„Los! Jetzt sprinte mal wenn du wieder hier vorbeikommst!“
„Nein!“, rief ich ihm lautstark zu und hoffte, dass er es noch hörte. Mit einem Höllentempo raste ich vorbei. Ich hielt das Tempo noch die ganze Runde. Diese war 5km lang. Frank stand an einer kaum befahrenen Straße und gab mir nach jeder Runde die Zeit und eine Anweisung durch. Doch die letzte Anweisung gefiel mir gar nicht. Nicht nur dass ich schon ziemlich am Ende war, immerhin fuhr ich nun schon das fünfzehnte Mal die Runde, sondern auch weil ich einfach kein Fahrer bin, der kurze Zeit extrem hohes Tempo fährt, also sprintet. Ich fahre durchgängig hohes Tempo, aber halt keine Sprints. Außerdem sagte ich Frank erst gestern, dass ich mich entschieden habe und voll auf Zeitfahren trainieren will. Ich wollte zunächst mal sehen, wie ich überhaupt klarkomme und erst dann werde ich möglicherweise meine schwächeren Fähigkeiten verbessern. Sicherlich kann ich weder gut sprinten, noch Anstiege schnell hochkommen und noch weniger schnelles Tempo auf Schotter- oder anderen schlechten Straßen fahren. Aber das Zeitfahren ist mein Gebiet. Da möchte ich irgendwann der Beste der Welt sein. Das ist mein großes Ziel. Frank meinte, er verstehe meine Entscheidung und wird mich daher im Zeitfahren weiter verbessern. Doch er zeigte das nicht wirklich. Er ging meiner Entscheidung kaum nach. Ich wollte ihn darauf ansprechen, wartete allerdings noch ab.
Als ich nach der letzten Runde bei ihm anhielt, lobte er mich und machte weiter:
„Du René, ich habe mir überlegt, ob wir am Freitag nicht in den Harz fahren und am Sonntag wiederkommen. Dort könntest du perfekt deine Schwäche am Berg verbessern. Außerdem würde ich gerne sehen, wie du dich wirklich schlägst.“
Ich war geschockt. Ich wendete mich von Frank ab und ging ein Stück in die andere Richtung. Ich hörte Frank etwas wie „Das habe ich mir schon gedacht“ sagen. Ich drehte mich um und ließ es heraus.
„Sag mal verstehst du es nicht? Ich habe mich entschieden. Für das Zeitfahren und gegen deine Idee. Du hast mir die Wahl gelassen und sagtest, dass du dich darauf einstellen wirst. Und was machst du jetzt? Du entscheidest selbst und versuchst deine grandiose Idee durchzusetzen.“
„Aber René. Ich will nur dein Bestes.“
„Du willst mein Bestes, das Zeitfahren, verschlechtern. Das ist es was du gerade machst.“
„Nein. Habe ich dich in meinen Entscheidungen jemals enttäuscht? Habe ich je mit meinem Plan nicht das erreicht, was wir wollten?“
„Du sagst es- wir. Du hast mir die Entscheidung überlassen. Du sollst mich nur dahin bringen, wo ich hin will und dass so gut wie möglich, aber du sollst nicht entscheiden, was ich brauch! Du sollst mich dann in Form bringen, wann ich es will und mich da verbessern, wo ich es will!“
Ich schwang mich auf mein Rad und raste los. Ich wollte einfach nur weg. Ich hörte Frank noch nach mir rufen, doch dadurch wurde ich nur noch schneller. Ich fuhr in einem Höllentempo in Richtung Zuhause. Ich prustete voller Ermüdung und war noch völlig im Rausch, als ich die Tür betrat.
„Schatz? Was ist los?“
„Sei einfach nur leise und lass mich bitte in Ruhe.“
Wutentbrannt rannte ich ins Badezimmer. Ich hockte mich an die Badewanne und dachte kurz nach.
„René? Was ist denn... Hey meld dich doch mal!“
Sara klopfte an die Türe.
„Verschwinde!“
Ich sprang auf und stellte mich unter die Dusche. Ich hatte das Wasser auf kalt gestellt und ließ es an meinem Körper herunter laufen, als ich bemerkte, dass ich noch meine komplette Trainingskleidung trug. Doch das war mir jetzt auch egal. Das kalte Wasser kühlte meinen Körper und auch mich ab. Ich wurde wieder etwas ruhiger und dachte noch einmal darüber nach, was geschehen ist. Ich war entsetzt wie ich mit Sara und auch mit Frank umgegangen bin. Ich war zu hart mit Frank. Er hatte es nicht verdient so behandelt zu werden. Er hat mich jahrelang unterstützt und immer das richtige für mich getan. Er hat mich aufgebaut als ich am Boden war und ohne ihn wäre ich niemals so weit gekommen. Sara hatte ich ebenfalls zu Unrecht so schlecht behandelt. Sie konnte gar nichts dafür und ich hatte nur meine Wut an ihr ausgelassen.
Ich wusste, dass ich mich bei beiden entschuldigen musste. Also zog ich meine Sachen aus, duschte mich nochmals ab und zog mir dann einen Bademantel über. Sara lag schluchzend auf dem Bett. Ich wusste nicht um wen ich mich jetzt kümmern sollte. Frank oder Sara?! Ich entschied mich für Frank und gegen Sara. Nachher wusste ich nicht mehr wieso, aber der Radsport war mir in diesem Augenblick einfach wichtiger. Vielleicht war es auch wegen Marius, der mich als Radprofi und nicht als perfekten Liebespartner sehen wollte. Ich ging also ohne ein Wort zu sagen raus und fuhr mit meinem Rad zu Frank. Er wohnte in einer Eigentumswohnung im Zentrum Bremens. Im Prinzip war er arbeitslos. Er arbeitete eher ehrenamtlich im Verein und kümmerte sich um alle Fahrer. Aber vor allem ich und Marius waren seine Schützlinge. Ich schellte und sofort öffnete er mir die Tür.
„Ach René. Hast du dir schon einen neuen Trainer gesucht?“
„Frank… Kann ich reinkommen?“
„Aber selbstverständlich.“
Er bat mich im Wohnzimmer Platz zu nehmen und kam kurz darauf mit einem Formular zu mir. Er warf es mir hin und sagte: „Hier! Ist es das was du willst?“
Ich schaute mir das Formular an:
Team Adidas Columbus, USA Steve Edwards hat geschrieben:Vertragsangebot als Trainer für deutsche Fahrer des Team Adidas
Hiermit bestätigen sie die Einstellung, nach zuvor zugefaxten Konditionen, als Trainer aller deutschen Fahrer des Team Adidas.
Untendrunter war die Unterschrift des Teammanagers und auch die von Frank.
„Siehst du? Die Unterschrift ist schon trocken. Ich muss es nur noch zurückfaxen.“
„Das würde bedeuten, dass…“
„Ja, dass ich mich nicht mehr nur um dich kümmere und ich dir nur gelegentlich helfe, genauso wie allen anderen deutsch Fahrern im Team.“
Ich fand keine Worte mehr. Wollte er mich so hintergehen? Wollte er sich nun doch nicht mehr nur um mich kümmern? Ich war geschockt. Seine Unterschrift war schon drauf und somit hatte er sich schon entschieden.
„Willst du das?“
„…Nein… bitte nicht!“
„Dann zerreiß das Formular!“
„Wie?“
„Zerreiß es!“
Ich war mir nicht sicher, ob er es ernst meinte, überlegte noch kurz und zerriss das Blatt in drei Teile. Ich wusste nicht warum ich es tat. Ich überlegte nicht, ob Frank es wollte und ob ich ihm damit nicht viel kaputt mache.
„Entschuldigung. Ich wollte nicht…“
„Ich danke dir. Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Du hast das richtige getan.“
„Aber ich habe dir alles zerstört. Du würdest seit langem wieder fest angestellt sein und nun musst du dich weiter mit mir rumschlagen.“
„Nein. Ich bin froh, dass du das getan hast. Ich wollte eigentlich sowieso ablehnen, doch du hattest mir keine andere Wahl gelassen, dir zu zeigen, dass du mich brauchst. Also sind wir wieder Partner?“
„…Ja!“
„Okay. Und wie sieht es mit dem Training aus?“
„Bei der deutschen Meisterschaft und der WM möchte ich in Topform sein! Bring mich dahin!“
„Das ist ja mal eine Ansage. Und wie sieht es mit deiner Orientierung aus?“
„Entscheide du. Ich muss eingestehen, dass du am besten weiß, was für mich das Beste ist.“
„Ich habe deine Entscheidung ja verstanden, aber du musst auch einsehen, dass du nicht nur Zeitfahren trainieren kannst. Du musst mehr Härte bekommen und deswegen müssen wir auch mal an Anstiegen trainieren.“
„Ja, ich packe dann gleich die Koffer. Wir fahren morgen los in den Harz!“
Frank war erstaunt, das merkte ich sofort.
„Naja… Also in Ordnung. Ich kläre das ab. Meine Frau wird aber mitkommen. Sie hat dort Verwandte wohnen und bei ihnen können wir übernachten. Sara kann uns ebenfalls begleiten.“
„Wow. Du hast mal wieder alles geklärt und ich muss nur noch in die Pedale treten.“
„Ja. Das hab ich dir doch schon mal gesagt. Ich werde alles für dich erledigen, du musst nur noch trainieren.“
„Holst du uns bei mir ab?“
„Ja. Morgens um 10 Uhr.“
„Okay. Wir warten draußen.“
Wir verabschiedeten uns und Frank suchte noch sein Handy und wollte dann das Team Adidas anrufen und absagen. Erst als ich draußen war, merkte ich, dass Sara vielleicht gar nicht mitkommen wolle. Sie war bestimmt immer noch sauer und so überlegte ich mir etwas, damit ich sie umstimmen konnte. Doch dann hörte ich, wie Frank in der Küche mit dem Team telefonierte. Er sprach auf Englisch und ich konnte ihn durch das halb geöffnete Fenster gut hören.
„Es tut mir Leid Ihnen mitteilen zu müssen, dass ich das Vertragsangebot nun doch ablehnen muss. Ich habe nochmals mit René gesprochen und wir haben uns entschieden, dass ich mich nun endgültig voll und ganz auf ihn konzentrieren werde.“
Er hörte gespannt dem Anrufer zu und antwortete dann:
„Es ist nett von Ihnen, dass Sie dafür Verständnis haben. Aber ich denke, dass ich in der Sache möglicherweise etwas organisieren kann und außerdem werde ich mich selbstverständlich weiter im Team engagieren, doch zunächst ist René wichtiger.“
Es reichte mir. Ich wusste nun schlussendlich, dass er es Ernst meint und nur mich trainieren will. Er hat ein super Angebot ausgeschlagen, von dem er das Geld nicht nötig gehabt hätte, da seine Frau viel Geld von ihrem Vater geerbt hat, doch es hätte ihm sicherlich viel Spaß gemacht, möglicherweise mehr als jetzt. Ich ging zu meinem Rad und schaute auf die Uhr. Ich konnte es nicht fassen. Nicht die Uhrzeit war es, die mich zur Fassungslosigkeit trieb, sondern das Datum. Vor genau einem halben Jahr lernte ich Sara kennen. Ich hatte es vergessen. Im ganzen Trainingsstress vergaß ich das Datum unseres ersten Kennenlernens. Mir war klar, dass ich hätte alles versauen können.
Sofort machte ich mich auf den Weg zum Blumengeschäft und kaufte siebzehn, die Glückszahl von Sara, rote Rosen. Ich wusste, dass das nicht reichen würde und so fuhr ich auch noch zum Juwelier und entleerte fast mein ganzes Konto und kaufte eine wunderschöne Kette.
Der Tag verlief so doch noch glimpflich. Zwar war Sara immer noch etwas sauer, doch sie wusste, in welchem Stress ich derzeit war, immerhin waren die letzten Wochen so ereignisreich wie nie, und verzieh mir.
Schlussendlich war klar, wie die nächsten Wochen und Monate verliefen:
Zusammen mit Sara bezog ich eine Eigentumswohnung am Stadtrand Bremens, diesmal machte sie keinen Rückzieher. Ich trainierte nach Franks Plan und so hatte ich über den ganzen Winter eine entsprechend gute Form. Den Rennkalender verschoben wir jedoch nicht. Der Einstieg in West-Vlanderen blieb. Ich war mit dem Training hochzufrieden. Es belastete mich nicht zu sehr und außerdem merkte ich, wie ich stärker wurde. Frank sagte mir, dass das Team doch noch mehr deutsche Fahrer enthalten würde, konnte mir allerdings noch keine Namen nennen. Dann war da noch dieses Wochenende im Harz. Das Training war scheußlich. Ich musste mich jeden Anstieg hoch quälen und mit ansehen wie viele andere locker an mir vorbeifuhren. Der Höhepunkt war die Fahrt auf den Brocken. Vor allem der Wind setzte mir oben sehr zu und ich musste mit dem Auto runter. Ich hätte keinen Meter mehr geschafft. Dieser Trip machte mir klar, dass sich noch einiges bessern muss in Sachen bergauf, und auch bergab hatte ich teilweise Probleme und musste mich stark konzentrieren, damit ich mich nicht versteuerte. Im Großen und Ganzen war ich aber froh über die Erfahrung und wusste, dass Frank Recht behalten hatte.
Nun schaute ich in den Himmel und hörte die anderen hinter mir: „10, 9, 8, 7…“ Das Jahr 2008, das erste als Radprofi, konnte kommen. „Frohes Neues Jahr!“ Sara kam zu mir, umarmte und küsste mich herzlich. „Das wird dein Jahr!“, flüsterte sie mir zärtlich ins Ohr und ging dann zu den anderen, um Ihnen eine frohes Neues zu wünschen. Dann kam Marius zu mir. Seit einer Woche bereits trug er nicht mehr den Helm. Zwar später als erwartet, doch wir allen waren froh, dass er nun wieder befreit war. Ihm ging es auch wieder den Umständen entsprechend gut. Zwar darf er mindestens ein Jahr lang keinen Sport mehr betreiben und muss höllisch aufpassen- aber er war wohl auf. Auch er umarmte mich:
„Frohes Neues Jahr! Jetzt gilt’s. Zeig was du kannst!“
„Frohes Neues Marius! Ihr habt so hohe Erwartungen in mich. Warum?“
„Weil wir wissen was du kannst.“