Krimis aus dem hohen Norden
Der Boom der skandinavischen Krimis!
Teil 4 - Dänemark, Island & Färöer
Dänemark
Eigentlich ist Dänemark eine echte Krimi-Hochburg, allerdings sind erst recht wenige der dänischen Kriminalromane zu internationalen Ehren gekommen. Doch im Zuge des Skandinavien-Booms ändert sich das so nach und nach.
Die Dänen sind die Südländer Skandinaviens, denn sie gelten als besonders weltoffen und dem süßen Leben gegenüber aufgeschlossen. Das merkt man auch an ihrer Krimikultur.
In den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts hieß, zumindest für Fernsehzuschauer, Krimis aus Dänemark gleich "Olsen-Bande", also Krimi-Klamauk. Ich möchte Egon, Benny und Kjell nicht schlechtmachen, keineswegs, doch bereits zu jener Zeit gab es mehr als Kriminalkomödien in Dänemark.
Ein Vertreter des "neuen skandinavischen Stils" war
Poul Ørum, sozusagen Dänemarks Sjöwall/Wahlöö in einer Person. Wie beim Schweden-Paar zeigten auch seine Krimis ein hohes soziales Engagement und psychologische Tiefe in der Beschreibung der Figuren, sowohl, was die Kriminellen als auch die Kriminalen angeht (die Romane schrieb er zwischen 1965 und 1973, etwa zur gleichen Zeit wie die Schweden). Jonas Mørk war der ermittelnde Kommissar. Doch offenbar war die Krimiwelt noch nicht bereit für einen zweiten Martin Beck. Zwar sind in Deutschland mehrere Romane Ørums erschienen, alle zu Beginn der Achtziger, keines davon jedoch bekam eine Zweite Auflage. Die erste Auflage erhält man höchstens noch auf Flohmärkten oder bei Internet-Börsen.
Der Vollständigkeit halber seien die Titel erwähnt.
Galgenfrist erschien als erster Ørum-Roman in deutscher Sprache. Es handelt sich jedoch eher um ein Märchen als um einen Krimi. Mit
Einer soll geopfert werden ging es los, es folgten
Der Schatten neben Dir und
Nach Einbruch der Dunkelheit, alles beste skandinavische Krimikost.
Blinde Fenster,
Am kritischen Punkt und
Das elfte Gebot tendieren schon sehr in Richtung Thriller, wenngleich ohne allzu temporeiche Geschehnisse. Die Action kommt schließlich beim Roman
Die letzte Flucht dazu, den man getrost als den besten Ørum-Roman bezeichnen kann!
Ein Großer der dänischen Szene ist
Leif Davidsen, ehemaliger Journalist und Korrespondent (in Moskau und Madrid), inzwischen nur noch Schriftsteller. Sein Metier sind lupenreine Thriller mit einem Hauch von Spionage und Verschwörungstheorie, aber in einer gesunden, nicht esoterischen Portion. Drei seiner frühen Romane gehören zur sogenannten Moskau-Trilogie und sind bislang nicht auf Deutsch erschienen. Ferner gibt es das sogenannte Spanische Duo, dessen zweiter Teil auf Deutsche erschienen ist. Allerdings gehören diese Romane nicht wirklich zusammen, Buch Nr. 1, sein allererster Krimi, stammt aus dem Jahre 1984, Nr. 2 ist von 1997! Einige Figuren tauchen in beiden Romanen auf, es gibt kaum Handlungsüberschnitte.
Das 2. Buch,
Der Augenblick der Wahrheit, ist ein leidlich guter Thriller. Es hat leider einige Schwächen in der Logik der Story, ist aber spannend und enthält die richtige Mischung aus Politik, Halbwelt, Korruption und Verschwörung, dazu einen Helden, der als Paparazzo sein Geld verdient, also auch nicht gerade ein Kind von Traurigkeit ist.
Die typische Davidsen-Mischung enthält auch der Polit-Thriller
Der Fluch der bösen Tat, ein schnell verschlungenes Buch, daß den Leser durch Tempo bei Laune hält.
Die guten Schwestern könnte man als traurige Familiengeschichte ansehen, die aber durch die Verstrickung in komplexe politische Geschichten auch eher zum Polit-Thriller geriert. Für mich etwas zu langatmig, aber mit viel Gefühl geschrieben.
Der Feind im Spiegel wirkt zunächst etwas überfrachtet, da hier mehrere reale Geschichten wie der 11. September mit einfließen, die Handlungsfäden werden aber so geschickt geknüpft, daß nicht nur ein nahezu kosmopolitischer Thriller daraus wird, sondern auch Davidsens bester Roman!
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Kommen wir zu dem dänischen Kult-Autor, zu "Onkel Danny", wie er auch liebevoll genannt wird.
Dan Turèll war eindeutig die Nummer 1 unter Dänemarks Krimiautoren. Leider verstarb er, erst 47-jährig, 1993. Aber er hat Dänemark und der Welt ein großes Œuvre hinterlassen. Schwarzer Humor, Ironie und viel Liebe für seinen Stadtteil Vesterbro sowie Gespür für dänische Eigenarten zeichnen seine Bücher aus, sein Genre ist der "Privatschnüffler"-Roman, denn diese uramerikanische Spezialität hat er wunderbar nach Kopenhagen verlagert und ihr den dänischen Anstrich verpasst.
Turèlls Serienheld ist ein Ich-Erzähler, dessen Namen man nie erfährt. Ein Mann, der mehr schlecht als recht von seinen Verdiensten als freier Journalist eines großen Kopenhagener Boulevardblatts lebt, und der sich lieber in den Bars und Cafés seines "Kiezes" Vesterbro aufhält als einem geregelten Zeitvertreib nachzugehen, wenn man denn Trinken nicht als solchen ansehen sollte.
Der Namenlose hat ein Problem. Ständig stolpert er unfreiwillig über Leichen, zumeist Mordopfer. Das bringt ihn im ersten Fall dieser Art unter Mordverdacht, aber sein späterer Kumpel Kommissar Ehlers von der Kripo hilft ihm aus der Patsche. Von da an sind die Beiden ein seltsames Gespann, ein "Pärchen wie Paul und Klärchen"!
Man muß die beiden Hauptfiguren schon mögen, genauso, wie man Kaschemmen, billige Absteigen und Vesterbro (Kopenhagens Neukölln) mögen sollte. Man sollte auch einen feinen Sinn für teils derben, teils schwarzen Humor haben. Dann, und nur dann wird man Turèlls Romane lieben.
Besondere Empfehlungen in dieser Reihe auszusprechen, fällt mir schwer. "Kennste einen, kennste alle" trifft es zwar ganz gut, dennoch sind alle Romane doch wieder verschieden. 9 Stück (in Deutschland) mittlerweile. Alle haben einen Titel, der mit "Mord ..." beginnt.
Um einigermaßen in die Szenerie reinzukommen, sollte man den ersten Roman,
Mord im Dunkeln, gelesen haben. Der 3. Band,
Mord auf Malta, ist der einzige, der nicht überwiegend in Vesterbro spielt. Da er außerdem etwas mehr Einblick in die Vergangenheit des Protagonisten gibt, sollte auch er gelesen werden. Band 4,
Mord am Rondell, ist ein überraschend spannender Hammer. Der fünfte Roman,
Mord im März, ist sehr witzig und auch überdurchschnittlich dicht von der Atmosphäre her. Danach hat sich eine gewisse Schreibroutine eingeschlichen, so daß die überraschenden wie die lustigen Momente etwas weniger werden. Im Februar erscheint nun auch Band 9 auf Deutsch,
Mord im Straßengraben, welcher auf jeden Fall auf meinem Merkzettel steht!
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Eine dänische Krimiautorin, welche ebenfalls die "neue skandinavische Welle" vertritt, ist
Kirsten Holst. Leider kann ich nur ihren Namen erwähnen, da ich noch keines ihrer bislang 7 Bücher gelesen habe. Aber mir wurde glaubhaft versichert, daß sie eine hintergründig witzige Erzählerin ist und die Bücher durchweg sehr spannend seien! Ihre Spezialität sind Power-Frauen vom Lande.
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Island
Die einsame atlantische Vulkaninsel hat einen ganz besonderen Menschenschlag hervorgebracht, der bei genauerer Betrachtung als besonders typisch skandinavisch gelten kann. Auf der 300.000-Einwohner-Insel duzt jeder den anderen und nennt ihn fast ausschließlich beim Vornamen, denn vermutlich ist auch jeder mit jedem irgendwie verwandt. Trotz dieser Familiarität treiben Einsamkeit und Verschrobenheit extreme Blüten. Ebenso verhält es sich mit dem Verbrechen. Irgendwie sind die Gewaltverbrechen auf Island zwar sehr selten, dafür aber besonders extrem, besonders schlampig und besonders eklig. Von daher haben auch die Kriminalromane der Insel diese Attribute verdient, denn auch die Bullen und die Schnüffler sind ausgesprochen seltsame Typen.
Die Island-Welle kam mit
Arnaldur Indriðason nach Mitteleuropa. Der frühere Filmkritiker und Journalist hat fast alle nordischen Krimipreise eingeheimst und gilt als Kandidat für den nächsten isländischen Literaturnobelpreis. Ihm ist es gelungen, mit dem Reykjaviker Ermittlerteam um Kommissar Erlendur (Sveinsson) und die Assistent/inn/en Sigurður Óli und Elínborg eine ganz spezielle Krimi-Serie zu kreieren. Erlendur ist ein wahrer Stinkstiefel, mit sich und der Welt unzufrieden. Seit Ewigkeiten geschieden und mit erwachsenen Problemkindern "gestraft" (sein Sohn ist Alkoholiker, seine Tochter drogenabhängig), trägt er außerdem ein Uralt-Trauma mit sich herum und man fragt sich, wie solche Gestalten überhaupt in den Polizeidienst gelangen konnten?
Aber Erlendur ist ein herausragender Ermittler, seine Spezialität sind Verbrechen, die oftmals weit in der Vergangenheit zurückliegen. Die sterblichen Überreste der Opfer sind demnach sehr spärlich, Skelette oder gar nur einzelne Knochen, die Umstände der Verbrechen liegen im Dunkeln. Erlendur entwickelt bei diesen Fällen eine besondere Zähigkeit, die zumeist Licht ins Dunkel bringt. In den Romanen werden immer wieder Rückblenden zu diesen Verbrechen eingebaut, die dem Leser auch erst nach und nach Aufschlüsse geben, bis der Zusammenhang mit den aktuellen Ermittlungen klarer wird.
Manchmal nervt es schon, wenn Erlendurs tiefschwarzes Seelenleben exzessiv beschrieben wird. Andererseits braucht es aber eine Erklärung für seine zuweilen auftauchende soziale Inkompetenz. Gelegentlich ist man geneigt, zu sagen:
"Harte Schale, weicher Keks!" Jedoch muß man auch festhalten, daß die Figur Erlendur in vielerlei Hinsicht an sich arbeitet und nach und nach auch Sympathiepunkte einheimsen kann.
Vom kriminalistischen Standpunkt her, sind jedenfalls alle 5 Erlendur-Romane, der sechste kommt im nächsten Frühling, sehr gute Bücher, bei denen es zwar oft sehr langsam vorangeht, aber selten die Spannung verloren geht. Die Handlung ist stringent, die Umgebung stimmt und auch die etwas "widerlich" düstere Stimmung gehört dahin. Viel kann man jedenfalls an der Machart der Werke nicht aussetzen.
Der erste Erlendur war
Menschensöhne, bereits ein toller Krimi, dessen Schluß zwar etwas ins Futuristische abzurutschen droht und somit seltsam erscheint, der aber dennoch viel Spannung und Stimmung bietet. Kein Reißer, das erwartet auch niemand, aber irgendwie dann doch reißerisch.
Nordermoor, Erlendur-Krimi Nummer 2, hat viele Preise bekommen, und das zurecht. Hier stimmt wirklich alles, sogar die leicht philosophischen Ansätze am Schluß. Band 3,
Todeshauch, hält dieses sehr hohe Niveau und bringt auch noch die private Note besser ins Spiel, denn während der Zeit der Ermittlungen in einem uralten Fall muß sich Erlendur mit der Gegenwart beschäftigen - seine Tochter Eva Lind ringt nach einer Fehlgeburt auf der Intensivstation mit dem Tode!
Engelsstimme ist ein schöner Weihnachtskrimi, für dessen Auflöung der Leser schon auf jede Nuance und jedes Detail achten sollte. Bislang mein Lieblingsroman!
Kältezone spielt mit einem Teil der isländischen Vergangenheit, welcher vermutlich noch nicht einmal den Isländern besonders bekannt sein dürfte. Traurigkeit, Spannung und Rückblende lösen einander ab, dazu kommt die isländische Geschichte während des "kalten Krieges". Ein weiteres Meisterwerk!
Aber Indriðason hat auch noch andere Romane geschrieben. Über den einen hülle ich lieber den Mantel des Schweigens, jeder macht mal Fehler. Der andere hingegen,
Gletschergrab, ist ein Thriller von durchaus internationalem Format. Wenngleich die Heldin des Buches, eigentlich eine "Sesselpupserin" im Außenministerium, für meinen Geschmack zu cool agiert, so stimmt der Rest jedoch. Eine Hintergrundgeschichte, die es in sich hat, ungewöhnlich viel Action, eine schöne, spannend gehaltene Story und ein Überraschungsmoment zum Schluß. Schönes Buch!
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Kommen wir zu
Stella Blómkvist. Ein Pseudonym. Zu wem es gehört, konnte bislang nicht gelüftet werden. Jedenfalls verfügt Blómkvist über enormes Insiderwissen, was den Verdacht nahelegt, sie könne eine bekannte Persönlichkeit des öffentlichen Lebens sein, eventuell eine Politikerin?
Die Hauptfigur ihrer bislang 4 Romane heißt auch Stella Blómkvist und ist eine alleinstehende, gut aussehende Anwältin. Sie ist keinesfalls nonchalant. Im Gegenteil, wenn es darum geht, einen flotten Spruch zu machen, ist sie die Erste. Oftmals rettet sie ihre Schlagfertigkeit auch in heiklen Situationen. Ihre "Fälle" spielen sich sehr oft im VIP-Millieu ab. So geht es um Ministeriums-Angestellte, die tot im Plenarsaal liegen, Moderatorinnen, die vergiftet vor laufender Kamera zusammenbrechen, eine tote Prostituierte im Zimmer des obersten Richters und Neonazis in hohen Positionen.
Die sehr hohen Auflagen der Bücher verkaufen sich in ganz Skandinavien ausgezeichnet. Stella ist aber auch eine Figur, die alles vom Leser fordert. Bei der Polizei sind ihre Alleingänge gefürchtet, gerät sie doch nicht selten dabei in größte Gefahr. Wer flotte Geschichten über Korruption, politische Intrigen und Eifersüchteleien mit dekadenten High-Society-Ekeln mag, ist bei diesen Büchern genau richtig. Am Stil könnte noch etwas gefeilt werden, aber vielleicht kommt das ja noch. In deutscher Sprache sind bislang erhältlich
Die Bronzestatue,
Das ideale Verbrechen,
Der falsche Mörder und
Der falsche Zeuge. Allesamt Bücher, die man in einer langen schlaflosen Nacht verschlingen kann!
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Viktor Arnar Ingólfsson ist Hobbyschriftsteller. Er ist Bauingenieur und arbeitet bei der isländischen Straßenverwaltung. Er stammt vom Lande, aus Akureyri im Norden Islands, um genau zu sein. Er schreibt so nebenbei schon lange Bücher, darunter auch Thriller. In Deutschland kam er erst im Gefolge von Indriðason auf den Markt. Allerdings mit einem richtigen Hammer.
Das Rätsel von Flatey ist so ziemlich das Beste, was ich bisher an Krimis gelesen habe. 1961: Flatey ist eine kleine Insel (500 m x 1,5 km) im großen Westfjord vor Island. Und genau hier spielt der Roman. Es gibt einen Toten auf einer unbewohnten Nachbarinsel, einen dänischen Professor, der vor etwa einem halben Jahr Flatey besucht hatte, um das berühmte 'Rätsel von Flatey' zu lösen. Dabei geht es um das wichtigste Werk des isländischen Mittelalters, einer Schriftensammlung namens Flateyjarbok. Diese hatten die dänischen Kolonialherren nach Kopenhagen gebracht, um sie zu erforschern, aber bis 1961 nicht nach Island zurück gebracht (inzwischen ist es wieder da, wo es hingehört). Zu diesem Buch gibt es einen Rätselcodex, welcher jedoch auf Flatey liegt. Dieses Rätsel darf nur in den Räumen, wo es beherbergt wird, gelöst werden und es dürfen keine Abschriften davon gemacht werden ...
Eine ungeheuer stimmungsvolle und spannende Geschichte entspinnt sich. Das Ganze wird verwoben mit alter isländischer Mythologie und erhält somit eine Dichte, wie ich es bei Krimis noch nicht erlebt habe. Bei diesem Buch stimmt einfach alles. Setting, Plot, Story. Die Protagonisten werden wundervoll beschrieben, die Landschaft und das karge Leben dort. Zu guter Letzt wartet auch noch eine überraschende Auflösung auf die Leser, welche einen schaalen Beigeschmack hinterlässt.
Lest es, Leute! Es lohnt sich wirklich.
Der andere Krimi,
Bevor der Morgen graut, ist eine vollkommen andere Geschichte und in ganz anderem Stil gehalten. Schnell, stringent chronologisch, Action-geladen. Aber alles in allem um Längen hinter Flatey zurück.
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Der Vollständigkeit halber sei noch der einzige föringische Krimi-Autor,
Jógvan Isaksen, erwähnt! Sein Buch,
Endstation Färöer, kann eigentlich nur etwas für eingefleischte Exotenkrimi-Freunde sein bzw. für Freunde der Inseln im Nordatlantik! Zumindest die rauen Lebensbedingungen dort werden sehr gut und pittoresk geschildert. Für eine halbwegs interessante Story hat es auch noch gereicht. Man kann diesen Krimi lesen, ohne sich dabei etwas zu vergeben. Man vermisst es aber auch nicht, wenn man ihn nicht gelesen hat! Immerhin bereichert der Roman, der bereits 1975 geschrieben wurde, die skandinavische Krimi-Szenerie um eine weitere Nuance.