Etappe in den Schweizer Alpen, Tour de France 2009, Schweiz
35 km - Glaubenbergpass, 1543 m
67 km - Brünigpass, 1007 m
92 km - Grosse Scheidegg, 1962 m
136 km - Aeschi bei Spiez, 865 m
170 km - Hahnenmoospass, 1947 m
199 km - Saanenmöser Sattel, 1279 m
(Musik)
Kenny Jackson hatte Angst vor dem Aufstehen. Dieser entscheidende Moment, der oft definierte, was der Rest der Tages bringen würde, war für ihn ein Grausen. Wenn er sich schlecht fühlte, nicht gut aus den Federn kam, dann war der Tag schon gelaufen, noch bevor er richtig begonnen hatte. In der Tat hatte er oft vor wichtigen Etappen, wie heute, Alpträume, in denen er aus dem Schlaf erwachte und sich miserabel fühlte.
Heute jedoch war seine Angst unbegründet. Mit einem breiten Lächeln auf den Lippen wachte er auf, richtete seinen Oberkörper, noch mit geschlossenen Augen, auf, breitete seine Arme aus und ballte seine Fäuste.
„Heute“ feuerte er sich und seinen noch im Bett liegenden Zimmerkollegen Peter Newman an. „Heute wird’s was.“ Er stürmte zum Fenster, riss die Vorhänge beiseite, öffnete es und lehnte sich mit seinem nackten, mageren Oberkörper hinaus und schrie begeistert „Ja!“ hinab in das erst allmählich erwachende Städtchen. Voller Energie und die Protestschreie ignorierend riss er die Decke von Peter hinweg und stürmte unter die Dusche.
„Kriegst du heute Abend wieder.“ Ein Murren war Antwort genug.
Die erste richtige Bergetappe der Tour bedeutete für die meisten Favoriten einen nervösen Tag. Sicher, heute würden noch nicht die richtig großen Attacken erfolgen. Aber die meisten rechneten schon mit einer kleinen, elitären Gruppe, die sich alleine bis ins Ziel absetzen würde. Das bedeutete Stress.
Nicht, das für Adrien dieses Gefühl ein neues gewesen wäre. Aber angenehm war es nicht. Er liebte die Herausforderung, aber ein Stück weit fürchtete er die Niederlage. Und er wusste, heute würde entweder mit den anderen Favoriten ankommen, oder er würde verlieren. Gewinnen war heute keine Option.
Ihr Teambus war schon früh Morgens abgefahren, nach einem eher kurzen Frühstück. Sie würden später noch eine weiter Mahlzeit zu sich nehmen. Sie hatten etwas außerhalb an einem Bauernhof geparkt. Die Mechaniker bauten schon die Räder auf, reinigten einzelne Teile, ölten andere, zogen einige Schrauben fester an, verstellten Sättel und fixierten Bremsen. Die Fahrer standen herum, scherzten, halfen, nahmen Maß und gaben Tipps.
Heute würde es vor allem auf seine zwei besten Helfer ankommen: Nicola Pozzo und Xavier Candese. Die beiden würden versuchen, das Feld zu kontrollieren, und ihm schließlich zur Seite stehen wenn es hart auf hart kam. Und dann... dann kam es auf ihn an.
Adrien stand ein wenig abseits, blickte auf das Profil, Nicola und Xavier links und rechts neben ihm. Die Etappe konnte wirklich interessant werden. Keiner von den dreien wagte eine sichere Prognose. Wenigstens war es noch so früh in der Tour das kein vergessener Favorit einen verrückten Alleingang versuchen würde. Dennoch war die Spannung mit Händen zu greifen.
Die Etappe begann so nervös, wie viele es erwartet hatten. Nicht umsonst, wurde doch heute ziemlich sicher das Bergtrikot neu verteilt. Und der Sieger heute hatte gute Chancen es auch noch einige Tage zu behalten.
Kenny Jackson wartete noch ein wenig. Er hatte lange überlegt wo der günstigste Punkt für einen Angriff sei. Schon im flachen bildeten sich die Gruppen. Und da es nur 20 Kilometer bis zum Fuße des ersten Berges waren konnte das mehr an Energie, welches man investieren musste, kaum als Argument gelten. Der eigentlich Grund war schließlich die erwartete hektische Fahrweise gewesen: Der Bildung der Gruppe waren zahlreiche Angriffe, Sprints, Konter und Spielchen voran gegangen. Das Feld reagierte nicht wirklich, und so hatten die Fahrer noch mehr Luft für 'Taktik'.
Kenny sah sich den Tumult in Ruhe im Feld an. Er hielt sich weit vorne auf, aber nicht zu weit. Über den Teamfunk wurden laufend die Neuigkeiten von vorne durchgegeben.
„Angriff, Rodolfo La Rosa, er kommt weg.“
„La Rosa ist wieder gestellt.“
„Fredriksen tritt an! Mika Fredriksen auf dem Weg“
„Gruppe wieder zusammen“
„Da sind jetzt sieben Mann vorne, sieht stabil aus“
Der Rest bestand aus warten. Er lauerte auf den richtigen Moment: Die erste Bergwertung auf dem Glaubenbergpass wollte er unbedingt mitnehmen. Das Tempo hinauf durfte nicht zu hoch sein. Aber wenn er zu früh ging verschleuderte er unnötig Energie.
Den Abstand immer im Auge behaltend zuckelte er nervös in den ersten Reihe des Pelotons herum. Aber er war nicht der einzige, der scharf auf das Bergtrikot war: Nur wenige Kilometer in den Berg hinein, an einer harten Rampe mit über neun Prozent Steigung, griff plötzlich ein Fahrer vom kleinen, spanischen Cintra-Team an. Das war sein Einsatz! Jackson sprintete hinterher, ging dann in die Führung und blickte sich erst dann um. Es war Raul Quina, mit 34 Jahren schon etwas älter, aber immer noch bekannt, respektiert und gefährlich. In seinem Team war er so etwas wie der Mentor für die jüngere Garde an spanischen Klettertalenten. Einige kleinere Siege, eine Baskenlandrundfahrt und eine ganze Reihe an Etappensiegen bei der Vuelta dominierten seine Palmares. Und für Kenny war er immer ein Vorbild gewesen.
Freudig erregt fuhr er neben ihm.
„He Raul, wie geht’s?“
In kaum verständlichen, viel zu schnellem Spanisch bekam er seine Antwort.
„He, Freund, schau nach vorne und fahr. Wenn wir oben sind können wir immer noch genug tratschen!“
Ohne zu diskutieren tat der Amerikaner wie ihm geheißen und drehte sich wieder um. Er kam sich ein wenig vor wie ein Teenager vor einem Rockstar. Und der Rockstar hatte das Sagen.
Der Rückstand schmolz schnell von etwa zwei Minuten auf eine Minute, dann waren sie bei Finsterwald und auf dem kurzen Flachstück welches den Anstieg unterbrach. Rechts herum ging es in den eigentlichen Berg hinein. Oder besser gesagt das Tal welches zu dem Pass führte. Die Straße wand sich links und rechts herum durch eine malerische Landschaft. Und für einen Moment konnte Jackson die Aussicht genießen. Sie waren noch tief genug, so dass alle Berghänge voller Bäume waren. Sie hätten auch ein wenig Schutz vor der hochstehenden Sonne gebrauchen können aber der größte Teil des Anstiegs führte über freies Feld.
Ohne größere Mühe konnten sie die Lücke nach vorne schließen. Das Feld lag nun schon über vier Minuten zurück. Kurzzeitig kehrte Ruhe in der Gruppe ein als sie eine Passage mit nur drei Prozent befuhren. Aber Kenny wusste: Es war die Ruhe vor dem Sturm. Die letzten 1,5 Kilometern waren wieder 9% steil. Und viele in der Gruppe spekulierten auf die Punkte. Doch Jackson wusste, dass er hier der Stärkste war.
Erst griff la Rosa an, pumpte in seiner kraftvollen, unbeholfenen Art in Richtung Gipfel. Quina konterte. Trotz seines Alters waren seine Bewegungen noch fließend. Er war ein Ästhet, eine Augenweide. Nicht umsonst hatte ihn Kenny verehrt.
Sein eigener Antritt befand sich wohl irgendwo dazwischen. Er war nie einer der schön-Fahrer gewesen, es kam ihm viel mehr auf eine Ökonomie seiner Bewegungen an. Im Sitzen griff er an, verließ die Gruppe und schloss die Lücke nach vorne. Kurz lauerte er, wartete, bis die Wertung nah genug heran kam. Er hatte keine Lust auf einen ewig langen Sprint. Sein Antritt war kurz und knackig. Er drehte sich um und erkannte, dass die anderen quasi sofort aufgegeben hatten. Er selbst radelte locker weiter bis zum Wertungsbanner, schnappte sich eine Zeitung von einem Zuschauer an der Straße und konzentrierte sich auf die Abfahrt.