Nun verlässt die Straße das Tal und kämpft sich am Hang hinauf in einen kühlen Kiefernwald. Wir beide kämpfen auch, denn jetzt wird es spürbar steiler. Es schließt sich Kehre an Kehre. So langsam fange ich an zu stöhnen, wenn noch ein weiteres „Tornante“-Schild vor mir auftaucht. Doch es folgt noch ein – und noch eine.
Es ist unerträglich steil und man sieht nichts mehr von der Umgebung. Der Wald will kein Ende nehmen. Wenigstens spendet er einen kühlen Schatten, wodurch die Schmerzen etwas gelindert werden. Ich verliere die Lust, weiter zu fahren. Plötzlich bin ich am Ende. Die Oberschenkel brennen und ich muss aus dem Sattel gehen – ich verliere den Anschluss an den Unbekannten, der weiterhin im Sitzen einen kleinen Gang tritt. Ich denke darüber nach anzuhalten und zu verschnaufen, doch die Neugierde, wer dieser Mann vor mir ist, treibt mich weiter.
Und da öffnet sich der Blick: Links die Gletscherwelt des Ortlers und vor mir die imposante Wand der Madatschspitze – was für eine Aussicht! Jetzt kann ich endlich auch die Franzenshöhe sehen – das letzte Haus vor der Passhöhe. Das motiviert mich wieder. Mein Vordermann ist noch in Sichtweite, biegt aber schon in die nächste Kehre ein. Ich will unbedingt wieder zu ihm aufschließen! Und tatsächlich finde ich einen neuen Rhythmus in diesem steileren Gelände. Jetzt läuft es wieder.
Schließlich ereiche auch ich die nächste Kehrenkombination, die ich ohne Probleme meistere. Ich glaube sogar ein wenig Erholung zu verspüren, als ich um die Kurven sause.
Das Hotel der Franzenshöhe ist nicht wirklich näher gekommen, dafür aber mein „Kontrahent“. Er blickt sich um. War das ein Lächeln? Auf diese Entfernung konnte ich das nicht so recht erkennen. Eigentlich war es mir sowieso egal, was dieser Mann von mir hielt, Hauptsache ich kam vor ihm oben an. Ich hatte also tatsächlich ein Ziel! Der „Siegeswille“ lies alle Schmerzen vergessen, aber auch, dass das hier gar kein Rennen war. Warum glaubte ich das nur?
Mit jedem Meter weniger stieg meine Motivation. Ich saugte mich förmlich an ihn heran. Jetzt waren es vielleicht nur noch 20 Meter. Da drehte er sich wieder um und jetzt erkannte ich deutlich ein Grinsen. Als er sich wieder nach vorne drehte, schüttelte er mit dem Kopf. Doch was er jetzt tat, gefiel mir überhaupt nicht: Er ging aus dem Sattel und beschleunigte. Rasend schnell flog er davon. Sollte mir das endgültig den Zahn ziehen?
Nein, natürlich nicht. Ich behielt meinen Rhythmus bei und holte bereits wieder zu ihm auf, als er sich wieder auf sein Rad zurück fallen lies. Er drehte sich wieder um und es bildete sich erneut ein Grinsen auf seinem Gesicht. Wollte er mich loswerden? Dieses ständige Lächeln nagte an meiner Psyche. Wahrscheinlich wollte er den Pass alleine befahren – ohne irgendwelche lästigen „Hobby-Begleiter“.
Oh nein. Dazu hatte er mich jetzt viel zu wütend gemacht! Ich nahm den letzten Schluck aus meiner ersten Trinkflasche und saugte mich wieder heran. Währenddessen ging es um weitere Kehren. Plötzlich glaubte ich gegen eine Wand zu fahren. Was war das nur für eine Rampe! Hier verlor ich wieder an Boden. Ich keuchte mich über diese schreckliche Steigung hinweg und konnte die Franzenshöhe jetzt deutlich vor mir erkennen – zwei Kehren lagen noch vor mir. Kurz vor der Hotelanlage (mit Tennisplatz auf rund 2200 Metern Höhe!) schloss ich zu ihm auf. Auch hier machte er keine Anstalten einen Stopp einzulegen. Es waren ja auch „nur“ noch etwas mehr als 500 Höhenmeter. Doch die Passhöhe schien viel höher zu liegen. So greifbar nahe und doch so fern. Der Blick war gigantisch! Die an den Geröllhang „geklebten“ unzähligen Serpentinen und das Haus in der Felsscharte machten dieses Bild einfach einmalig.
Mit dem Ziel vor Augen fuhr es sich doch gleich noch einmal leichter. Obwohl mich der Unbekannte ganz eindeutig registriert hatte, fuhr er mit konstantem Tempo weiter. Es wurde auch deutlich flacher, was mir etwas Zeit zum durchschnaufen verschaffte. Die folgenden 6 Kehren passierte gar nichts, außer, dass wir die zweite Verpflegungszone passierten. Als wir an den dort aufgestellten Dixiklos vorbeifuhren, wollte ich umso schneller auf die Passhöhe gelangen. Zum Glück musste ich nicht allzu dringend Wasser lassen...
Ein kleines weißes Schild (die in jeder registrierten Kehre aufgestellt sind) wies uns auf die letzten 14 Serpentinen hin. Soweit ich mich erinnern konnte, müsste das die letzte und wohl auch die längste Kehrenkombination sein.
Ich nahm erst mal ein paar kräftige Schlücke aus meiner zweiten Trinkflasche, nachdem wir Kehre 14 passiert hatten. Erst in Kehre 10 drehte sich mein Vordermann wieder einmal um und wieder huschte ein kurzes Grinsen über sein Gesicht. Und als hätte ich es nicht geahnt, trat er an und setzte ungefähr 30 Meter zwischen uns. Ich folgte ihm nicht, sondern behielt meinen Rhythmus bei und versuchte mich auf ihn zu konzentrieren. Und tatsächlich zog ich nach zwischen Kehre 9 und 8 wieder näher an ihn heran.
Direkt über uns lag die Passhöhe. Jetzt lagen vielleicht noch etwas mehr als 2 Kilometer vor uns. Mit Sicherheit hatte ich mich verschätzt, obwohl alles schon verdammt nah schien. Musik dröhnte von der Passhöhe her. Wieder jagte Adrenalin durch meinen Körper. Ich war bis in die Fingerspitzen aufs Höchste angespannt. Das konnte doch nicht mehr soweit sein!
Schließlich hatte ich endgültig zu ihm aufgeschlossen. Er hatte das Tempo jetzt deutlich erhöht, so schnell war er bisher im Sitzen noch nicht gefahren. Er blickte sich um – was für eine Überraschung: Er trat wieder an und während er im Wiegetritt davon preschte, schaute er erneut zurück und drosselte seine Geschwindigkeit gleichzeitig. Wartete er auf mich?
Kurz vor Kehre 6 hatte ich wieder zu ihm aufgeschlossen – ich fuhr im Sitzen er im Stehen. Auch er schien vergessen zu haben, dass das hier kein Rennen war.
Meine Chancen gegen einen möglicherweise ehemaligen Profi dürften theoretisch verschwindend gering sein, doch der Kampfesrausch, die Gewissheit mithalten zu können und ein Gefühl der Macht, alles zu kontrollieren – ich war ja jetzt schon zum zigsten Mal wieder an ihn herangefahren – schienen mir Flügel zu verleihen. Ich fuhr jetzt neben ihm her, immer noch im Sitzen!
Nach Kehre 5 bemerkte ich eine Markierung auf dem Straßenbelag: 1000m! Doch bevor ich mich dazu durchringen konnte jetzt mal einen eigenen „Angriff“ zu starten, beschleunigte erneut der Unbekannte. Diesmal kam er vielleicht nur 15 Meter weit weg, doch so richtig anzustrengen schien er sich nicht. Spielte er nur mit mir?
Er blickte sich um und schien wie schon vorhin auf mich zu warten. Ich behielt weiterhin meinen Rhythmus bei und schloss zu ihm auf – doch diesmal behielt ich das Tempo bei und zog an ihm vorbei. Sofort verschwand er hinter mir. Ich zog das Tempo weiter an. Immer noch sitzend, bis meine Oberschenkel brannten! Mein Tacho zeigte „nur“ 21 km/h. Der Gang war mir zu klein. Ich schaltete hoch, nahm den Schwung der extrem engen Kehrenkombination 2,3,4 mit und ging aus dem Sattel.
Der Rausch der Geschwindigkeit zog mich in seinen Bann. Ich hatte das Gefühl über den Asphalt zu schweben – dem Gipfel entgegen. Weit konnte es doch nicht mehr sein. Ich zog voll durch. Alles ging wie von selbst. Jetzt konnte mich nichts mehr stoppen! Auch nicht die letzte Kehre. Ohne mich umzudrehen raste ich weiter.
In einer Art Ekstase flog ich über die Markierung der letzten 500 Meter hinweg. Der Tacho zeigte 22 km/h. Nach ungefähr 200 Metern fingen meine Oberschenkel endgültig an zu brennen. Ein Krampf in der linken Wade ließ mich kurz aufschrecken – ich konnte nicht mehr weiter treten und verlor Geschwindigkeit. Ich setzte mich wieder auf den Sattel. Schließlich hatte sich die Verkrampfung gelöst und ich beschleunigte wieder im Stehen. Jetzt blickte ich mich um und sah, dass ich den Unbekannten tatsächlich abgehängt hatte. Rund 30 Meter lagen zwischen uns, doch er kam wieder näher. Mit letzter Kraft sprintete ich die letzte extrem steile Rampe hinauf und erreichte endlich die Kurve – die Häuser – die Menschen, die hier oben warteten – ich war oben! Als erster von uns beiden!
„Und da ist der erste Hobbyfahrer auf der Passhöhe!“, rief jemand mit italienischem Akzent in ein Mikrophon – er wiederholte den Satz in seiner Muttersprache. Einige Leute klatschten – viele waren nicht oben. Zunächst bezog ich diesen Satz überhaupt nicht auf mich. Ich war am Ende! Keuchend fuhr ich auf einen der großen Parkplätze und drehte um. Mein Brustkorb hob und senkte sich in einem irren Tempo, der rasendschnelle Puls hämmerte gegen meine Stirn. Gut – ich war nicht am absoluten Limit gewesen, sonst würde ich jetzt heulend auf der Straße liegen, aber ich war wirklich fertig. Dennoch vergaß ich für kurze Zeit alles um mich herum – auch den Unbekannten.
Plötzlich räusperte sich jemand neben mir. Ich blickte auf. Da war er ja. Ich hatte ihn geschlagen. Auch er musste kräftig schnaufen und der Schweiß rann ihm über die Stirn, doch er wirkte bei weitem gefasster als ich.
„Junge, alles in Ordnung mit dir?“, fragte er. Ich erschrak beim Klang seiner belegten, aber hellen Stimme. Wie von einem Blitz getroffen, erstarrte ich. Ich wusste nicht was ich sagen sollte. Hatte ich tatsächlich denjenigen besiegt, von dem ich glaubte, dass er vor mir stand?
Ich nickte langsam. Noch immer bebte meine Brust. Doch jetzt nicht nur vor Erschöpfung, sondern viel mehr von Aufregung. Meine Hände zitterten. Er nickte mir zu und öffnete den Verschluss seines Helmes. Dunkelblondes, platschnasses, kurzes Haar kam zum Vorschein. Wie in Zeitlupe nahm er seine Sonnenbrille ab – ich war völlig baff! Er war es tatsächlich...