Robert schob eine verblasste Holzplanke mit den Füssen zur Seite: Eine kleine Aushöhlung im ehemaligen Geltschergrund kam zum Vorschein. Darin lagen zwei kleine Rucksäcke – der eine weiß-blau und der andere weiß-rot – beide mit dem Emblem der schwarzen Pfote auf gelbem Grund versehen.
Robert packte einen der Rucksäcke und drückte ihm einen von seinen beiden Begleitern in die Hand. Wie gut konnte er sich noch erinnern, wie er beide Rucksäcke hier wenige Tage zuvor versteckt hatte – endlich kamen sie zum Einsatz. Den zweiten drückte er dem anderen in die Hand – er kannte ihre Namen nicht. Das war ihm auch egal. Jetzt zählten Informationen und deren korrekten Ausführungen. Und nicht die Namen der Beteiligten. Im schlimmsten Falle könnte die Unwissenheit sogar noch von Nutzen sein. Aber daran wollte und sollte er jetzt besser nicht denken.
„Ihr seid ja für den Einsatz heute ausgebildet worden – nehme ich an“, sagte Robert und legte die Holzplanke wieder auf das leere Versteck.
Beide nickten. Sie schienen sichtlich angespannt zu sein. Doch dafür hatte Robert jetzt keine Zeit. Er blickte auf die Uhr: Halb zehn. Sie waren tatsächlich etwas zu früh dran.
„Gut. Um Punkt 11 Uhr legt ihr die Rucksäcke an diesen Punkten hier ab...“ Er holte einen Zettel aus seiner Hosentasche, entfaltete ihn und zeigte auf zwei markierte Punkte. Beide lagen natürlich außerhalb von Südtirol.
„Ihr wisst ja wie man sie platziert, also wäre damit alles geklärt...bis auf eines: Wenn ihr die Rucksäcke auf Position gebracht habt, dann gebt Florian Bescheid – er hat die Zünder und die gehen um Punkt 11:15 Uhr los – egal wo und wie.“
Er nickte den beiden zu, die sich mit angsterfüllten Blicken die Rucksäcke umwarfen. Sie erschauderten und drückten den Rücken durch, als wollten sie dem Inhalt der Taschen nicht zu nahe kommen.
Mit einem Wink forderte er die beiden auf zum Gehen. Er selbst wartete noch einen Augenblick. Zur Sicherheit wollte er erst die übernächste Bahn nehmen. Die Passhöhe konnte er von hier nicht sehen, nur die Gletscherlandschaft des Ortlers – mit 3905 Meter der höchste Berg Südtirols. Seine Heimat lag direkt vor ihm und sie glänzte wie immer in voller Pracht.
Er setzte sich und lauschte der Einsamkeit, den Wasserfällen und den Krähen, die über ihm kreisten. Das Sonnenlicht schien schmale Tal tief unter ihm entlang. Dort lag Trafoi. In diesem Dorf wurde er vor 25 Jahren geboren.
Dorfkirche von Trafoi.
Eine Stunde später stand er wieder auf der Passhöhe. Es herrschte bereits reger Betrieb. Eine Bühne war aufgebaut worden auf der später Bands und Musikgruppen aus der Region spielen sollten. Ein Moderator leitete die Showeinlagen und würde später auch die ersten Radfahrer begrüßen. Jetzt faselte er immer das selbe Zeug: Daten zum Pass und der Region und natürlich Werbung für dieses Restaurant und jene Firma. Dazwischen wurde immer wieder Musik eingespielt. Robert schätzte die Zahl der Touristen bereits jetzt auf 300. Doch diese Zahl wird in den folgenden Minuten rapide ansteigen.
Zum Zeitvertreib kaufte er sich an einem Stand ein paar Bratwürste. Immer mehr Menschen strömten auf die Passhöhe. Schließlich erreichten die ersten Radler aus Bormio und der Schweiz das kleine Dorf. Kurz darauf die ersten von Südtirol aus: Zuerst ein ganz junger kämpfender Hobbyradler und der zweite kam Robert aus irgendeinem Grund bekannt vor. Seine Art wie er müde lächelnd die Passhöhe erreichte, weckten Verachtung in diesem Menschen. Da war ihm der Jugendliche viel sympathischer.
Überraschenderweise kam für lange Zeit kein weiterer Fahrer. Robert ging also nach vorne in die letzte Kurve und blickte nach unten auf die letzten Kehren.
Das gewohnte Bild und schließlich ging es Schlag auf Schlag. Eine nicht enden wollende Schlange von Hobbyradlern kroch über die Passhöhe hinweg. Einige blieben um zu rasten. Mittlerweile war es gerammelt voll.
Robert packte die Angst. Er hatte die Uhrzeit völlig vergessen: 11:14 Uhr. Er musste schleunigst hier weg. So schnell wie möglich bahnte und schubste er sich einen Weg zur Radabgabestelle, zückte Coupon mit der Nummer 13 und erhielt sein altes blaues Rennrad zurück. Seine Hände zitterten vor Aufregung. Was war bloß mit ihm los? Auch den Coupon erhielt er zurück...
Knall!
Rad und Coupon glitten ihm aus der Hand. Alle um ihm herum hielten den Atem an. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er war plötzlich wie versteinert. Kinder begannen zu schreien, zu weinen, auch einige Erwachsene brachen in Panik aus. Alle starrten in die Richtung zu den Supermarktfassaden. Robert wagte es nicht sich umzudrehen. Sein Gewissen plagte ihn so sehr.
Knall!
Er presste die Augen zusammen, während er sich nach seinem Rad bückte. Das war so furchtbar nahe gewesen! Kleine Steinchen schlugen prasselnd auf seinen Kopf und auf alle anderen ein.
Die geschmiedeten Pläne hatte er bereits vergessen. Er war mit den Nerven völlig am Ende. Menschen begannen zu schreien – nie hatte er sich das so schrecklich vorgestellt. Bisher war er doch immer nur für die Theorie zuständig gewesen – eiskalt.
Panik brach aus. Die Sirenen von Polizei und Krankenwagen machten das Szenario perfekt.
Robert wurde umgerannt. Schützend hielt er sich die Hände über den Kopf – Füße traten nach ihm. Die Pedale seine Rads drückte sich in seinen Hüfte. Schmerzverzerrt wälzte er sich am Boden, bis er eine Hand auf seiner Schulter spürte, die ihm wieder auf die Beine half.
„Danke“, sagte er nur, doch der Helfer war bereits verschwunden. Zumindest war es in dem Gedränge um ihn herum unmöglich denjenigen auszumachen.
Robert blickte in die Gesichter der Menschen: Angst, Ungewissheit, Schrecken, Tränen. Er hatte doch all das erreicht, was er sich vorgenommen hatte: Angst und Schrecken zu verbreiten um Aufmerksam zu machen.
Aufmerksam machen! Das war nicht seine Aufgabe, doch ohne ein Zeichen war alle Arbeit um sonst. Verzweifelt blickte er sich um. Das konnte doch nicht sein – hatte er das den beiden nicht gesagt?
Nein. Er hatte es vergessen. Wie konnte ihm das nur passieren. Sein Fehler. Die Organisation würde ihn lynchen, zerfleischen und womöglich sogar rausschmeißen. Nein! Das konnte doch alles nicht wahr sein. Er musste irgendetwas tun. Irgendetwas. Noch bevor er sich etwas überlegt hatte, bleib sein suchender Blick auf dem Dach der Supermarktfassade kleben. Dort stand jemand. Direkt am Rand. Dieser jemand hatte sich mit einem Pulli mit Kapuze provisorisch vermummt. Dieser jemand war relativ klein – die Haltung kam ihm bekannt vor.
Das war Fabian! Er kannte doch seinen alten Freund. Aber was hatte er vor? Er schien auf etwas zu warten. Er lauerte wie eine Katze, die den richtigen Moment abpasste um zu zuschlagen. Erst jetzt bemerkte Robert den kleinen Rucksack auf dem Rücken seines Freundes – das Ersatzpräparat!
Das konnte er nicht zulassen! Er stürmte los. Ungestüm verschaffte er sich Platz und bahnte sich seinen Weg auf die andere Straßenseite. Sein Rad hatte er vergessen – nichts war jetzt wichtiger als Fabian. Er durfte es einfach nicht zulassen, dass sich sein Freund Opfern würde. Nur weil er einen Fehler begangen hatte.
Noch immer hielt Fabian nach irgendetwas Ausschau. Wie gebannt starte Robert nach oben. Er könnte es sich nie Verzeihen seinen Freund jetzt auch nur für eine Sekunde aus den Augen zu lassen.
Dann stieß er mit den beiden Männern in Uniform zusammen. Sein Herz schlug ihm wieder bis zum Hals. Er schluckte, als sich die beiden zu ihm umdrehten. Auch sie hatten ihre Blicke auf Fabian gerichtet, glaubte Robert.
„Haben sie die Durchsage nicht gehört? Hier gibt es nichts zu sehen. Verlassen sie einfach die Passhöhe“, meinte der größere von beiden in perfektem Italienisch.
Robert jagte in eiskalter Schauer über den Rücken. Am liebsten hätte er dem Italiener gehörig die Fresse poliert, doch er war wieder wie versteinert.
„Haben sie nicht gehört? Verlassen sie die Passhöhe“, wiederholte der kleine eindringlich und zeigte in Richtung Südtiroler Seite.
„Warum darf ich nicht in die Richtung?“ Sprudelte es aus Robert heraus. Er war sich seiner Worte nicht bewusst gewesen und verfluchte sich auf der Stelle für seine erbärmliche Frage.
„Bitte. Gehen sie dort rüber, ja!“, rief der kleine und zeigte wieder in die selbe Richtung. Alle anderen um sie herum strömten weiterhin im Schneckentempo in diese Richtung. Robert konnte nicht weg. Er war zu sehr auf seinen Freund fixiert. Er verfiel in eine Art Trance und stellte sich mit der nächsten Aussage selber ein Bein: „Aber ich muss noch auf meinen Kumpel warten.“
„Bitte. Verstehen sie doch! Gehen sie einfach in diese Richtung!“
„Nein. Dort oben bin ich doch viel sicherer.“
„Was reden sie da? Warum wo...“
„Wart mal“, unterbrach der große den kleinen. „Dort oben, sagten sie?“
Robert wusste nicht wie ihm geschah. Er hatte nun vollkommen die Kontrolle über seinen Körper verloren und deutete einfach nur auf Fabian. Der große lächelte zufrieden und wollte etwas sagen, doch Fabian selbst kam ihm zuvor: „Da bist du ja, du Versager!“, schrie er und streifte sich den Rucksack ab.
Robert fühlte die Angst. Er musste sich seinem Schicksaal beugen. Er hatte es verdient so genannt zu werden – er war seinem Volk nicht würdig. Sang und klanglos würde er gleich von ihnen gehen.
„Was?!“, rief der kleine Polizist und fuhr herum.
„Sie kennen sich?“, rief der große.
„Klappe!“, schrie Fabian. Die umstehenden Leute wurden aufmerksam. Ja, Fabian nahm das Zepter in die Hand und würde es gleich verkünden. Robert fühlte sich wieder besser. Er erwachte ein wenig aus seinem Traum. Sein Blick wurde klarer. Sollte sich doch noch alles zum Guten Wenden?
„Robert! Du bist eines Südtirolers nicht würdig. Das war ein Anfängerfehler! So etwas dürfen und können wir uns nicht erlauben. Das weist du ganz genau. Und dafür wirst du bezahlen müssen. Aber ich habe mich da schon was überlegt...“
Robert musste schlucken – das konnte nichts Gutes heißen. Die beiden Polizisten schienen entweder nur Bahnhof zu verstehen oder warteten einfach nur ab – auf den richtigen Moment.
„Was hast du vor?“, rief Robert.
„Denk ja nicht, du wärst mein Freund! Das warst du noch nie!“, schrie Fabian und öffnete den Rucksack, während er starr nach unten blickte, was sein Unternehmen deutlich erschwerte. Fast alle Umstehenden blickten jetzt auf die Szene.
Robert stiegen die Tränen in die Augen – was hatte Fabian da gerade gesagt? Sein Blick trübte sich – der Tunnelblick. Er wollte etwas dagegen sagen, doch ihm fiel nichts anderes ein als: „Ich will sterben.“
„Das hatte ich gerade mit dir vor“, lachte Fabians Stimme in weiter, weiter Ferne. Wie in Zeitlupe flog der Rucksack durch die Luft, direkt in Roberts Arme. Einige schrieen, andere wollten davon springen, doch sie konnten nicht – sie waren in eine Falle getappt – wie Robert.