilde Bestie, ein Ungeheuer, ein wütender, brüllender Löwe, der sich ohne zu zögern auf seine Beute gestürzt hätte, wenn da nicht sie selbst gewesen wäre und alle Rachepläne zu Nichte gemacht hätte...
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Andy92
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Beitrag: # 6742525Beitrag Andy92
29.10.2008 - 22:29

10.Kapitel - Trainingseinbruch = Liebeskummer?


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Andy92
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Beitrag: # 6742597Beitrag Andy92
30.10.2008 - 16:56

Betäubt. Die ganze Motivation war dahin. Ich fühlte mich leer und ausgelaugt. Nichts ging mehr. Schon wieder musste ich einen Tiefschlag in meinem Leben hinnehmen. Doch an den Hürden, die einem in den Weg gelegt werden, wächst man – das war das einzig Positive, was ich aus der jetzigen Situation ziehen konnte.

Christine war mit einem anderen zusammen. Blonde kurzgeschnittene Haare, braun gebrannte Haut um einen stählernen Körper – mit ziemlicher Sicherheit empfand sie ihn auch noch hübscher und intelligenter als ich.
Das Gefühl dieser scheußlichen Enttäuschung lies mich nicht mehr los. Dieses Stechen, als hätte jemand ein Messer in meinen Bauch gerammt, zeriss mich jedes Mal, wenn ich die beiden sah – meistens wild küssend. Ich kannte ihn nicht – er war auch nicht in unserem Jahrgang. Mindestens in der elften oder zwölften Klasse, als noch ein G9-ler. Störte es sie nicht, dass er viel größer war als sie? Nein, daran ergötzte sie sich auch noch und lächelte mit ihrem herzzerreißenden süßen Blick in seine Visage hinauf.
Mittlerweile war ich mir ziemlich sicher, dass sie mich nur als einen Kumpel betrachtete, über dessen Witze man lacht, der hilfsbereit ist, ein wenig schüchtern ist, und über den man lachen kann.
Jeden Tag versuchte ich durch kleine Zeichen ihre Aufmerksamkeit zu erlangen – jeder Blickkontakt lies mein Herz schneller schlagen. Mehr traute ich mich einfach nicht. Es blieb mir eigentlich nichts anderes übrig, als auf das Ende dieser Scheinbeziehung zu warten – mehr war das auch nicht. Wenn ich es recht bedenke, dann schwärmte sie nicht einmal von ihm, nein, sie sprach eigentlich kaum von ihm und wenn sie einer der anderen mal wieder mit „Chrissie hat nen Freund!“ aufzog, dann entgegnete sie nur ein müdes „Ja, ja.“
Ich hatte noch lange nicht aufgesteckt und wartete einfach auf den Tag, an dem es passieren würde. An dem Tag, wenn sie mich mit anderen Augen betrachtet – ein langer, bedeutsamer, tiefgründiger Blick, eine Umarmung, ein...
Ich hatte wohl schon zu viel Fernsehen geschaut. So ein Happyend gibt es wohl nur in den Köpfen der Drehbuchautoren, aber wohl kaum, in irgendeinem realen Leben und dann schon gar nicht in meinem.

Doch die ganze Sache hatte noch weitaus schlimmere Folgen. Ein Trainingseinbruch. Die zweite Ausfahrt mit dem Verein fiel im wahrsten Sinne des Wortes komplett ins Wasser – ich schob es auf das Wetter.
„Bei fünf Grad und Dauerregen fährt es sich nun mal nicht so gut.“ Dabei war meine einzige Schwäche der Wind, da ich kaum Masse entgegensetzen konnte.
Sven und die anderen hatten nicht schlecht geschaut, als ich an einem eigentlich einfacheren Hügel komplett einbrach – es war zu Beginn des dritten Drittels der 120-Kilometer-Fahrt – danach ging gar nichts mehr. Später fuhr ich auf Rat der anderen nach Hause – auch die Trainingsbibel hatte mich das gelehrt – auf meinen Körper zu hören und der sagte nur noch: „Christine hat nen anderen! Brich in Trauer aus!“

Aber schließlich hatte ich mich wieder gefangen. Es war am Samstag vor dem Beginn der Tour Down Under in Australien gewesen. Während die Profis in die neue Saison starteten, dachte ich ein paar Stunden über meine Situation nach, und kam zu dem Schluss, dass es so einfach nicht weitergehen konnte. Ich schöpfte neue Motivation, indem ich mir immer wieder einredete, weiterhin für sie zu fahren, sie zu beeindrucken, sie zu erobern – und das obwohl sie mich noch nie hat fahren sehen – ja tatsächlich, eigentlich wusste außer meiner Mutter, Jörg und die Leute im Verein, keiner von meinem neuen Hobby. Ich wollte meine Freunde überraschen. Anfang August stand ein Kriterium in Weißenhorn an, dorthin würde ich sie einladen – sie sollten mich siegen sehen. Zum ersten Mal in meinem Radsportlerleben hatte ich ein konkretes Rennen, also ein Ziel vor Augen, auf das ich mein Training in diesem Jahr voll auslegen werde. Die Trainingsbibel wird mir dabei helfen.
Das langfristige Ziel heißt natürlich immer noch Profi zu werden, doch durch viele kleine Erfolgsstufen mache ich mir diesen Weg mit Sicherheit leichter, interessanter und erfolgsversprechender, und vor allem – erreichbarer.

Jörg war über meinen plötzlichen Leistungseinbruch gar nicht begeistert. Er hatte schon zuvor
mit einem Scout von Gerolsteiner über mich gesprochen – was das wieder für ein Herzklopfen bei mir verursachte! Doch das Gespräch ging im Großen und Ganzen nur darum, dass ich bei der richtigen Entwicklung in ein paar Jahren für einen Profivertrag in Betracht kommen könnte. Auf alle Fälle sollte ich vielleicht dieses Jahr schon bei den deutschen Meisterschaften teilnehmen, damit mich die Leute auch mal fahren sehen. Aber dazu wollte Jörg erst mal meine Rennleistungen beobachten. Es könnte ja durchaus sein, dass ich absolut kein taktisches Verständnis hätte und so weiter und so fort.
Ich wunderte mich immer wieder woher Jörg die Motivation nahm, sich so um mich zu kümmern – war ihm langweilig? War ich tatsächlich so talentiert? Er sagte das, in meinem Verein sagte das jeder, also musste doch auch was dran sein, oder?
Wenigstens war keine von ihnen auf die Idee gekommen, dass mein Einbruch vielleicht mit dieser Christine zusammenhängen könnte – es wussten ja auch nur Jörg und Sven von meiner großen Liebe. Doch beide hatten die Beschwerden auf dem Rad als „...völlig normal. So was kommt halt mal vor, trotzdem ist es...“ abgestuft.
Aber jetzt konzentrierte ich mich wieder auf mich selbst und nicht mehr so sehr auf Christine – noch einmal würde mir keine Frau das Herz so sehr brechen wie sie. Doch seltsamerweise mochte ich sie immer noch so sehr – es lag ja auch nicht an ihrem Handeln. Sie konnte ja gar nichts dafür.
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Time2Play
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Beitrag: # 6742628Beitrag Time2Play
30.10.2008 - 19:21

Ach vergiss diese Frau und werd Profi 8)
<b>Sattlerei Ski-Challenge Gesamtweltcupsieger und Weltmeister 2008/2009</b>

Andy92
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Beitrag: # 6742936Beitrag Andy92
1.11.2008 - 23:01

11.Kapitel - Ein Hauch von Frühling

„Grüß dich, Andreas.“
Ich erkannte die Stimme sofort.
„Hi! Mensch, Jörg, ich hab schon gedacht, du wärst beim Training in den Straßengraben gefahren und ich würde nie wieder was von dir hören.“
Er lachte herzhaft, doch nicht so überschwänglich wie bei unserem letzten Telefonat.
„Ja, ja. Ich hab in den letzten Wochen eigentlich ständig trainiert und musste mich um dieses und jenes kümmern...aber jetzt hab ich ja endlich mal wieder Zeit gefunden dir ein paar Neuigkeiten preis zu geben – rat mal wo ich gerade bin.“
„Hm. Wenn du schon so fragst, dann bist du sicherlich bei einem Radrennen.“
„Richtig. Weißt du auch wo? Wenn du’s wissen solltest, dann schenk ich dir nen Fahrradcomputer zum Geburtstag.“
Sein breites Grinsen huschte an meinen Augen vorbei. Was führte er bloß schon wieder im Schilde?
„Ähm, ich hab keine Ahnung, ehrlichgesagt.“
„Tja. Dann musste dir halt selber einen kaufen“, er lachte ein wenig. Auf mich machte er mittlerweile vielmehr den Eindruck eines Teenagers im Körper eines längst erwachsenen Mannes. Da wusste ich es! Wie ein Geistesblitz jagte die Erkenntnis durch meinen Kopf. Jetzt wusste ich, warum Jörg Jaksche immer wieder den Kontakt zu mir sucht: Er sucht den Kontakt zur Jugend. Vielleicht will er auch einfach noch mal den Aufstieg eines jungen Radsportlers durchleben – einer, der möglicherweise erfolgreicher wird als er selbst? Will er seine Erfahrungen an die nächste Generation weitergeben, damit er am Ende sagen kann: „Ohne mich, wärst du nie so weit gekommen“?

„Also, ich bin hier in Toulon an der Côte d’Azur. Und zwar endete die dritte Etappe der Mittelmehrrundfahrt auf dem Hausberg der Stadt – auf dem Mont Faron. So, und jetzt rat mal auf welchem Platz ich gelandet bin.“
„Das ist dein erstes Rennen seit gut einem Jahr, oder?“
„Ja, so ungefähr haut das hin.“
„Lass mich mal überlegen...Wenn ich optimistisch bin, dann würde ich sagen: Achter.“
„Fast. Zehnter. Vor mir Bernhard und Davide wurde dritter. Wir sind dieses Jahr echt stark! Gestern hat der eine von den Fothen Brüdern – der, ach ich verwechsle die immer, ich glaub...“
„Markus, wenn’s ne Rundfahrt war, oder?“
„Ja, genau. Er wurde zweiter auf Mallorca. Ganz knapp. Fünf Sekunden haben gefehlt. Und bevor ich’s vergesse: Robert hat gestern auch noch die Etappe bei uns in Frankreich gewonnen! Also, wenn das so weiter geht, dann räumen wir bei Paris-Nizza ganz schön ab. Vom Rest der Saison will ich gar nicht erst anfangen. Also, wenn Hans da keinen Sponsor findet...“
„Sag doch so was nicht! Das wäre echt schade, wenn er keinen finden würde.“
„Ich glaub, da wünscht sich wohl jemand unter Hans-Michael Holczer höchstpersönlich zu fahren, hab ich Recht?“
Seine Stimme strotzte bloß so vor Ironie. Die Frage verunsicherte mich.
„Also, eigentlich...ist es schon ein Traum von mir.“
„Da wirst du dich aber anstrengen müssen. Nichts gegen dein Talent, aber das sind schon hochgesteckte Ziele.“
„Ich weis. Trotzdem werde ich alles daran setzen sie auch zu verwirklichen.“
„Na, das ist doch mal ein Wort. Hört sich ja fast schon an, als würdest du täglich zwanzig Interviews geben.“
Ganz unwillkürlich musste ich grinsen.
„Wie läuft’s eigentlich beim Training? Wieder gefangen?“
„Ja. Ich glaub schon. Hab mal lieber eine Woche Pause eingelegt, weil ich dachte ich könnte im Übertraining sein, aber das hat wohl nicht gestimmt, denn es geht plötzlich fast wieder so gut, wie in den Weihnachtsferien.“
„Was war denn der Grund?“
Mir stockte der Atem. Darüber wollte ich eigentlich nicht sprechen. Sofort blockierte die Angst, oder die Panik – ach, was auch immer es war – es blockierte jeglichen vernünftigen Gedanken und es entstand eine kurze, aber peinliche Pause – wie so oft wollte mir in solchen Situationen keine Ausrede einfallen.
„Hat dich der Anblick deiner Lehrer erschreckt, oder warum hat es dir plötzlich die Sprache verschlagen?“
„Ähm, eigentlich hab ich keine Probleme in der Schule, also von den Noten her.“
Wie kann man nur so blöd sein?! Hätte ich doch bloß „Ja“ gesagt, aber stattdessen lenkte ich Jörgs Gedanken punktgenau in die Richtung der Wahrheit – also in die falsche Richtung.
Er schien kurz zu überlegen und da ich seine Cleverness zu schätzen wusste, entsprach seine Antwort voll und ganz meinen Befürchtungen – das hatte ich mir mal wieder schön selbst eingebrockt.
„Ah! Ich weis schon was dein Problem war – oder ist: Ein soziales. Es sieht verdammt gut aus, ist ungefähr so alt wie du, ist weiblich und trägt den Namen: Christine!“
„Ja, genau“, merkte ich mit beiläufigem, ja fast, abfälligem Tonfall an.
„Oh. Sie hat sich über die Ferien wohl nen anderen geangelt – das tut mir natürlich Leid für dich, aber da wirst du drüber weg kommen – bist doch ein Kämpfer!“
„Aber sicher doch. In ein paar Wochen gefällt sie mir wahrscheinlich schon gar nicht mehr“, meinte ich, aber so ganz überzeugt klang das natürlich nicht – ich bin kein guter Schauspieler. Doch Jörg schien nichts bemerkt zu haben – vielleicht war er das Thema inzwischen ja auch so Leid, wie ich es war.
„Hm. Das ist normal in dem Alter.“
„Da magst du Recht haben“, lachte ich vergnügt in die Sprechmuschel hinein. Als Liebesberater war ein relativ anonymer älterer Kumpel gar nicht mal so schlecht.
„Aber die Erfahrungen darfst du mal ruhig selbst machen – ich bin ja nicht dein Datedoctor...“, entgegnete Jörg als hätte er meine Gedanken lesen können.

Uns wollte nichts mehr einfallen, über was wir sonst noch hätten plaudern können, also verabschiedeten wir uns wieder von einander. Jörg versprach mir, mich nach jeder Etappe der „Fahrt zur Sonne“ anzurufen – ich würde mir das Rennen auf jeden Fall im TV anschauen und Jörg anschließend löchern, wie es ihm an dem jeweiligen Tag ergangen sei.
Ich konnte die neue Saison kaum erwarten. Hoffentlich übertrifft sie in Punkto Spannung die letzte. Dennoch würde ich die Radrennen im Fernsehen mit ganz anderen Augen verfolgen – Fahrstile kopieren, taktische Schlüsse ziehen – es gab so vieles, was ich endlich wissen wollte – ja musste.
Der neunte März sollte also ein ganz besonderer Radtag werden. Zum einen werde ich mein erstes Rennen bestreiten und zum anderen, würde Jörg hoffentlich eine erfolgreiche Rückkehr in den absoluten Profiradsport feiern. Ich konnte diesen Tag kaum abwarten.
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Andy92
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Beitrag: # 6743110Beitrag Andy92
2.11.2008 - 21:33

Schon allein diese Woche sollte sich endlos in die Länge ziehen. Das lag nicht nur an der Vorfreude auf Paris-Nizza, nein, am Samstag stand die dritte Trainingsausfahrt mit dem Verein an. Gleichzeitig war es die vorletzte, vor dem Kriterium im Allgäu am 9.März. Doch es sollte noch besser kommen.

Endlich hatte ich diese Woche hinter mich gebracht. Es war Samstag Mittag und ich wartete am Turnhallenparkplatz auf die anderen – Sven war schon vor mir da gewesen. Dieser Bursche ist wirklich unheimlich motiviert und vom Perfektionismus fast noch besessener als ich es bin. Wenn er so weiter macht, dann könnte er in ein paar Jahren einem Lance Armstrong in besten Jahren in Sachen Trainingsfleiß wirklich Konkurrenz machen – sofern Sven Profi wird. Aber eigentlich kann ich mir bei ihm gar nichts anderes vorstellen. Er hat sein Leben auf den Radsport ausgerichtet und das wohlgemerkt schon seit fast einem Jahrzehnt. Ich zollte ihm für seine Leistungen und Erfolge, die er bereits eingestrichen hat, wirklich großen Respekt, aber dennoch ist er ein richtig guter Kumpel geworden. Er ist zwar ein Perfektionist, aber zum Glück nicht vom Sport allein besessen.

„Wenigstens scheint heut die Sonne“, meinte ich, nachdem wir in ein längeres Schweigen gefallen waren.
„Ja, schon“, entgegnete er knapp. Er schien heute schlechte Laune zu haben.
„Ich hab mich in den letzten Tagen echt gefangen.“
Ich versuchte ihn aufzuheitern. Doch mit meinen persönlichen Erfolgen zu prahlen, erwies sich als äußerst kontra produktiv.
„Hm“, war das nächste, was ich aus seinem Mund vernahm.
„Sven?“
„Ja, was gibt’s?“
„Is was passiert, oder so?“
Irgendetwas schien ihn doch zu bedrücken.
„Ach, eigentlich – ist es gar nicht so schlimm.“
„Was denn?“
„Meine kleine Schwester hat jetzt nen Freund“, sagte er und versuchte dabei möglichst gelangweilt und abfällig zu sprechen. Er hatte wohl keine Freundin.
„Ich wusste gar nicht, dass du eine Schwester hast – wie alt ist sie denn?“
Ich musste grinsen. Immerhin zwang ihn diese Frage auch zu einem Lächeln – er wusste wie ich das gemeint hatte.
„Mach dir keine Hoffnungen“, lachte er. „Aber wenn es dich schon interessiert – sie ist fünfzehn.“
„Aha. Und was ist jetzt so schlimm daran, dass eine Fünfzehnjährige einen Freund hat?“
„Mir gefällt der Typ nicht. Er ist wohlgemerkt fast so alt wie ich und eine Klasse höher als sie. Außerdem knutschen die mir zu heftig rum. Vielleicht fühle ich mich ja auch nur für sie verantwortlich, oder?“, fragte er mit einem gequälten Gesichtsausdruck.
Irgendwie erinnerte mich diese Situation an ein Mädchen, das ich gut kannte. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass wir ein und die selbe Person meinten, war doch wohl verschwindend gering, oder? Trotzdem beunruhigten mich die vielen Gemeinsamkeiten. Ich konnte mir meine Frage also nicht verkneifen: „Wie heißt denn deine Schwester?“
Sven musste kurz lachen. „Warum willst du das wissen?“
„Nur so.“
„Gut, ok. Sie heißt – jetzt wird mir so einiges klar!“, rief er plötzlich und beugte sich prustend vor Lachen über den Lenker. Beinahe wäre er vorn übergestürzt.
Für mich war das Antwort genug. Sie hieß also Christine. Aber das war noch lange kein Beweis dafür, dass ich mich in die kleine Schwester meines besten Kumpels verliebt hatte.
„Sie heißt wirklich Christine?“
„Ja“, gluckste Sven. Doch bevor ich noch weiter fragen konnte, löste er die peinliche Situation selbst auf: „Ich hab da vor ein paar Wochen schon etwas geahnt. Sie geht ja auch auf deine Schule, glaub ich. Und mein Beschützer Instinkt wurde wohl auch vor allem dadurch geweckt, weil sie schon ein...ja...du weißt schon...kommt blöd, wenn das ein Bruder über seine Schwester sagt.“
„Ja, ja. Sie sieht verdammt gut aus. Häng das jetzt ja nicht an die große...“ Ich lies den Satz lieber unvollendet im Raum stehen. Sofort schoss mir die Schamesröte ins Gesicht.
„Freundchen! Für dich gelten die gleichen Bedingungen“, lachte er.
„Du bist doch nicht ihr Vater.“
„Ihr Vater, oder besser gesagt unser Vater. Ist vor einigen Jahren in die Schweiz ausgewandert, um seiner großen, großen Liebe zu folgen“, tönte er in die kalte Winterluft. In diesem Moment strich eine kleine Wolke vor die Sonne und auch das letzte Bisschen Wärme war dahin.
„Oh. Sorry – konnte ich ja nicht wissen“, entschuldigte ich mich vorsichtig. Das Thema war damit zum Glück mal wieder durchgestanden. Doch mich beschlich ein seltsames Gefühl, dass mein Unterbewusstsein ständig diese Gespräche suchen wollte. Ja. Mein Körper schien sie immer noch sehr zu mögen und plötzlich tat ich es selbst auch wieder.
Meine Gedanken verloren sich kurz. So viel hatte ich schon seit Wochen nicht mehr zugelassen. Es wurde mir wieder ganz warm. Ich blickte hinauf zu einer der kleinen weißen Wölkchen. Sofort erschien ihr lachendes Antlitz dort oben und blinzelte zu mir herunter – ich schmolz dahin – da überflutete die Sonne den Parkplatz von neuem.

„Von deinem Paps hast du mir noch gar nichts erzählt“, sagte Sven plötzlich und riss mich aus meinen Gedanken. Ich erstarrte. Als hätte sich die Sonne gegen mich verschworen, brannte sie jetzt regelrecht auf mein Gesicht. Jegliche Antwort blieb mir an einem schweren Klos im Hals stecken – ich musste schlucken, während Sven mich mit einem merkwürdig besorgtem Blick betrachtete.
„Er...er...“, stotterte ich.
Sven sagte nichts.
„Er ist im September gestorben. Wegen dem Stilfser Joch.“
Beim Aussprechen der letzten beiden Worte schnürte es mir die Kehle zu und meine Stimme verwandelte sich in ein krächzendes Flüstern.
Mir war klar, dass ich niemals mehr an diesen Ort zurück kehren könnte. Doch einige Jahre später sollte ich felsenfest davon überzeugt sein, mich meinen Ängsten stellen zu müssen. Aber jetzt war das undenkbar. Die 48 Kehren jagten mich durch meine Träume. Nein, es war die Passhöhe selbst. Fast jede zweite Nacht, fuhr ich die Straße durch das einsame Tal im Traum hinauf. Ohne einem Menschen zu begegnen. Ganz alleine. Ich wurde immer schneller und umso näher ich an die Passhöhe herankam, desto größer wurde die Angst! Es war die nackte Angst. Die Angst vor dem Tod!
Sven schluckte. Er schien sprachlos. Es kam mir vor wie eine halbe Stunde. Wir sagten kein Wort. Da kam endlich der Rest der Truppe. Es war fast wie eine Erlösung.
„WEGEN dem Stilfser Joch?“, fragte er dann doch noch mit belegter Stimme.
Ich schüttelte bloß den Kopf. „Jetzt nicht“, fügte ich noch hinzu.

Es war das seltsamste Gefühl, das ich je empfunden hatte, als wir beide die anderen sieben begrüßten. Jeder von ihnen war bestens gelaunt. Jeder lächelte. Jeder, nur nicht wir beide. Zumindest spielten wir es vor.
Hans, der fast 40-jährige Kopf des Vereins, ermunterte mich wenigstens mit einer erfreulicheren Nachricht, an die ich mich in diesem Augenblick so unbeholfen fest klammerte, als gäbe es nichts anderes mehr auf der Welt.
„Also. Ich fall gleich mal mit der Tür ins Haus. Und zwar habe ich mir folgendes überlegt: Ich war letztes Jahr am Vierwaldstädter See in der Schweiz. Wenn ihr mich fragt, die schönste Landschaft dieser Erde, sofern das Wetter mitspielt. Aber leider hatte ich, es war glaub an Pfingsten, kein Rad mit, dabei musste ich schmerzhaft feststellen, dass dort die perfekte Gegend dafür gegeben ist: Flach, Hügel und Pässe. Da hab ich mir gedacht, dass wir dort in der zweiten Woche der Osterferien sozusagen als Trainingslager hinfahren könnten. Da haben unsre Schüler, Sven von der Berufshochschule und Andreas vom Gymnasium natürlich Schulfrei, ich kann mit euch beiden,“ er wies auf Wolfgang und Peter, „den Fahrradladen natürlich auch jeder Zeit schließen. Das heißt wir wären schon zu fünft. Und für unsre „normal“ Berufstätigen kann ich versichern, dass wir dort auch zwischen Trainingslager und Urlaub richtig gut abwechseln können. Jeder kann mitnehmen wen er will. Ich kümmere mich um die Ferienwohnungen und alles was sonst noch so ansteht. Es wäre auf jeden Fall mal eine Diskussion wert. Was haltet ihr davon?“

Es waren tatsächlich alle von der Idee begeistert und es wurde sofort kräftig vom wertvollen, kostbaren Urlaub investiert. Hans schlug schließlich sogar vor, zwei Wochen zu fahren, doch das wäre wirklich zu viel gewesen. Also einigten wir uns vorerst auf neun bis zehn Tage.
Das sollte die Stimmung untereinander natürlich heben und wir würden uns alle besser kennen lernen. Sven meinte sofort, dass er seine kleine Schwester mitnehmen wolle – mein Herz rutschte mir dabei in die Hose – als er das sagte, schielte er ganz heimtückisch zu mir herüber. Auch Peter schien seinem Blick gefolgt zu sein und grinste unwillkürlich.
Der Grund für Svens Anliegen war simpel: In Luzern wohnte sein Vater und beide würden ihn sicherlich gerne mal wieder Besuchen kommen. Und während den Trainingsausfahrten würde sie sicherlich auch eine Beschäftigung finden können.
„...und abends wird sich dann Andreas gerne um sie kümmern, hab ich Recht?“
„Was?“, meine Stimme ging im allgemeinen Gelächter unter.
Sven, du bist ein Arschloch, dachte ich und blickte ihm finster in die Augen. Er erwiderte meinen Blick mit einem Grinsen nach dem Motto: „Du musst dich schon beweisen.“

Es folgten Sticheleien, Demütigungen und zweideutige Bemerkungen der anderen über die ganze Ausfahrt hinweg. Ich entgegnete nichts. Es stimmte ja, worüber sie sich belustigten. Irgendwann würden sie es schon akzeptieren. Und wenn sie es erst dann begreifen sollten, wenn ich endlich mit ihr zusammen war! Mir fiel ein Spruch von Mahatma Gandhi ein, den wir vor ein paar Wochen im Religionsunterricht besprochen hatten: Immerhin war ich jetzt schon bei „Dann lachen sie über dich“ angekommen. Wie ich mich schon aufs Bekämpfen freute!

Trotz alle dem, war ich mir ziemlich sicher, dass der Frühling 2008 etwas ganz besonderes in meinem Leben werden sollte. Ich hatte mein Leben mittlerweile selbst in die Hand genommen – vielleicht hat der Tod meines Vaters sogar noch etwas positives bei mir bewirkt...
Nein! So darf ich nicht über ihn denken! Es wird der schönste Frühling aller Zeiten, basta.

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Mahatma Gandhi:

„Am Anfang ignorieren sie Dich,
dann lachen sie über Dich,
dann bekämpfen sie Dich,
und am Ende gewinnst Du!“
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Grabba
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Beitrag: # 6743139Beitrag Grabba
2.11.2008 - 22:50

Fein. Das ist das V, das ich sehen wollte. Hoffentlich wird es nicht zu einem W.
Was ich damit sagen will: Anfangs tolles Niveau, dann steil abgesunken, und jetzt wieder oben angekommen. Von "perfekt" bist du zwar noch ein gutes Stückchen entfernt, aber wenn du dieses Grundniveau erstmal halten kannst wird auch das alles mit der Zeit noch kommen. Einige Sätze sind doch ein wenig komisch geschrieben, und hier und da fällt die ein oder Andere Holprigkeit auf. Ich habe jetzt keine Lust, darauf im Detail einzugehen, ich will jetzt lieber lesen - vielleicht nehme ich mir in den nächsten Tagen mal die Zeit.

Aber dennoch: Es ist sehr gut geworden. Mach weiter so, das fast verlorengegangene Interesse an deinem AAR ist jedenfalls wieder vollauf wiederhergestellt. :)

Andy92
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Beitrag: # 6743182Beitrag Andy92
3.11.2008 - 10:18

Hui. Danke erstmal. Wie gesagt, bin ich noch lange nicht 100%ig zufrieden. Zum Beispiel, merke ich beim Durchlesen, dass alles doch etwas zu kurz geraten ist, aber gestern hatte ich auch keinen guten Schreibtag. Das beste war bisher glaub ich, wo Andreas und Jörg auf der Passhöhe sind und die Eltern an ihnen vorbeigetragen werden, und natürlich die ersten Kapitel mit dem "Rennen". Das hab ich mal wieder durchgelesen und dachte: "Oh, das hab echt ich geschrieben?"
Auf jeden Fall, kommt bald wieder ein Rennen aus der Sicht von Andreas und das "Trainingslager" am Vierwaldstädter See wird echt ein Highlight in Sachen Spannung werden. :D
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Andy92
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Beitrag: # 6743257Beitrag Andy92
3.11.2008 - 16:43

12.Kapitel - Das Rennen am Alpsee

Ende Februar wurde die winterkarge Landschaft Süddeutschlands über Nacht in ein leuchtendes Weiß getaucht. Es hatte kräftig geschneit. Selbst bei uns bedeckten ungefähr dreißig Zentimeter der weißen Pracht die Felder und hingen auf den herabsinkenden Ästen der Bäume. Für zwei Tage konnte ich tatsächlich Langlauf machen. Radfahren schien bei diesem Schneechaos beinahe unmöglich, da man immer darauf gefasst sein musste, plötzlich vor einer schneebedeckten Straße zu stehen. Während dieser Tage war es unheimlich kalt. Der leicht angetaute Schnee fror auf den Straßen fest und verursachte ein schreckliches Tohuwabohu im Straßenverkehr.
Doch ich machte mir weit mehr Sorgen um das Alpsee Kriterium in Immenstadt, dass in gut zwei Wochen vor der Tür stand. Im Allgäu lagen jetzt zusammen mit dem Restschnee zum Teil fast zwei Meter – ob das bis zum 9. März abschmelzen würde?
Es sollte tatsächlich so kommen. Denn gut zehn Tage vor dem Rennen brachte uns Petrus eine erneute extreme Wettersituation. Ein Tiefdruckgebiet vom Atlantik kommend wehte milde Meeresluft nach Mitteleuropa. Ein Frühjahrssturm, ein Überbleibsel eines gefürchteten Hurrikans in der Karibik, der sich über dem Atlantik wieder zum Orkan aufgebläht hatte, tat sein übriges und fegte den Schnee förmlich davon. Innerhalb von einer Nacht war die Hälfte dahin. Am Tag darauf war der Sturm vorbei und ein Zwischenhoch brannte den Rest des nunmehr verschmutzen matschigen Schnees davon – zumindest bei uns. Doch dann setzte die erste Hitzeperiode des Jahres dem Winter sein endgültiges Ende. Auf der nächsten Vereinsausfahrt eine Woche vor dem Rennen kreuzte ich bei gefühlten schwülheißen einundzwanzig Grad bereits mit kurzer Radlerhose und Trikot auf. Auch die anderen kamen mit der plötzlichen „Hitze“ nicht zurecht. Noch wenige Tage zuvor hatte die Temperatur fast dreißig Grad weniger betragen. Dieser unmenschliche Kontrast erinnerte mich an das Rekordjahr 2003. An das Jahr des großen Duells Lance Armstrong vs. Jan Ullrich. Sollte die Saison 2008 genauso spannend werden? Nicht nur bei den Profis? Sondern auch für unseren Verein?
Vor der Ausfahrt, die gleichzeitig auch eine Teambesprechung darstellte, hatte ich das Profil und die Karte des Rennens in Immenstadt auf der Internetseite bereits unter die Lupe genommen. Es war ein Rundkurs, der in meiner Altersgruppe dreimal befahren werden musste. Los geht’s im Start und Ziel Bereich am Bahnhof. Auf der Bundesstraße 308 geht es am südlichen Seeufer entlang und dann über Trieblings und Alpseewies nördlich des Sees zurück. Im gleichnamigen Ort geht es links ab auf die Straße 2006. Hier folgt ein richtig steiler Anstieg: Auf 2,5 Kilometern müssen 120 Höhenmeter bewältigt werden! Das entspricht zwar nur einer Steigung von durchschnittlich 5 %, doch eine Abfahrt kurz vor dem höchsten Punkt der Strecke verfälscht diesen Wert wieder. Zuvor beträgt die maximale Steigung sage und schreibe 15 %! Ich hasse solche extremen Rampen. Weshalb wir uns dafür entschieden, dass ich für Sven fahren sollte, der auf kurzen und steilen Anstiegen eine ungeheure Explosivität hat. Das trainierten wir heute auch noch einmal und tatsächlich hängte mich meine Kumpel an den richtig steilen Hügeln mittlerweile deutlich ab.
„Ich komme langsam echt in Form“, meinte er zuversichtlich und setzte dabei die ernste Miene eines Profis auf.
Das Wetter war heute wirklich grandios. Falls alles glatt geht, dann könnte sich das Hochdruckgebiet über Deutschland ein bis zwei Wochen halten. Dann würde auch dem Rennen am Samstag nichts mehr im Wege stehen.
Meine Lizenz hatte Hans bereits gelöst. Trotzdem gab es ein paar Komplikationen bei der Anmeldung am Immenstädter Kriterium, da es dort kein spezielles U17 Rennen gab. Nur Elite, U23 und U19. Also musste ich in Svens neuer Altersklasse mitfahren – auch für ihn eine Herausforderung zumal das Rennen mit einer Länge von 70,5 Kilometern ein schon seit ein paar Jahren gefürchteter harter Brocken ist. Zumal auf jeder der drei Runden á 23,5 Kilometer dieser erbarmungslose Anstieg bewältigt werden musste. Danach gab es keine Zeit mehr zur Erholung, denn nach der genauso kurzen und steilen Abfahrt folgen nur noch ein paar Kilometer bis ins Ziel.
Sven war noch nie dort gefahren, da es in den letzten Jahren genau wie diesem keine U17 Rennen gegeben hatte. Aber über mich verlor keiner ein Wort. Anscheinend nahmen alle an, dass ich das locker schaffen müsste, so wie ich bis jetzt im Training aufgetreten war, aber ein bisschen Bammel vor der Rennsituation hatte ich durchaus.
Das Rennen zählt übrigens nicht zur Schwäbischen Meisterschaft, sondern läuft unter einer gesponserten Liga. Da es das schwerste dieser Rennserie ist, wird es gleich zweimal ausgetragen. Einmal am Anfang der Saison, im März, und einmal im Oktober, sozusagen als Finale. Die Serie, die ausschließlich im Allgäu ausgetragen wird, ist relativ neu und wird von vielen Firmen gesponsert, die in Immenstadt aber auch in anderen Teilen des Allgäus ansässig sind. Unter anderem wird Ende Juli ein Rennen in Oberstdorf ausgetragen, dass mit einer „Bergankunft“ auf der Vorderen See-Alm endet – die erste Station der Nebelhornbahn. Doch ob wir auch an diesem und den weiteren Rennen teilnehmen werden, wird sich am Samstag zeigen. Es hängt alles davon ab, ob wir gegen die erfahreneren Amateure überhaupt eine Chance haben. Dass im Elite Rennen auch noch ein kleiner Teil des Continentalteams 3C-Gruppe gemeldet ist, tat unseren älteren Mitgliedern ihr übriges – so war jeder mit seinen Ängsten, Bedenken und Vorfreuden mit sich selbst beschäftigt. Nur Sven und Hans schienen einen kühlen Kopf bewahren zu können. Beide waren eine Stütze für die anderen im Verein – einschließlich mich. Zwar ging ich sehr stark davon aus, dass ich in meinem ersten Rennen von Sven bloß herumkommandiert werde, damit er im besten Fall aufs Podium fährt, doch diese eigentlich unschönen Aussichten schienen mir sogar zu gefallen. Mit dieser Einstellung konnte ich den selbst aufgeladenen Druck wieder abwerfen. Ich hatte sogar schon davon geträumt, das Rennen zu gewinnen, aber wenn ich es erst einmal realistisch betrachtete, dann war das eigentlich eine ziemlich irrwitzige Vorstellung.
Da die Rennen über das ganze Wochenende verteilt waren, musste Hans schon am Samstag mit uns runter fahren. Seine Aufgabe war es, uns zu betreuen, da wir ja beide noch keine achtzehn Jahre alt sind. Doch der kleine Wochenendausflug sollte sich für ihn lohnen, denn insgesamt standen fünf Rennen auf dem Programm: Ein Jedermannrennen, U19-, U23-, Elite- und Seniorenrennen. Aufgrund der Länge der Kurse und der angestrebten „Härtequalität“ war es den Veranstaltern unmöglich geworden, die Rennen der Frauen auch noch an den selben Wochenenden auszurichten. Daher stand für die Wettkämpfe der weiblichen Delegation ein Wochenende im Juli zur Verfügung.
Natürlich hat diese Rennserie auch ihre Gründe: Die Profiteams können Talente beobachten, für die Sponsoren ist es gute Werbung, mit Verkaufsständen oder besser gesagt einem Rummelplatz beim Start und Ziel streicht man sogar noch Einnahmen ein, für die Zuschauer ist es ein Jahrmarkt mit sportlichem Reiz und für die Sportler selbst eine harte aber machbare Herausforderung als Auftakt und Abschluss einer Saison.

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Blick auf Immenstadt im Allgäu.
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vino 12
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Beitrag: # 6743259Beitrag vino 12
3.11.2008 - 16:53

Echt Super AAR!!!
Kann gar nicht das Rennen abwarten...

Andy92
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Beitrag: # 6743299Beitrag Andy92
3.11.2008 - 19:27

Danke dir. Das Rennen folgt dann morgen. Wird sonst zu viel heute. :D
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Andy92
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Beitrag: # 6743433Beitrag Andy92
4.11.2008 - 14:28

Es war halb acht. Die Sonne kämpfte sich bereits durch den dichten Nebel und wärmte meinen Rücken. Hans befestigte Svens Rennrad auf dem Fahrradträger. Dann war meins an der Reihe. Ich warf meine Sporttasche auf die Rückbank und stieg ein, während sich Sven auf den Beifahrersitz anschnallte. Ich war schon lange nicht mehr so schrecklich aufgeregt gewesen. Nervös blickte ich während der einstündigen Fahrt aus dem Fenster.
Hans gab Sven Tipps für das Rennen. Offensichtlich war er vor ein paar Wochen oder Monaten schon einmal an der Strecke gewesen. Für mich war die Aufgabe nach wie vor klar: So lange wie möglich bei Sven bleiben und wenn möglich auf der letzten Runde am Anstieg das Tempo diktieren. Bei fast dreißig weiteren Startern, die allesamt älter waren als ich, sollte eine Renntaktik in dieser Klasse gerade noch so im Bereich des Möglichen sein. Trotzdem sollte es zu zweit ziemlich schwer werden, gegen ein Jugendteam zu bestehen, die auch noch Heimrecht genossen.
In Immenstadt gab es ein Internat, an dem sich mehrere Vereine aus sämtlichen Sportarten beteiligten und ihre Talente groß zogen. Die Radsportabteilung wurde erst vor drei Jahren von mehreren Continentalteams ins Leben gerufen. Unser doch relativ erfolgreiche Sven hatte in Rennen mit der Beteiligung dieser Jungs nie den Hauch einer Chance auch nur annähernd an die Leistungen in anderen heranzukommen. Zu dominant und zu professionell arbeiteten die Immenstädter Talente. Doch diese Saison sollte das anders werden. Sven hatte aus seinen Fehlern gelernt und roch die Revanche.
„Ich hab heute morgen mit dem Rennleiter telefoniert. Zwei von unsren Immenstädter...Freunden...treten nicht an. Das heißt es bleiben noch vier – leider die, die im letzten Jahr die besten Ergebnisse rausgefahren haben“, nahm Hans das Gespräch mit Sven nach einer längeren Pause wieder auf.
„Die hat’s wohl schlimmer erwischt als mich.“
„Wieso?“
„Na, ich hab doch auch schnupfen.“
„Na ja, Sven, nach fünf Kilometern Fahrt ist deine Nase wieder frei. Husten wäre da jetzt schlimmer.“
„Stimmt.“
„Außerdem ist einer der beiden nicht krank, sondern hat sich im Training verletzt – was er jetzt genau hat – keine Ahnung.“ Hans schüttelte den Kopf.
„Oh, Mann. Ich seh mich auch schon auf dem Asphalt liegen“, warf ich ein.
„Also, die einzigste gefährliche Phase ist die erste Runde, wenn ihr am nördlichen Seeufer entlang fahrt – da ist die Straße ziemlich schmal und kurvig. Die“, Hans lachte, „Lokalmatadoren...werden das Rennen sobald ihr das erste Mal den Anstieg hochfahrt sehr, sehr schwer machen. Ihr könnt euch auch als Ziel setzen, dass die vier Jungs nicht auch die ersten vier Plätze belegen. Das würde euch schon in ein besonderes Rampenlicht rücken.“
Sven und ich lachten.
Ich ging im Großen und Ganzen zwar mit wenig oder auch gar keinen Ambitionen in das Rennen, aber die Großen hatte ich schon immer gerne geärgert. Außerdem schien ich heute noch einen richtig guten Tag erwischt zu haben. Ich hatte ausschlafen können, war gut gelaunt, hatte kein Zipperlein oder wie Sven einen kleinen Schnupfen und die Frühlingssonne versetzte mich obendrein noch in die beste Stimmung, die man sich vorstellen konnte. Mein Körper wurde von Endorphinen geradezu überschüttet, als ich die vorbeifliegende hüglige Landschaft beobachtete. Schließlich konnte man in der Ferne auch schon die noch schneebedeckten Gipfel der Alpen erkennen. Auch auf den Feldern und Wiesen lagen hier und da noch kleinste Schneereste, doch für heute waren sage und schreibe 23 Grad vorrausgesagt worden! Leider sollte die kommende Woche dann wieder etwas kälter werden, aber für sonnige Osterferien Ende März standen die Ampeln schon jetzt auf grün.
Endlich waren wir da. Jetzt war es zwanzig vor neun. Um halb zehn erfolgte der Startschuss und bis neun konnte man noch die Strecke abfahren, was wir trotz des entstandenen Zeitdrucks nicht auslassen wollten.
Hans spurtete zur Anmeldung, unterschrieb ein Formular und erhielt ein weißes DIN A4 Blatt mit dem Namen unseres Vereins, das wir rechts unten in die Windschutzscheibe kleben sollten. Während sich Sven um diese „Aufgabe“ kümmerte, winkte ein Ordner unseren Wagen durch eine Öffnung in der Absperrung und wenige Sekunden später überquerten wir die Ziellinie am Bahnhof. Das Entertainment Programm neben der Strecke lief schon auf Hochtouren. Es war warm, es war sonnig – kein Wunder also, dass schon jetzt der halbe Ort auf den Beinen war.
Die ersten Eindrücke von der Strecke jagten schon genug Adrenalin durch meinen Körper, um die erwarteten Qualen am gefürchteten 15%-Anstieg zu vergessen. Vielmehr freute ich mich jetzt auf das Gefühl zwischen den Beifall zollenden Zuschauern am Streckenrand davon zu rauschen, während mich die wärmende Sonne blendete.
„In meiner Tasche müssten eure Trikots sein“, sagte Hans plötzlich und fuhr zügig über den ersten Abschnitt der Strecke. Viel Zeit um Eindrücke zu sammeln blieb uns nicht. Allerdings gab es hier auch nicht viel zu sehen. Die Straße war breit, gut asphaltiert und führte am Hang einige Meter über dem Seeufer am Berg entlang. Die kahlen Bäume spendeten kaum Schatten, doch das war heute wirklich nicht so wichtig.
„Hast du sie gefunden?“
„Ja, klar“, antwortete ich und hielt zwei gleiche Trikots aus einem Sportartikelkatalog in die Höhe, den ich erst vor wenigen Tagen durchgeblättert hatte. Sie waren rot und an beiden Seiten mit einem breiten schwarzen Streifen versehen. Die Hosen waren ebenfalls schwarz.
„Das ist das Trikot für kommenden Jahre“, sagte Hans, als er unsre erfreuten Blicke bemerkte.
„Erinnert ein bisschen an das Nationalmannschaftstrikot“, meinte Sven begeistert. Ich musste grinsen.
Jetzt bogen wir auf einen kleine geteerten Weg ab und fuhren auf der anderen Seite des Alpsees wieder zurück. Hier und im Ort „See“ könnte es wirklich eng werden. Und dann waren wir im Anstieg. Hans musste in den dritten Gang runter schalten.
„Eigentlich wollte ich euch den Berg noch mit dem Rad hochfahren lassen, aber dazu haben wir jetzt keine Zeit mehr“, meinte er.
Auf der Anhöhe angekommen, öffnete sich der Blick. Der Wald wich den Almwiesen und über ein paar Dörfer ging in einer stellenweise steilen Abfahrt zurück nach Immenstadt. Mir war sofort klar, dass es in der letzten Runde an diesem Berg so richtig zur Sache gehen würde, denn anschließend boten sich auf den schmalen Sträßchen keine Gelegenheiten mehr um einen Angriff zu setzen. Lediglich der Sprint auf der rund 500 Meter langen Zielgerade konnte dann noch die Entscheidung bringen. Selbst auf dem rund zwei Kilometer langem Flachstück zuvor erwartete ich keinen Angriff, da die Straße einfach viel zu breit und daher zu gut einsehbar war, um eine entscheidende Attacke zu starten.
Zuletzt geändert von Andy92 am 4.11.2008 - 16:24, insgesamt 1-mal geändert.
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panicmaster
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Beitrag: # 6743441Beitrag panicmaster
4.11.2008 - 15:47

Andy92 hat geschrieben:...Jetzt war es zwanzig vor neun. Um halb zehn erfolgte der Startschuss und bis zehn konnte man noch die Strecke abfahren,...
Man kann die Strecke noch nach dem Startschuß abfahren? :P
Soll keine große Kritik sein, ist mir nur sehr besonders ins Auge gestochen ;)

Verfolge deinen AAR von Anfang an und muss sagen echt klasse bisher ALLES(und hatte bisher nix, wie andere scheinbar scho, zu kritisieren). Hoffe du machst weiter so und bin shcon gespannt aufs Rennen :)

Andy92
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Beitrag: # 6743445Beitrag Andy92
4.11.2008 - 16:23

Oh ja, sorry, das ist ein übler Flüchtigkeitsfehler. Wird korregiert. :D
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Hagen
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Beitrag: # 6743874Beitrag Hagen
6.11.2008 - 19:00

wann kommt endlich das Rennen?
ich kann es kaum noch abwarten.
Gruss Hagen

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vino 12
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Beitrag: # 6743875Beitrag vino 12
6.11.2008 - 19:04

Mir geht es ähnlich, aber lieber soll er sich zeit lassen und einen guten bericht schreiben...

Andy92
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Beitrag: # 6744035Beitrag Andy92
6.11.2008 - 23:18

Sorry Leute. Aber ich hatte in den letzten Tagen echt viel zu tun. Und das Privatleben bzw. das Berufliche geht natürlich vor dem AAR, das versteht ihr sicherlich. Daher hab ich noch gar nicht angefangen zu schreiben. Aber ich weis immerhin schon, wie das Rennen verlaufen wird und wie es ausgehen wird. Es schwirren schon einige Szenen in meinem Kopf herum, doch bis jetzt habe ich noch nichts zu Papier gebracht. Ich bitte also um Geduld, die, wie ich auch selbst hoffe, morgen endlich gebrochen wird. :D
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Andy92
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Beitrag: # 6744162Beitrag Andy92
7.11.2008 - 16:17

Hans parkte den Wagen irgendwo in der Nähe auf einem ausgewiesenen Parkplatz, während wir uns zum Bahnhof begeben sollten. Vor der errichteten Bühne saßen bereits einige Zuschauer auf den Bierbänken und klatschten einer jodelnden Volksmusikgruppe zu, die gerade alle Register zog, um die Stimmung auf dem Platz so richtig anzuheizen.
Jetzt wollte ich umso schneller in die Umkleidekabinen. Dort angekommen und umgezogen, wollte ich sofort auf die Strecke, bloß weg von dieser Musik, bevor mich dieser Ohrwurm noch den ganzen Tag verfolgen würde. Doch das war wohl leider schon zu spät.
Wir mussten nämlich noch zur Einschreibung und unsre Startnummern abholen. Anschließend fuhren wir uns auf der Zielgeraden warm, während die Musik weiterhin zu uns herüber schallte und sich in meinem Kopf einhämmerte. Es hörte sich alles gleich an.
„Hey, schau mal“, reif Sven plötzlich und winkte auf den Parkplatz hinüber. Dort befestigten gerade vier in hellblaue Trikots gekleidete junge Radler ihre glänzenden Rennräder auf je eine Rolle. Einige Augenblicke später begannen sie drauf los zu strampeln.
„Verdammt, warum haben die so ein Luxus?“, sagte ich.
„Die haben das nötige Kleingeld für so was.“ Die Antwort hätte ich mir auch so denken können.
Langsam aber sicher füllte sich der Startbereich. Sven versuchte mir noch mal deutlich zu machen, dass ich am besten auf seine Anweisungen hören solle und ich immer bei ihm fahren müsse. Er schien im Moment viel nervöser zu sein, als ich es war. Ja, ich war schon fast richtig entspannt. Mit so vielen Gleichgesinnten war ich noch nie auf einer Straße unterwegs gewesen. Auch, wenn es nur rund dreißig Fahrer waren, kam es mir vor, als würde das Feld hinter uns kein Ende nehmen. Ich beobachtete, wie unsre vier härtesten Gegner zusammen mit zwei Betreuern ihre Konstruktionen wegpackten und sich zu den anderen Fahrern gesellten – ganz am Ende.
Wir dagegen warteten in der zweiten Reihe auf den Startschuss. Auf der Bühne moderierte jetzt ein junger Mann das Geschehen, während sich einige Herren unter dem Transparent aufstellten und die letzten fünf Minuten für sich herunter zählten.
Sven unterhielt sich derweil mit einigen „alten Bekannten“. Ich war mal wieder überrascht und stolz zu gleich, dass die meisten respektvoll, ja fast ehrfürchtig mit Sven sprachen. Die meisten kannte er ja noch von der U17 Altersklasse her. Mit jedem verstand er sich prächtig, obwohl die meisten als Antwort auf das Tagesziel „...vor dir ins Ziel kommen...“ angaben und dabei verschmitzt lächelten.
„Das heißt, unsre vier blauen Engel werden heute letzter“, sagte Sven schließlich wenige Sekunden vor dem Startschuss. Die Spannung lag schon förmlich in der Luft.
Ich musste lachen. Da hob einer der Herren die kleine Pistole in die Höhe und der Knall ertönte. Sofort jagte mir die Erinnerung an das Stilfser Joch durch den Kopf. Ich erstarrte für einen kurzen Augenblick, in dem ich einige Positionen verlor und schon mal die ersten verständnislosen Blicke der anderen Fahrer erntete.
Ich versuchte jeglichen Gedanken an diesen schrecklichen Tag zu vertreiben. Meine Konzentration musste jetzt voll und ganz dem Rennen gelten!
Schließlich beschleunigte ich meinen Tritt und konnte wieder zu Sven aufschließen. Die große Gruppe fuhr geschlossen und ruhig. Vor uns ein Motorrad und hinter uns ebenfalls eins. Nach kurzer Zeit hatten wir den Stadtrand erreicht und der Beifahrer des vorne fahrenden Motorrads fuchtelte wie wild mit einer Fahne herum. Das signalisierte uns, dass das Rennen jetzt freigegeben wurde. Das Motorrad rauschte davon, doch erste Attacken blieben aus. Alle schauten sich an und die Geschwindigkeit nahm tatsächlich ab. Kaum ein Team war größer als drei Mann, wer hätte also das Tempo diktieren sollen?
Wer, wenn nicht sie: Die hellblauen Trikots zogen an mir vorbei und setzten sich an die Spitze. Sofort nahm das Tempo deutlich zu – ich musste aus dem Sattel gehen um der irren Beschleunigung zu folgen. Verdammt, das war doch die erste Runde!
Erst jetzt spürte ich, wie sehr die breite Straße doch anstieg. Es waren vielleicht nur drei oder vier Prozent, aber bei dem Tempo war das genug. Jetzt tauchten wir in den Wald am Seeufer ein. Das klare blaue Wasser funkelte unter uns. Die Sonne schien direkt in das Tal hinein und erleuchtete den gegenüberliegenden Berg. Er war nicht hoch, aber auf seinem Gipfel lag noch etwas Schnee.
Mit berauschenden 59 Stundenkilometern ging es eine kurze Abfahrt hinunter und dann direkt rechts ab auf die kleine Einbahnstraße um den See herum. Es glich einem Wunder, das in dieser Kurve bei dem Tempo keiner gestürzt war. Ich blickte mich um: Die Gruppe war endlos in die Länge gezogen worden, nein, sie war bereits auseinander gerissen!
Mittlerweile fuhr ich vor Sven weiterhin in der zweiten Reihe. Er machte einen hochkonzentrierten Eindruck und beobachtete den Kapitän der hellblauen – ich ging davon aus, dass er es war, denn er hatte sich bis jetzt noch nicht in die Führungsarbeit seiner Teamkollegen eingereiht.
Auf dem kleinen Weg um den See herum wirkte unsre Geschwindigkeit von rund 38 Kilometer pro Stunde noch viel schneller, als auf der breiten Bundesstraße zuvor. Es war richtig berauschend. Trotzdem zog sich die Runde endlos in die Länge und da ja noch der Anstieg und die Abfahrt bevorstanden lies meine Motivation schon mal ein ganzes Stück nach. Warum war ich bloß jetzt schon so kaputt?!
Nach zwanzig Minuten Fahrzeit hatten wir die Anfahrt des Berges erreicht. Völlig unerwartet nahmen die drei an der Spitze das Tempo komplett raus. Ich hatte das Gefühl zu stehen, obwohl wir immer noch mit 18 km/h schnell unterwegs waren. Schon jetzt war der Berg steil. Doch er wurde immer steiler und steiler und wir immer langsamer und langsamer. Keiner fühlte sich jetzt mehr für das Tempo verantwortlich. Das ging ungefähr 500 Meter lang so, dann blickte ich mich ganz unwillkürlich um. Mir blieb fast das Herz stehen, als ich sah, dass unsre Gruppe nur noch rund zehn Fahrer umfasste. Einige Meter weiter hinten, oder sollte ich wohl eher sagen, weiter unten, kämpften bereits sechs, sieben Jungs um den Anschluss. Noch weiter zurück bog gerade eine größere Gruppe um eine der Biegungen, welche die Straße hier im Wald machte, um die Steigung noch in Grenzen zu halten.
Ich wechselte in meinen drittkleinsten Gang. Der Tacho zeigte ernüchternde 15 Stundenkilometer. Ich fühlte mich etwas ausgelaugt, aber immerhin wohler, als auf der Tempojagd im flachen. Wenigstens hatte ich die Geschwindigkeit dort doch nicht unterschätzt.
Sven stupste mich an. Ich blickte noch einmal zurück und er nickte mir bloß zu. Sofort wusste ich, was zu tun war, obwohl ich mich im Moment überhaupt nicht in der Lage dazu fühlte eine Attacke zu setzen, probierte ich es. Heute würde ich mich also für Sven quälen, vielleicht zollte er mir das schon bald wieder zurück.
Ich schaltete also einen Gang hoch und beschleunigte gleichzeitig meinen Rhythmus im Sitzen. Schon war ich ein bis zwei Meter weiter vorne in der Gruppe und startete einen Zwischensprint ausgerechnet in der Kurve, nach der die größte Steigung auf uns wartete. Einer der hellblauen zuckte zusammen. Ich glaubte im Augenwinkel noch zu erkennen, wie er unglaubwürdig zu mir herüber schaute.
„Scheiße, ist das steil!“, dachte ich und keuchte gleichzeitig. Es hatte keinen Zweck ich musste runter schalten und suchte meinen Rhythmus aber wieder im Wiegetritt, denn ich blickte mich sofort um. Der Angriff hatte nämlich nur einen Zweck: Wer geht mit?
Die Antwort war einfach: Keiner.
Irgendwie überraschte mich das doch sehr. Die hellblauen Trikots mit ihren blauen Sonnenbrillen (ich trug ebenfalls so eine) machten nicht mal den Versuch auch nur eine Tempoverschärfung zu starten. Jetzt wusste ich natürlich überhaupt nicht was ich machen sollte. Durchziehen?
Ich suchte den Blickkontakt zu Sven und wackelte dabei wohl etwas zu provozierend mit meinem Hinterteil vor den anderen rum, sodass endlich einer der hellblauen reagierte. Doch das war noch überraschender, denn es war der, der bis jetzt noch gar nichts gemacht hatte. Er reagierte nicht nur, nein, er agierte. Er attackierte schon im etwas flacheren Abschnitt und hatte schnell das Loch von rund fünfzehn Metern zu mir geschlossen. Völlig unerwartet verharrte er nicht bei mir sondern beschleunigte weiter und zog vorbei. Intuitiv ging ich mit. Dabei lernte ich etwas: Gegenangriffe sind bei weitem nicht so schmerzhaft wie Angriffe. Mein Vordermann setzte sich wieder – ich mich auch. Sofort schaute ich mich um. Alle waren gefolgt, die Teamkollegen des Führenden natürlich als letztes, doch drei weitere Fahrer mussten dem Tempo Tribut zollen und waren bereits rund 50 Meter zurück. Der Abstand wuchs schnell an. Irgendwie taten sie mir ja leid – wie sie um jeden Zentimeter kämpften. Es ging in die Abfahrt und die hellblauen setzten sich, bis auf den, der gerade attackiert hatte, an die Spitze und zogen den Angriff durch. Die Belastung an der Gegensteigung war der Hammer!
Die drei abgehängten Fahrer sahen jetzt wirklich kein Land mehr. Wir sieben waren, als es endlich in die lange Abfahrt ging, wohl schon eine Minute voraus. Wie viel es zur der letzten größeren Gruppe war konnte ich nicht sagen – ich hatte sie schon seit einigen Minuten nicht mehr gesehen, doch auf dem kurven- und wellenreichen Kurs war das sowieso ein Ding der Unmöglichkeit.
In der Abfahrt war höchste Konzentration gefordert. Die Höchstgeschwindigkeit betrug ungefähr 65 km/h – ich wagte es kaum noch einen Blick auf den Tacho werfen! So schnell war ich noch nie mit meinem Rennrad unterwegs gewesen. So war es auch nicht verwunderlich, dass ich mich am Ende der Abfahrt an letzter Position befand.
Auch hier fiel mir erst jetzt auf, dass die Bundesstraße nach Immenstadt minimal anstieg. Hier würde man das Rennen mit einem kurzen Antritt also doch entscheiden können. Aber jetzt war daran noch nicht zu denken. Die vier hellblauen, Sven, ein unbekannter kleiner Fahrer und ich fuhren zügig gen Ziel. Nach den zwei Kreisverkehren im Ort befanden wir uns auch schon wieder auf der breiten geraden Straße – in der Mitte das Transparent. Die Stimme des Moderators drang kurz an mein Ohr. Noch etwas, was mir auf der Strecke gar nicht bewusst geworden war: Wenig Zuschauer. Zumindest war es mir nicht bewusst geworden, ob überhaupt jemand an der Strecke stand – zu groß war die Belastung. Doch hier war eindeutig mehr los.
Am Ende dieser langen Gerade – das Ziel hatten wir längst passiert – erreichten vier Fahrer unsre Gruppe. Immerhin hatten wir wieder ein humaneres Tempo angeschlagen. Zwei der vier „Neuen“ hatten vorhin noch an der Spitze des Trios gekämpft. Ich erkannte sie sofort wieder. Die anderen zwei waren mir heute noch gar nicht aufgefallen. Oder? War der eine nicht derjenige gewesen, der Sven als erstes begrüßt hatte? Ich konnte mich schon gar nicht mehr so richtig daran erinnern.
Die vier hellblauen, Sven und ich, waren die einzigen, die noch nicht separiert waren. Das spielte uns leider etwas Verantwortung zu, vor der wir uns aber geschickt drückten. Das nun angeschlagene Tempo war fast schon angenehm im Gegensatz zur ersten Runde. Zügig aber nicht mörderisch. Das führte wohl auch dazu, dass von hinten kein weiterer Fahrer mehr heran kam. Die Runde um den See verlief ruhig. Die hellblauen bestimmten das Tempo. Die Sonne wärmte mich sanft. In der Abfahrt hatte ich gespürt wie verschwitzt mein Trikot bereits war. Jetzt trocknete es fast. Oder hatte ich jetzt bloß meinen Rhythmus gefunden? Ging deshalb auf einmal alles so flüssig? Hatte ich mich wieder in einen „Rausch“ gefahren?
Immerhin waren wir jetzt schon eine Stunde unterwegs – die Hälfte war geschafft und der Berg rief jetzt zum zweiten Mal. Sven klemmte sich an mein Hinterrad und ich fuhr nach vorne an die fünfte Position hinter den hellblauen. Der vor mir machte nicht mehr so einen fitten Eindruck – er war es, der auf der ersten Runde dieses Höllentempo auferlegt hatte. Er trug als einzigster der vieren eine dunklere Sonnenbrille – keine strahlend blaue – wie ich. Wir bogen nach links ab. Es ging leicht hinauf zur Kreuzung der Hauptstraße. Die vier rissen ein kleines Loch zu mir, sodass ich aus dem Sattel gehen musste um den Anschluss zu halten. Eine erneute Tempoverschärfung?
Der vor mir torkelte ein wenig wie Cadel Evans den kurzen Hügel hinauf – die Kreuzung war breit, doch sie hatten sich ausgerechnet die Stelle ausgesucht, wo in der Kurve noch ein wenig Streugut vom Wintereinbruch der letzten Tage lag. Es passierte blitzschnell! Mein Vordermann fuhr so abrupt um die Ecke, dass das Vorderrad auf den kleinen Kieselsteinen weg rutschte. Er schlug mit der Schulter auf, so schnell lag er auf dem Asphalt. Zum Glück hatten sie das kleine Loch gerissen, denn so konnte ich noch rechtzeitig ausweichen. Von meiner eigenen Reaktion überrascht, steuerte ich zunächst auf die Absperrung zu. Als ich merkte, dass das nicht gut gehen würde, legte ich eine weitere Kurve ein, was sich auf dem abschüssigen Gelände als ziemlich schwierig herausstellte und fuhr wieder in die richtige Richtung. Ich hatte unglaublich viel Tempo verloren und musste runter schalten. Meinen Nachfolgern ging es nicht besser – Sven hatte sich ja zum Glück an mein Hinterrad geheftet. Außer dem hellblauen war keiner gestürzt. Ich blickte zurück. Er wälzte sich am Boden. Er tat mir plötzlich so Leid.
„Scheiße!“, rief einer seiner Teamkollegen. Er schien hin und hergerissen, ob er weiterfahren oder doch lieber warten solle.
Mit ungefähr 10 km/h kroch die Gruppe die ersten Meter des Anstiegs hinauf. Wir waren alle betroffen. Drei Hobbyradler waren zu dem Gestürzten gespurtet und kümmerten sich um ihn. Jetzt gesellte sich endlich auch ein Ordner dazu. Daraufhin wendete ich meinen Blick wieder nach vorne. Die verbliebenen drei hellblauen nahmen das Rennen und somit auch das Tempo wieder auf – einer von ihnen schüttelte den Kopf.
Sven blickte über den See. Auch ich erkannte unten am Seeufer eine Gruppe von vier Fahrern. Weit weg waren sie. Dann verdeckten uns die ersten Bäume die Sicht und als sich der Blick wieder öffnete, befand sich die größere Gruppe erst an der selben Stelle. Der Sieger des Rennens dürfte also aus unsrer Gruppe kommen. Den Sturz unseres Kontrahenten mussten wir jetzt einfach vergessen – vor allem in der letzten Runde, wenn wir die selbe Stelle noch einmal passieren würden.
Diesmal geschah am Berg schlicht und einfach nichts. Einer der hellblauen diktierte das Tempo – die zwei hinter ihm rutschten zwar ungeduldig hin und her, als wäre ihnen das Rennen zu langsam oder die Angst vor der Verfolgergruppe würde gleich zur Qual werden, doch sie blieben im Sattel sitzen. Die zweite Runde wirkte fast wie eine Erholungsphase, in der alle ihre Tanks für die letzten 23,5 Kilometer füllten. Mir ging es auf jeden Fall so, doch ob sich die Übersäuerung auf der ersten Runde bei einer neuen Belastung bemerkbar machen würde, war eine andere Frage, die ich mir schon so oft mit „Ja“ beantworten musste. Diesmal sollte es wohl nicht anders kommen.
Auf der Strecke befanden sich jetzt schon deutlich mehr Zuschauer. Das Wetter wurde dazu auch noch immer schöner. Die letzten Nebelfetzen waren komplett verschwunden und der Himmel erstrahlte in einem herrlichen blau. Es war richtig warm – fast schon erdrückend heiß. Unter dem Beifall von geschätzten fünfhundert Zuschauern am Bahnhof passierten wir zum zweiten und letzten Mal das Ziel, ohne alle Karten auf den Tisch zu legen. Beim nächsten Mal würde das mit Sicherheit anders kommen.
Zehn Fahrer, also ein Drittel aller Teilnehmer, hatten noch eine Chance den Sieg zu holen – auf dem letzten Drittel des Rennens. Und wahrscheinlich würde es jetzt erst recht einer der hellblauen werden – einer dieser dreien. Die Zahlen sprachen für sie.
In Immenstadt und auf dem ersten Teil der Bundesstraße passierte weiterhin wenig. Die hellblauen machten immer noch das Tempo, welches bei weitem zu keinem Ausscheidungsverfahren genügt hätte.
Doch dann machte ihr Kapitän ernst. Es war wohl tatsächlich der, der in der ersten Runde am Berg attackiert hatte. Er tippte seinem Vordermann auf die Schulter – sie wechselten kurz ein paar Worte – der vordere nickte und rief dem ersten in der Reihe etwas zu. Obwohl ich an vierter Position fuhr, verstand ich aufgrund des Fahrtwindes kein einziges Wort. Doch deren Bedeutung wurde mir schnell klar. Zwar war das Tempo nicht ganz so hoch wie auf der ersten Runde, doch mit der nun einsetzenden Ermüdung mindestens genauso hart.
Allerdings war ich diesmal darauf gefasst und beschleunigte schon im Sitzen den kleinen Hügel in den Wald hinauf. Oben blickte ich zurück und sah den letzten Fahrer der Gruppe in Schwierigkeiten. Es ging wieder über dem See am Hang entlang. Dann folgte die kurze Abfahrt und die scharfe Kurve. Zum letzten Mal befanden wir uns auf der anderen Seite des Alpsees. Das Tempo war enorm. Doch ich hielt im stand. Es ging mir viel besser, als auf der ersten Runde. Ich schien mich tatsächlich in einen Rausch gefahren zu haben. Nicht so der letzte Fahrer der Gruppe. Er musste reisen lassen. Damit waren es also nur noch neun: Drei hellblaue, Svens alter Kumpel, drei unbekannte Fahrer, Sven selbst und ich. Wir vom RC Weißenhorn fuhren direkt hinter den hellblauen von Immenstadt. Sie kannten die Strecke in und auswendig und wussten genau, wo dem Gegner eine Attacke am schmerzhaftesten war.
Wir erreichten die Sturzstelle. Von den Ereignissen, die nun rund vierzig Minuten zurück lagen, war nichts mehr zu sehen. Die Kieselsteine in der Kurve waren sogar bei Seite gekehrt worden, wahrscheinlich wegen dem Eliterennen morgen, und so stand einem spannenden Finale nichts mehr im Wege.
Ich sollte es ganz entscheidend mit prägen. Diesmal fühlte ich mich dazu in der Lage. Der an der Spitze fahrende hellblaue machte Tempo – so wie er fuhr, war er am Limit. Ich fand den perfekten Gang für die ersten Meter des „Zaumberges“ – das Schild war mir erst jetzt ins Auge gesprungen – und setzte mich wie besprochen an die Spitze der Gruppe. Ungefähr zwei Stundenkilometer war ich schneller, als der führende hellblaue, der sofort nachgab, den Kopf schüttelte und sich zurück fallen lies – der war fertig. Aber das würde ich auch gleich sein. Jetzt diktierte ich nämlich das Tempo. Ja, ich! Ich diktierte bei einem offiziellen Rennen das Tempo!
Als mir das durch den Kopf schoss, schienen mir aus den Schulterblättern Flügel zu wachsen – das Tempo war mir zu langsam und ich legte noch einmal zu. Mein Tacho zeigte 18, 19, 19,5 und dann 20 Kilometer pro Stunde!
Jemand keuchte hinter mir. Sven war es nicht – es konnte nur der letzte Tempomacher der hellblauen sein. Das leise „fuck“ verlieh mir nur noch mehr Genugtuung und damit Energie. Ich zog voll durch und flog dem steilsten Stück förmlich entgegen. Ein paar Zuschauer klatschten begeistert – ein Hobbyradler lachte sogar als er mich vorbei rasen sah. Es war wie ein Traum! Meine Oberschenkel brannten – und wie! Ich war jetzt am Limit und mein Tacho zeigte 21 Stundenkilometer! Jetzt war ich wieder in der Ekstase des Stilfser Jochs. Diesem unheimlichen Geschwindigkeitsrausch. Zum ersten Mal seit Monaten kam mir dieser Alpenpass wieder positiv in Erinnerung. Welche Erfahrungen ich dabei gemacht hatte – diese Glücksgefühle der absoluten Kontrolle über das Renngeschehen!
Ich glaubte ungefähr fünfzig Meter vor mir Jörg Jaksche radeln zu sehen. Mein Rhythmus war noch nie so flüssig gewesen wie heute. Ich kam immer näher an den virtuellen Jaksche heran, ja, ich schoss gerade so an ihm vorbei. Ich nahm allen Schwung mit und bog um die nächste Kurve – doch das hatte ich ganz vergessen! Es warteten ja noch einmal die fünfzehn Prozent auf mich!
Ich schaltete runter – ich kam runter – ich musste mit dem Rest an Energie haushalten. Ein Blick zurück gab mir ein Fünkchen Hoffnung: Ich hatte bereits ein kleines Loch gerissen – fünf Meter – die zwei hellblauen mit gequälten Gesichtern an der Spitze – ein unbekannter Radler am Ende der Gruppe lag bereits einige Meter zurück. Meine Tempoverschärfung hatte also was gebracht!
Ich drehte mich wieder nach vorne. Und da hörte ich etwas hinter mir klicken – es summte – ein Ruf – ein Zuschauer klatschte einem anderen Fahrer zu – er war neben mir – er rauschte an mir vorbei! Es war Sven!
„Danke dir“, keuchte er, als er an mir vorbei jagte. Seine Stimme war nicht mehr als ein leises Krächzen, dennoch hatte ich die Worte deutlich vernommen. Damit war meine Arbeit getan. Jetzt konnte ich das Rennen für mich zu Ende fahren.
Doch da schoss noch einer an mir vorbei – und noch einer – der beutelte sein Rad aber schon arg hin und her. Es waren zwei unbekannte Fahrer. Ich lies mich zurück fallen. Jetzt war ich in der Gruppe mit den zwei hellblauen und Svens alten Kumpel. Der dritte unbekannte – der kleine – war jetzt noch weiter zurück gefallen – zwanzig Meter – der kommt nicht mehr zurück – jetzt schüttelte er den Kopf – das war’s für ihn.
Der vordere hellblaue opferte sich jetzt für seinen „Kapitän“ auf. Er schien keinen guten Tag erwischt zu haben. Wenn ich mir seine Attacke aus der ersten Runde jetzt noch einmal durch den Kopf gehen lies, dann wurde mir so einiges klar. Auch er hatte damals nicht gut ausgesehen. Er hatte kurz den Kopf geschüttelt. Und hatte relativ unrhythmisch in die Pedalen getreten. Durch meine Tempoverschärfung und Svens Angriff war er jetzt komplett eingebrochen. Und sein „Helfer“ sah auch nicht besser aus: Der gab sein letztes.
Jetzt wusste ich auch, warum die beiden, mit denen sich Sven jetzt sechzig, siebzig Meter vor uns in Form von kleinen Attacken herumstritt, nicht sofort reagiert hatten. Sie wollten sehen, ob der hellblaue mitgeht. Sven war ja kein unbeschriebenes Blatt. Da hätte der Immenstädter eigentlich schon mitgehen müssen, doch er hatte es nicht getan. Er hatte es nicht gekonnt. Der Sieg würde so also nur über Svens Gruppe gehen. Doch dorthin würden die Immenstädter nicht mehr kommen. Der letzte Helfer schüttelte den Kopf und nahm sprichwörtlich die Beine hoch. Ungläubig, ja fast vorwurfsvoll schaute ihm sein Kapitän hinterher. Jetzt musste er es selbst regeln. Ich fuhr in seinem Windschatten über die Kuppe, die kurze Abfahrt hinunter und die Gegensteigung hinauf. Hier griff Svens alter Kumpel an: Der Genickschlag für den hellblauen. Ich lies ihn stehen und versuchte Svens Kumpel zu folgen. Doch er schien noch so stark zu sein, um zu der Spitzengruppe aufschließen zu können. Ich versuchte dran zu bleiben, doch bevor der höchste Punkt der Strecke erreicht war, stagnierten meine Beine völlig und ich lies ihn ziehen.
Stattdessen schaute ich mich um: Der vorhin zurückgefallene Fahrer hatte bereits zu dem ersten Immenstädter aufgeschlossen. Doch sie waren weit zurück. Der zweite Immenstädter war nur wenige Meter von mir entfernt. Ich beschloss auf ihn zu warten, um in der Abfahrt und auf den letzten Kilometern einen Begleiter zu haben. Er hätte mich wahrscheinlich sowieso noch geholt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er das Rennen tatsächlich schon aufgegeben hatte.
In der Mittagssonne konnte ich Svens Trikot am Waldrand verschwinden sehen. Es waren wohl doch schon dreißig Sekunden Differenz. Ich schaute auf die Uhr meines Tachos. Meine Schätzung war gar nicht so schlecht. 26 Sekunden waren es, die mir zur Spitze fehlten.
In der Abfahrt überlies ich meinem Gefährten die Verantwortung. Er ging volles Risiko und ich hielt einen gebührenden Respektsabstand, verlor aber zu meiner eigenen Überraschung den Anschluss nicht. Mittlerweile hatte ich mein Rad gut unter Kontrolle. So sehr wie heute, würde ich mich nie wieder weiterentwickeln können – in jeder Hinsicht, das war mir klar. Trotzdem war das Rennen schon jetzt ein voller Erfolg für mich. Auch wenn ich jetzt nur noch ins Ziel kommen wollte, um den Strapazen ein Ende zu setzen.
Wir bogen auf die Bundesstraße ein. Hier konnte man, wie ich es erwartet hatte, tatsächlich alles gut überblicken: Ganz, ganz weit vorne kämpfte ein einsamer Radler gegen den Wind – dann kamen seine zwei Verfolger – Svens rotes Trikot konnte ich dort erkennen – und, was mich völlig baff machte: Svens Kumpel war nur noch wenige Meter von dem Verfolgerduo entfernt.
Schließlich lief vorne alles zusammen. Vier Fahrer an der Spitze und auf dem leicht ansteigenden Terrain gab es immer wieder Angriffe. Ich konzentrierte mich fast mehr auf Svens Rennen als auf meins, doch dann waren die vier zwischen den Häusern verschwunden. Ich stoppte wieder die Zeit: 18 Sekunden!
Mein Begleiter machte die ganze Arbeit alleine – ich hatte ja keinen Grund dazu zu führen, aber er machte seine Sache wirklich gut. Obwohl er die Zeit eher in der Abfahrt herausgeholt haben dürfte, aber das konnte ihm ja egal sein. Zum Sieg konnte es auf jeden Fall nicht mehr reichen, denn wir passierten gerade das Schild am Straßenrand, welches die letzten 1000 Meter ankündigte.
Mich interessierte jetzt eher das Geschehen hinter uns: Ungefähr fünfzig Meter fehlte dem Duo, obwohl der hellblau dort genauso wenig tat wie ich hier. Noch weiter hinten, um genau zu sein, in unerreichbarer Ferne glaubte ich den Fahrer zu erkennen, der noch vor dem letzten Berg abgehängt worden war. Vom Rest des Feldes fehlte noch jede Spur.
Wir beide passierten jetzt die zwei Kreisel und die letzte Kreuzung an der Bahnlinie. Die Zielgerade lag vor uns und wir fuhren unter dem Fußgängerüberweg hindurch. Es folgte der leichte Rechtsknick am Bahnhofsgebäude vorbei und die letzten zweihundert Meter mit Transparent lagen vor uns!
Der Sprint wurde von meinem Kontrahenten entfacht. Er wurde gebührend empfangen und wollte sich hier keine Blöße geben. Zunächst war ich überrascht, wie viel Energie immer noch in ihm steckte, doch ich gewann schließlich Meter um Meter in seinem Windschatten zurück und zog auf den letzten vierzig Metern an ihm vorbei – es fehlten nur noch ein paar Zentimeter – dann hatte ich ihn geschlagen und jubelte wie über einen Sieg!
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Valverde3007
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Beitrag: # 6744194Beitrag Valverde3007
7.11.2008 - 17:41

Wow!
Was für eine Länge und was für eine Qualität dazu. Mehr als 4000 Wörter und trotzdem kurzweilig. Ein ziemlich guter Spannungsbogen, mit den Spitzen am richtigen Zeitpunkt und dem entsprechenden Inhalt gefüllt. Ein schönes, offenes Ende.
Kein optisches Geplänkel mehr, sondern Story und Radrennen pur. Ein sehr gut zu lesendes Rennen.
Und wenn ich gerade schon am Schreiben bin, noch ein kleiner Kommentar zum Rest des AARs:
Die Story ist allgemein sehr gut aufgebaut, man weiß ungefähr, wo der Weg hingehen wird, aber die Details kann man mit Spannung erwarten. Der Charakter wird ganz gut ausgebreitet, er gewinnt Kapitel für Kapitel weiter an Konturen und scheint ja ein ganz sympathisches Kerlchen zu sein. Die Sprache ist auch in Ordnung, man kann es in einem Rutsch lesen, wozu natürlich auch die allgemeine Spannung des AARs beiträgt, ohne groß auf Unklarheiten zu stoßen auch Variabilität ist gegeben. Dazu eine Konstanz um die ich dich beneide, so schnell schaffe ich es nicht mich zu motivieren so viel zu schreiben.
Man freut sich auf die Fortsetzung.

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