Verfasst: 11.4.2009 - 17:43
König Johan
„Ist es möglich, dass ihr Team dieses Jahr ähnlich dominant wie im letzten Jahr abschneiden kann?“
Patrick versuchte gar nicht mehr, sich daran zu erinnern, wie oft er die Frage in den letzten Tagen schon gehört hatte. Nach dem überragenden Triumph der beiden Vorjahre, 1995 und 1996, erwarteten nahezu alle Experten und Journalisten eine erneute Dominanz seines Mapeiteams bei seinem bevorzugten Eintagesrennen. Mit Hilfe der üppigen Sponsorengelder hatte er vor der Saison eine Mannschaft zusammenstellen können, die ihn beinahe zum siegen verdammte. Obwohl der Vorjahreszweite Gianluca Bortolami einen Vertrag bei Festina unterschrieben hatte, blieben Mapei die anderen vier Fahrer, die vor Jahresfrist einen Platz unter den besten fünf im Velodrom von Roubaix erreichen konnten. Mit Johan Museeuw und Franco Ballerini fuhren wohl die besten Kopfsteinpflasterspezialisten ihrer Generation für Mapei. Dazu kamen absolute Siegaspiranten wie Andrea Tafi, Wilfried Peeters und Stefano Zanini, sowie erstklassige Helfer, Nico Mattan, Tom Steels und Daniele Nardello, die als Kapitäne selber Chancen auf einen Platz auf dem Podest gehabt hätten.
Mit einem selbstbewussten Grinsen gab er dem Journalisten die Standardantwort, die er sich zurechtgelegt hatte.
„Ja, es ist möglich. Wir haben acht Fahrer, die um den Sieg mitfahren können und unser Team ist stärker denn je. Selbst wenn jemand schwächelt, haben wir immer genügend Alternativen. Ja, es ist unser Ziel, heute die totale Dominanz zu zeigen.“
Die Fans jubelten ihm bereits beim Start in Compiegne zu. „König Johan“, schrieen sie und bettelten um Autogramme, die er kurz vor dem Start bereitwillig gab. Seine Fans zählten auf ihn, sie erwarteten eine Bestätigung des Sieges im letzten Jahr und Johan wusste, dass er ihren Wunsch erfüllen konnte. Durch ihre taktische Überlegenheit würde Patrick Lefevre, sein sportlicher Leiter sie zum Sieg führen. Es gab zwar einige ernsthafte Kontrahenten wie Andrei Tchmil, Rolf Sörensen, Frederic Moncassin und Gianluca Bortolami und einige Teams wie Lotto und Rabobank waren stark aufgestellt, doch kein Team hatte so viel Klasse wie Mapei. In diesem Punkt lag das einzige Risiko des Tages. Wenn aufgrund der taktischen Konstellation andere Fahrer seines Teams an der Spitze fahren würden und er in einer Gruppe mit anderen Favoriten festsitzen würde, könnte sein Sieg gefährdet werden. Aber selbst dann würde er sich am Ende des Tages freuen können und auf einen großen Sieg zurückblicken. Ein kurzer Blick gen Himmel bestätigte ihn in seinen Überlegungen. Zu den für den April ziemlich kalten Temperaturen zogen nun auch dunkle, dichte Wolken auf. Er blickte hinunter auf sein weißes Regenbogentrikot, das er als Weltmeister des vergangenen Jahres tragen durfte. Noch überwog die Farbe weiß in seinem Trikot, aber bei diesen Witterungsbedingungen wusste er, dass es spätestens bei der Zieleinfahrt in Roubaix schlammig braun aussehen würde. Doch das nahm er in Kauf. Bei gutem Wetter existierte manchmal die Gefahr, dass die Fahrer nahe beisammen blieben und letztendlich nicht immer der stärkste gewann. Bei schlechtem Wetter war das anders. Wenn heute das Tempo schnell wäre, würde es zum Schluss einen harten Schlagabtausch Mann gegen Mann geben und man konnte sich sicher sein, dass der beste gewinnen würde. Der beste, das würde er sein, Johan Museeuw. Heute war der Tag von Mapei, heute war sein Tag.
Patrick schaute in den wolkenverhangenen Himmel. Das Wetter war nicht besser geworden, im Gegenteil, es wurde immer schlechter. Auf den ersten 140 Kilometern des Rennens hatte es immer wieder einzelne teils schwächere, teils heftigere Schauer gegeben, die für einen schlechten Zustand der Straße gesorgt hatten. In der letzten Woche hatten es ohnehin schon genügend Niederschläge gegeben um das Rennen schwerer zu machen, nun wurde es wieder zur echten Hölle des Nordens. Unter den schlechten Straßenverhältnissen hatten schon einige Favoriten leiden müssen. Unter anderem waren bereits die Geheimfavoriten Ekimov, Wesemann und Hincapie gestürzt. Mapei hatte sich dagegen die schwierigen Verhältnisse zu Nutze gemacht und das Tempo hoch gehalten. Als Resultat konnten sie schon zu einem frühen Zeitpunkt des Rennens das Feld stark reduzieren, sodass mittlerweile nur noch 37 Fahrer auf der Verfolgung einer sechsköpfigen Spitzengruppe um Robbie McEwen und Daniele Nardello waren. Neben den sieben Profis von Mapei waren auch Rabobank und Lotto mit jeweils fünf Fahrern noch gut vertreten, außerdem hatten Guesdon, Moncassin und Zabel noch jeweils drei Helfer an ihrer Seite. Die restlichen Teams mussten inzwischen auf Einzelkämpfer vertrauen. Durch ein dauerhaft hohes Tempo und Attacken von verschiedenen Fahrern sollten diese leicht abzuhängen seien. Patrick schaute auf den Tacho seines Begleitfahrzeuges. Obwohl es noch 20 Kilometer bis zum schweren Finale, das vom Wald von Arenberg eingeleitet werden sollte, drückte die Gruppe schon ordentlich aufs Gas. Sie fuhren nun über den Sektor 21, Quérénaing à Maing. Der Sektor war mit 2,5 Kilometern Länge relativ lang und durch seine abschüssige Strecke garantierte er für ein brutales Tempo. Die sechs Ausreißer fuhren nur noch vierzig Sekunden vor der Gruppe, vielleicht wäre es schon ein idealer Zeitpunkt für eine erste Attacke um im späteren Verlauf des Rennens verschiedene Relaisstationen für die Kapitäne zu haben. Patrick gab einen kurzen Funkspruch durch und wies seine Fahrer an, aktiv zu werden.
Johan nahm den Funkspruch von Patrick an, dass sie schon etwas versuchen sollten. Die Ausreißergruppe wäre bald eingeholt und es wäre wünschenswert mit ein paar Fahrern in die Gruppe vorzustoßen. Tom Steels und Nico Mattan nahmen die Anweisung sofort auf und verschärften das Tempo in dem Moment, als das Gefälle des Pavé-Abschnitts zunahm. Sofort klemmten sich einige Fahrer an ihre Hinterräder und auch Johan passte sich dem Tempo an und suchte sich das Hinterrad von Fabio Baldato. Johan war schon beinahe enttäuscht, dass sie die Ausreißer fast erreicht hatten und noch kein Loch riss, als er sich nach hinten umdrehte. Was er sah, überraschte ihn. Hinter ihm befand sich nur noch der französische Kämpfer Jacky Durand aus Moncassins Casino-Team, dahinter klaffte ein Loch. Ließen ihn die anderen Teams fahren? Obwohl er drei Teamkollegen mit in der Gruppe hatte. Entweder mussten sie sich stark genug fühlen um gegen das halbe Mapei-Team zu bestehen oder sie waren ziemlich dumm. Der Pavé-Sektor war zu Ende und die Ausreißergruppe wurde eingeholt. Daniele Nardello schaute sich kurz um und setzte sich an die Spitze der Gruppe, als er seinen Kapitän im Regenbogentrikot entdeckte. Es lief perfekt, bis jetzt.
Die Gruppe arbeitete recht gut zusammen, da sich neben den Mapei-Profis auch die zwei Fahrer von BigMat, Baldato von MG Technogym und Moreau von Cofidis aktiv an der Führungsarbeit beteiligten. Der Vorsprung wuchs schnell auf eine halbe Minute, da es die anderen Teams nicht schafften, eine organisierte Verfolgung auf die Beine zu stellen. Acht Kilometer vor dem Wald von Arenberg wartete eine weitere Kopfsteinpflasterpassage auf die Fahrer, die mit vier Sternen bewertet wurde und damit eine erhöhte Schwierigkeit aufwies. Johan setzte sich an die zweite Position hinter seinen Teamkollegen Nico Mattan, der das Tempo erhöhte. Zufrieden sah Johan mit einem Schulterblick, dass hinter ihm eine ganze Reihe Fahrer abreißen lassen musste. Da spürte er einen Widerstand an seinem Vorderrad. Blitzartig richtete er seinen Blick wieder nach vorne, doch es war zu spät. Mattan hatte einem Schlagloch ausweichen müssen und war deshalb einen kleinen Schlenker gefahren, der ihn direkt an Johans Vorderrad brachte. Einen Moment hatte er sein Rad noch in der Bahn halten können, jetzt verlor er die Kontrolle. Machtlos und ohne die Möglichkeit zu reagieren wurde Johan von seinem Teamkollegen mitgerissen und stürzte auf die harten Steine. Zum Glück waren seine Hintermänner achtsamer und schafften es, um ihn herum zu manövrieren, doch der Schaden war angerichtet. Er sah hinunter auf seine Beine, die einige Schrammen davon getragen hatten, aber zum Glück hatte er keine schweren Verletzungen oder sehr schmerzhaften Schürfwunden davon getragen. Dafür war sein Rad total im Eimer und bis er von dem Mechaniker im Begleitfahrzeug eine neue Rennmaschine bekam, konnte er schon wieder die Verfolgergruppe hinter sich sehen. Er schwang sich aufs Rad und beschleunigte. Im Vorbeifahren gab Wilfried Peeters im einen aufmunternden Klaps auf den Rücken. Trotzdem war Johan wütend. Durch seine Ungeschicklichkeit war ihr erster Angriff abgewehrt. Bald würde der zweite folgen.
Mit einem Schrecken hatte Patrick den Sturz von Johan angesehen. Nachdem sein Kapitän ihm mitgeteilt hatte, dass er in Ordnung sei, war Patrick zwar teilweise beruhigt, aber auch sauer darüber, einen taktischen Vorteil verloren zu haben. Im Wald von Arenberg, seiner Meinung nach dem Herzen des Rennens, würden sie eine weitere Attacke setzen. Durch die nassen Bedingungen waren die ohnehin schwierig zu befahrenen Kopfsteine zusätzlich äußerst schlüpfrig und boten ein erhöhtes Sturzrisiko, dafür aber auch die Möglichkeit einer Attacke. Gleich zu Beginn des Abschnitts attackierten seine Fahrer, wie sie es vorher besprochen hatten. Stefano Zanini und Franco Ballerini schafften es, sich gemeinsam mit Jo Planckaert von Lotto, Erik Zabel von Telekom und Phillippe Gaumont von Cofidis abzusetzen. In der Verfolgergruppe beschränkte Rabobank sich weiterhin darauf, das Tempo zu machen, sonst verhielten sie sich ungewöhnlich ruhig. Die fünf Angreifer konnten daher schnell Abstand zwischen sich und die verbliebenen knapp 25 Verfolger legen. Bis zum Ende des 18. Sektors schafften sie es sogar, den Abstand zu den Spitzenreitern zu überwinden und sich an die Spitze zu setzen. Sie flogen an der bisherigen Führungsgruppe vorbei, von der ihnen nur Fabio Baldato, Max Sciandri, Thierry Gouvenou und Tom Steels folgen konnten. Somit befand sich nun eine neunköpfige Spitzengruppe mit drei Fahrern von Mapei etwa 45 Sekunden vor der Verfolgergruppe. Zufrieden grinste Patrick vor sich hin. Es lief, wie es laufen sollte. Mapei dominierte das gesamte Rennen und war in jeder Spitzengruppe mit mehreren Fahrern vertreten gewesen. Doch der Wald von Arenberg war nur der Auftakt gewesen. Noch waren über 90 Kilometer zu fahren, genug Zeit um das Rennen zu gewinnen oder zu verlieren.
Die Gruppe erreichte Sektor 14. Erik Zabel und Fabio Baldato waren inzwischen mit Defekten zurückgefallen, also fuhren nur noch sieben Fahrer an der Spitze. Der Abstand zu den Führenden wurde nach und nach eingeschmolzen und so langsam wurde der Abstand so gering, dass Johan die Gelegenheit sah, mit einem beherzten Antritt aus der Verfolgergruppe in die Spitzengruppe vorzustoßen. Johan überlegte, an welchem Punkt er seine Attacke wagen sollte, als Patrick ihm über Funk bedeutete, er solle es noch in diesem Sektor nach der bald erreichten scharfen Kurve versuchen. Johan bestätigte den Plan seines sportlichen Leiters und setzte sich mit Andrea Tafi an die Spitze. Hinter ihm fuhren Frederic Guesdon von FdJeux und Marc Wauters von Lotto, zweifellos starke Fahrer, aber angenehmere Fluchtkameraden als Andrei Tchmil und Frederic Moncassin. Direkt vor der besagten Kurve beschleunigte er und nahm die Kurve mit viel Risiko. Einen kurzen Moment dachte er, er wäre zu ungestüm in die Kurve gefahren, doch er konnte sein Rad beherrschen und sofort wieder beschleunigen. Die Fahrer direkt hinter ihm hatten weniger Glück. Johan hörte es laut scheppern und als er sich kurz umschaute, sah er mehreren Fahrer am Boden liegen. Das war die ideale Möglichkeit um durchzuziehen. Entschlossen machte er sich auf die Flucht nach vorne.
50 Kilometer lagen nun noch vor den Fahrern, inklusive 10 Sektoren auf Kopfsteinpflaster. Johan hatte mittlerweile die Spitzengruppe erreicht und beschleunigte sofort in den zweiten der drei Pavé-Abschnitte hinein, die mit fünf Sternen, also in der höchsten Kategorie ausgezeichnet waren: Mons-en-Pévèle. Einzig Ballerini, Zanini und Planckaert waren in der lage ihm zu folgen. Noch wichtiger waren die Aktionen in der Verfolgergruppe, die nur noch zwanzig Sekunden hinter dem Führungsquartett lag. Leon van Bon legte für seinen Kapitän Rolf Sörensen ein Höllentempo vor, dem außerdem nur noch Gianluca Bortolami, Andrei Tchmil, Andrea Tafi, Wilfried Peeters und Frederic Moncassin folgen konnten. Der französische Sprinter hatte jedoch leichte Schwierigkeiten, die dramatisch wurden, als er einen Defekt am Vorderrad hatte. Somit verblieben zehn Fahrer im Rennen, die sich noch realistische Chancen auf den Sieg ausrechnen konnten, darunter fünf aus dem Team Mapei.
Stefano Zanini scherte vor ihm aus und drehte sich noch einmal kurz zu seinem Kapitän um. Wie alle Fahrer war sein Gesicht vom Schlamm überdeckt und man konnte kaum noch seine Haut sehen. Sein Gesicht war zu einer grimmigen Grimasse überzogen und er schien alle Mühe zu haben, dem Tempo weiter zu folgen. „Jetzt musst du alleine weiter, Johan. Gewinn das Ding!“ Mit diesen Worten ließ er sich zurückfallen. Kurze Zeit später folgten van Bon und Planckaert seinem Beispiel und verloren nach getaner Arbeit für ihre Kapitäne die Gruppe nach hinten. Somit waren die drei verbliebenen Kapitäne endgültig isoliert, während an Johans Seite noch Peeters, Tafi und Ballerini fuhren. Eine ideale Ausgangssituation. Johan setzte sich an die Spitze der Gruppe, sah aber, dass die drei Einzelkämpfer logischerweise kein Interesse mehr hatten, ihn in der Führungsarbeit zu unterstützen. Er gab Tafi ein Zeichen einen ersten Angriff zu setzen, den Sörensen noch leicht parieren konnte. Als die Gruppe sich von hinten wieder auffüllte und ein langsameres Tempo anschlug, griff mit Ballerini sein nächster Teamkollege an. Diesem Antritt hatte auf die Schnelle niemand etwas entgegenzusetzen und bis sich die drei verbliebenen Gegner formiert hatten, war sein italienischer Kollege schon über alle Berge. Nun hatte er sie fest im Griff. Sie mussten sich in der Verfolgung aufreiben. Wenn Ballerini nicht mehr eingeholt werden sollte, hätte das Team Mapei seinen Sieg, falls er noch zurückfallen sollte, könnte Johan so ausgeruht, wie es nach 240 Kilometern in der Hölle des Nordens möglich war, einen Gegenangriff setzen. Sie hatten ihre Gegner im Sack.
Patrick verfolgte aufmerksam die Durchsage von Radio Tour. Ballerini hatte nun eine halbe Minute zwischen sich und die sechs Verfolger gelegt und der Vorsprung wurde kontinuierlich größer. Nun war es Zeit am totalen Triumph zu feilen. Er wies Andrea Tafi an, es einfach mit einem Angriff zu probieren, um die verbliebenen Kräfte der Kapitäne zu testen. Zufrieden konnte er feststellen, dass die drei sich zwar aufbäumten, insbesondere Sörensen aber absolut am Ende schien. Tchmil und Bortolami konnten Tafi mit Mühe zurückholen, den folgenden Konter von Peeters wehrten sie nicht mehr ab. Stattdessen schauten sie sich nach hinten um, wo sie mit Schrecken das zwar verdreckte und trotzdem souveräne Gesicht des Löwen von Flandern zu sehen. Beinahe resignierend ließ Tchmil sich an das Ende der Gruppe fallen. Er sah ein, dass er nicht in der Lage war, die Mapeifahrer zu stoppen. Sein Kampfgeist schien gebrochen. Damit verblieb nur Gianluca Bortolami, der im Vorjahr noch für Mapei den zweiten Platz geholt hatte. Als er Tchmils erschöpften Blick sah, nahm er sich ein Herz und attackierte. Immerhin hatte er noch die Chance das Podium zu erreichen, wenn der Sieg auch utopisch erschien.
Johan fuhr direkt an Bortolamis Hinterrad. Sein Antritt war trotz des enormen Kräfteverschleißes enorm gewesen und Johan hatte kurz gefürchtet, ihm nicht folgen zu können. Auf den folgenden Kilometern hatte er dann feststellen müssen, dass Bortolami sich wohl doch übernommen hatte. Auf dem viertletzten Sektor, dem Carrefour de l'Arbre, ließ Johan ihn stehen. Er machte sich nicht die Mühe, aus dem Sattel zu gehen und anzutreten, sondern erhöhte einfach das Tempo, bis seine schmerzenden Beine nicht mehr zuließen. Die Gegner waren eliminiert, jetzt hieß die Devise, Ballerini noch einzufangen. Er erkundigte sich, wie es mit den Abständen nach vorne aussah. Patrick meinte, dass Ballerini etwa zehn Sekunden vor Peeters läge und Johan weitere zwanzig Sekunden zurück. Johan musste nun an sein Limit. Fünfzehn Kilometer verblieben ihm, um das Loch zu schließen.
Acht Kilometer später war es so weit. Begeistert sah Patrick, wie Johan zu den beiden anderen aufschloss. Sie hatten es wie im letzten Jahr geschafft, zu dritt an die Spitze zu kommen. Der nächste Verfolger, Bortolami, hatte schon einen Rückstand von über einer Minute, das Duo Tafi/Tchmil lag ungefähr zwei Minuten zurück. Somit blieb nur die Frage, wer von den dreien das Rennen gewinnen sollte. Er sah die drei kurz diskutieren, dann zeigte ließ sich Ballerini kurz zum Begleitfahrzeug zurückfallen und verkündete unter lautem Schnaufen. „Johan soll gewinnen. Er ist der Kapitän, er hat Chancen auf den Gesamtweltcup.“ Sie hatten sich als entschieden, eine bessere Situation für ihn als Teamchef, als wenn er das Ergebnis diktiert hätte. So hatten sie den optimalen Zieleinlauf gewählt. Johan würde im Trikot des Weltmeisters als Sieger über die Linie fahren und ein Bild für die Ewigkeit hinterlassen. Er konnte sich kaum zurückhalten und brach beinahe in Lachen aus. Was war das für ein verrücktes Rennen, in dem einige Kilometer vor dem Ziel das genaue Ergebnis ausgeknobelt wurde. So machte Radsport Spaß.
Johan führte seine beiden Teamkollegen über die letzte kurze Kopfsteinpflasterpassage. In etwas mehr als tausend Metern sollten die Strapazen vorüber sein. Die Arbeit über sechs Stunden und 260 Kilometer würde belohnt werden. Obwohl die Schmerzen in seinen Beinen immer größer wurden, fühlte er sich dennoch befriedigt, beinahe gereinigt. Die Hölle des Nordens hatte ihm die Möglichkeit gegeben, das auszuleben, was er liebte. Er hatte alles gegeben und wurde fürstlich dafür entlohnt. Aufgrund des hohen Vorsprungs gönnte er sich sogar den Luxus, den Fans zuzuwinken. Er hatte sie nicht enttäuscht, er hatte erreicht, was sie von ihm verlangt hatten. Er führte das Trio nun in das Velodrom herein. Noch 750 Meter lagen vor ihm, die eine einzige Triumphfahrt darstellten. Er richtete sich schon kurz auf und jubelte den Fans zu. Dann erlaubte er sich den Spaß, einen kurzen Bahnsprint mit seinen beiden Teamkollegen zu simulieren und die Massen damit zu verzücken. Es war ein einziges Schaulaufen, sogar in ihrer zweiten Runde waren die drei Mapei-Profis noch alleine im Velodrom und konnten die Momente genießen. Nach der letzten Kurve fuhr Peeters an seine rechte und Ballerini an seine linke Seite. Sie fassten ihn beide bei den Händen und hoben sie zum Sieg in die Höhe. Wie im Vorjahr fuhren sie im Einklang gleichzeitig über die Ziellinie. Auf der Gegengeraden sah er nun auch Andrea Tafi ins Velodrom einbiegen. Er hatte sich gegen Tchmil durchsetzen können und musste nur Bortolami den Vortritt lassen. Auch bei ihm meinte Johan hinter der schmerzverzerrten Grimasse ein zufriedenes Lächeln sehen zu können. Sie waren für alle Qualen belohnt worden, sie waren die Könige des Nordens und er war ihr Anführer, König Johan.
Ergebnis:
1.Johan Museeuw Mapei 6h09:48
2.Franco Ballerini Mapei +0:00
3.Wilfried Peeters Mapei +0:00
4.Gianluca Bortolami Festina +1:33
5.Andrea Tafi Mapei +2:07
6.Andrei Tchmil Lotto +2:20
7.Jo Planckaert Lotto +3:30
8.Leon van Bon Rabobank +3:30
9.Rolf Sörensen Rabobank +3:30
10.Frederic Moncassin Casino +3:30
Was macht man, wenn man am Tag vor seinem Lieblingsklassiker Langeweile hat? Man schaut ihn sich schon einmal im RSM an. Und welches Jahr würde sich besser dazu eignen, als eines der späten 90er mit der überragenden Mannschaft von Mapei unter der Führung von Patrick Lefevre?
Auf Screens wurde wegen mangelnder Qualität verzichtet und sie würden auch gar nicht so gut passen. Spannung steht nicht im Vordergrund, es geht eher um die Erinnerung an die überragende Zeit von Mapei Ende der 90er. Beschrieben wurde die Austragung von 1997.
PS: Ganz schön verstaubt, der Eintagesrennenthread. Schade eigentlich, Klassiker sind doch ganz fein.
„Ist es möglich, dass ihr Team dieses Jahr ähnlich dominant wie im letzten Jahr abschneiden kann?“
Patrick versuchte gar nicht mehr, sich daran zu erinnern, wie oft er die Frage in den letzten Tagen schon gehört hatte. Nach dem überragenden Triumph der beiden Vorjahre, 1995 und 1996, erwarteten nahezu alle Experten und Journalisten eine erneute Dominanz seines Mapeiteams bei seinem bevorzugten Eintagesrennen. Mit Hilfe der üppigen Sponsorengelder hatte er vor der Saison eine Mannschaft zusammenstellen können, die ihn beinahe zum siegen verdammte. Obwohl der Vorjahreszweite Gianluca Bortolami einen Vertrag bei Festina unterschrieben hatte, blieben Mapei die anderen vier Fahrer, die vor Jahresfrist einen Platz unter den besten fünf im Velodrom von Roubaix erreichen konnten. Mit Johan Museeuw und Franco Ballerini fuhren wohl die besten Kopfsteinpflasterspezialisten ihrer Generation für Mapei. Dazu kamen absolute Siegaspiranten wie Andrea Tafi, Wilfried Peeters und Stefano Zanini, sowie erstklassige Helfer, Nico Mattan, Tom Steels und Daniele Nardello, die als Kapitäne selber Chancen auf einen Platz auf dem Podest gehabt hätten.
Mit einem selbstbewussten Grinsen gab er dem Journalisten die Standardantwort, die er sich zurechtgelegt hatte.
„Ja, es ist möglich. Wir haben acht Fahrer, die um den Sieg mitfahren können und unser Team ist stärker denn je. Selbst wenn jemand schwächelt, haben wir immer genügend Alternativen. Ja, es ist unser Ziel, heute die totale Dominanz zu zeigen.“
Die Fans jubelten ihm bereits beim Start in Compiegne zu. „König Johan“, schrieen sie und bettelten um Autogramme, die er kurz vor dem Start bereitwillig gab. Seine Fans zählten auf ihn, sie erwarteten eine Bestätigung des Sieges im letzten Jahr und Johan wusste, dass er ihren Wunsch erfüllen konnte. Durch ihre taktische Überlegenheit würde Patrick Lefevre, sein sportlicher Leiter sie zum Sieg führen. Es gab zwar einige ernsthafte Kontrahenten wie Andrei Tchmil, Rolf Sörensen, Frederic Moncassin und Gianluca Bortolami und einige Teams wie Lotto und Rabobank waren stark aufgestellt, doch kein Team hatte so viel Klasse wie Mapei. In diesem Punkt lag das einzige Risiko des Tages. Wenn aufgrund der taktischen Konstellation andere Fahrer seines Teams an der Spitze fahren würden und er in einer Gruppe mit anderen Favoriten festsitzen würde, könnte sein Sieg gefährdet werden. Aber selbst dann würde er sich am Ende des Tages freuen können und auf einen großen Sieg zurückblicken. Ein kurzer Blick gen Himmel bestätigte ihn in seinen Überlegungen. Zu den für den April ziemlich kalten Temperaturen zogen nun auch dunkle, dichte Wolken auf. Er blickte hinunter auf sein weißes Regenbogentrikot, das er als Weltmeister des vergangenen Jahres tragen durfte. Noch überwog die Farbe weiß in seinem Trikot, aber bei diesen Witterungsbedingungen wusste er, dass es spätestens bei der Zieleinfahrt in Roubaix schlammig braun aussehen würde. Doch das nahm er in Kauf. Bei gutem Wetter existierte manchmal die Gefahr, dass die Fahrer nahe beisammen blieben und letztendlich nicht immer der stärkste gewann. Bei schlechtem Wetter war das anders. Wenn heute das Tempo schnell wäre, würde es zum Schluss einen harten Schlagabtausch Mann gegen Mann geben und man konnte sich sicher sein, dass der beste gewinnen würde. Der beste, das würde er sein, Johan Museeuw. Heute war der Tag von Mapei, heute war sein Tag.
Patrick schaute in den wolkenverhangenen Himmel. Das Wetter war nicht besser geworden, im Gegenteil, es wurde immer schlechter. Auf den ersten 140 Kilometern des Rennens hatte es immer wieder einzelne teils schwächere, teils heftigere Schauer gegeben, die für einen schlechten Zustand der Straße gesorgt hatten. In der letzten Woche hatten es ohnehin schon genügend Niederschläge gegeben um das Rennen schwerer zu machen, nun wurde es wieder zur echten Hölle des Nordens. Unter den schlechten Straßenverhältnissen hatten schon einige Favoriten leiden müssen. Unter anderem waren bereits die Geheimfavoriten Ekimov, Wesemann und Hincapie gestürzt. Mapei hatte sich dagegen die schwierigen Verhältnisse zu Nutze gemacht und das Tempo hoch gehalten. Als Resultat konnten sie schon zu einem frühen Zeitpunkt des Rennens das Feld stark reduzieren, sodass mittlerweile nur noch 37 Fahrer auf der Verfolgung einer sechsköpfigen Spitzengruppe um Robbie McEwen und Daniele Nardello waren. Neben den sieben Profis von Mapei waren auch Rabobank und Lotto mit jeweils fünf Fahrern noch gut vertreten, außerdem hatten Guesdon, Moncassin und Zabel noch jeweils drei Helfer an ihrer Seite. Die restlichen Teams mussten inzwischen auf Einzelkämpfer vertrauen. Durch ein dauerhaft hohes Tempo und Attacken von verschiedenen Fahrern sollten diese leicht abzuhängen seien. Patrick schaute auf den Tacho seines Begleitfahrzeuges. Obwohl es noch 20 Kilometer bis zum schweren Finale, das vom Wald von Arenberg eingeleitet werden sollte, drückte die Gruppe schon ordentlich aufs Gas. Sie fuhren nun über den Sektor 21, Quérénaing à Maing. Der Sektor war mit 2,5 Kilometern Länge relativ lang und durch seine abschüssige Strecke garantierte er für ein brutales Tempo. Die sechs Ausreißer fuhren nur noch vierzig Sekunden vor der Gruppe, vielleicht wäre es schon ein idealer Zeitpunkt für eine erste Attacke um im späteren Verlauf des Rennens verschiedene Relaisstationen für die Kapitäne zu haben. Patrick gab einen kurzen Funkspruch durch und wies seine Fahrer an, aktiv zu werden.
Johan nahm den Funkspruch von Patrick an, dass sie schon etwas versuchen sollten. Die Ausreißergruppe wäre bald eingeholt und es wäre wünschenswert mit ein paar Fahrern in die Gruppe vorzustoßen. Tom Steels und Nico Mattan nahmen die Anweisung sofort auf und verschärften das Tempo in dem Moment, als das Gefälle des Pavé-Abschnitts zunahm. Sofort klemmten sich einige Fahrer an ihre Hinterräder und auch Johan passte sich dem Tempo an und suchte sich das Hinterrad von Fabio Baldato. Johan war schon beinahe enttäuscht, dass sie die Ausreißer fast erreicht hatten und noch kein Loch riss, als er sich nach hinten umdrehte. Was er sah, überraschte ihn. Hinter ihm befand sich nur noch der französische Kämpfer Jacky Durand aus Moncassins Casino-Team, dahinter klaffte ein Loch. Ließen ihn die anderen Teams fahren? Obwohl er drei Teamkollegen mit in der Gruppe hatte. Entweder mussten sie sich stark genug fühlen um gegen das halbe Mapei-Team zu bestehen oder sie waren ziemlich dumm. Der Pavé-Sektor war zu Ende und die Ausreißergruppe wurde eingeholt. Daniele Nardello schaute sich kurz um und setzte sich an die Spitze der Gruppe, als er seinen Kapitän im Regenbogentrikot entdeckte. Es lief perfekt, bis jetzt.
Die Gruppe arbeitete recht gut zusammen, da sich neben den Mapei-Profis auch die zwei Fahrer von BigMat, Baldato von MG Technogym und Moreau von Cofidis aktiv an der Führungsarbeit beteiligten. Der Vorsprung wuchs schnell auf eine halbe Minute, da es die anderen Teams nicht schafften, eine organisierte Verfolgung auf die Beine zu stellen. Acht Kilometer vor dem Wald von Arenberg wartete eine weitere Kopfsteinpflasterpassage auf die Fahrer, die mit vier Sternen bewertet wurde und damit eine erhöhte Schwierigkeit aufwies. Johan setzte sich an die zweite Position hinter seinen Teamkollegen Nico Mattan, der das Tempo erhöhte. Zufrieden sah Johan mit einem Schulterblick, dass hinter ihm eine ganze Reihe Fahrer abreißen lassen musste. Da spürte er einen Widerstand an seinem Vorderrad. Blitzartig richtete er seinen Blick wieder nach vorne, doch es war zu spät. Mattan hatte einem Schlagloch ausweichen müssen und war deshalb einen kleinen Schlenker gefahren, der ihn direkt an Johans Vorderrad brachte. Einen Moment hatte er sein Rad noch in der Bahn halten können, jetzt verlor er die Kontrolle. Machtlos und ohne die Möglichkeit zu reagieren wurde Johan von seinem Teamkollegen mitgerissen und stürzte auf die harten Steine. Zum Glück waren seine Hintermänner achtsamer und schafften es, um ihn herum zu manövrieren, doch der Schaden war angerichtet. Er sah hinunter auf seine Beine, die einige Schrammen davon getragen hatten, aber zum Glück hatte er keine schweren Verletzungen oder sehr schmerzhaften Schürfwunden davon getragen. Dafür war sein Rad total im Eimer und bis er von dem Mechaniker im Begleitfahrzeug eine neue Rennmaschine bekam, konnte er schon wieder die Verfolgergruppe hinter sich sehen. Er schwang sich aufs Rad und beschleunigte. Im Vorbeifahren gab Wilfried Peeters im einen aufmunternden Klaps auf den Rücken. Trotzdem war Johan wütend. Durch seine Ungeschicklichkeit war ihr erster Angriff abgewehrt. Bald würde der zweite folgen.
Mit einem Schrecken hatte Patrick den Sturz von Johan angesehen. Nachdem sein Kapitän ihm mitgeteilt hatte, dass er in Ordnung sei, war Patrick zwar teilweise beruhigt, aber auch sauer darüber, einen taktischen Vorteil verloren zu haben. Im Wald von Arenberg, seiner Meinung nach dem Herzen des Rennens, würden sie eine weitere Attacke setzen. Durch die nassen Bedingungen waren die ohnehin schwierig zu befahrenen Kopfsteine zusätzlich äußerst schlüpfrig und boten ein erhöhtes Sturzrisiko, dafür aber auch die Möglichkeit einer Attacke. Gleich zu Beginn des Abschnitts attackierten seine Fahrer, wie sie es vorher besprochen hatten. Stefano Zanini und Franco Ballerini schafften es, sich gemeinsam mit Jo Planckaert von Lotto, Erik Zabel von Telekom und Phillippe Gaumont von Cofidis abzusetzen. In der Verfolgergruppe beschränkte Rabobank sich weiterhin darauf, das Tempo zu machen, sonst verhielten sie sich ungewöhnlich ruhig. Die fünf Angreifer konnten daher schnell Abstand zwischen sich und die verbliebenen knapp 25 Verfolger legen. Bis zum Ende des 18. Sektors schafften sie es sogar, den Abstand zu den Spitzenreitern zu überwinden und sich an die Spitze zu setzen. Sie flogen an der bisherigen Führungsgruppe vorbei, von der ihnen nur Fabio Baldato, Max Sciandri, Thierry Gouvenou und Tom Steels folgen konnten. Somit befand sich nun eine neunköpfige Spitzengruppe mit drei Fahrern von Mapei etwa 45 Sekunden vor der Verfolgergruppe. Zufrieden grinste Patrick vor sich hin. Es lief, wie es laufen sollte. Mapei dominierte das gesamte Rennen und war in jeder Spitzengruppe mit mehreren Fahrern vertreten gewesen. Doch der Wald von Arenberg war nur der Auftakt gewesen. Noch waren über 90 Kilometer zu fahren, genug Zeit um das Rennen zu gewinnen oder zu verlieren.
Die Gruppe erreichte Sektor 14. Erik Zabel und Fabio Baldato waren inzwischen mit Defekten zurückgefallen, also fuhren nur noch sieben Fahrer an der Spitze. Der Abstand zu den Führenden wurde nach und nach eingeschmolzen und so langsam wurde der Abstand so gering, dass Johan die Gelegenheit sah, mit einem beherzten Antritt aus der Verfolgergruppe in die Spitzengruppe vorzustoßen. Johan überlegte, an welchem Punkt er seine Attacke wagen sollte, als Patrick ihm über Funk bedeutete, er solle es noch in diesem Sektor nach der bald erreichten scharfen Kurve versuchen. Johan bestätigte den Plan seines sportlichen Leiters und setzte sich mit Andrea Tafi an die Spitze. Hinter ihm fuhren Frederic Guesdon von FdJeux und Marc Wauters von Lotto, zweifellos starke Fahrer, aber angenehmere Fluchtkameraden als Andrei Tchmil und Frederic Moncassin. Direkt vor der besagten Kurve beschleunigte er und nahm die Kurve mit viel Risiko. Einen kurzen Moment dachte er, er wäre zu ungestüm in die Kurve gefahren, doch er konnte sein Rad beherrschen und sofort wieder beschleunigen. Die Fahrer direkt hinter ihm hatten weniger Glück. Johan hörte es laut scheppern und als er sich kurz umschaute, sah er mehreren Fahrer am Boden liegen. Das war die ideale Möglichkeit um durchzuziehen. Entschlossen machte er sich auf die Flucht nach vorne.
50 Kilometer lagen nun noch vor den Fahrern, inklusive 10 Sektoren auf Kopfsteinpflaster. Johan hatte mittlerweile die Spitzengruppe erreicht und beschleunigte sofort in den zweiten der drei Pavé-Abschnitte hinein, die mit fünf Sternen, also in der höchsten Kategorie ausgezeichnet waren: Mons-en-Pévèle. Einzig Ballerini, Zanini und Planckaert waren in der lage ihm zu folgen. Noch wichtiger waren die Aktionen in der Verfolgergruppe, die nur noch zwanzig Sekunden hinter dem Führungsquartett lag. Leon van Bon legte für seinen Kapitän Rolf Sörensen ein Höllentempo vor, dem außerdem nur noch Gianluca Bortolami, Andrei Tchmil, Andrea Tafi, Wilfried Peeters und Frederic Moncassin folgen konnten. Der französische Sprinter hatte jedoch leichte Schwierigkeiten, die dramatisch wurden, als er einen Defekt am Vorderrad hatte. Somit verblieben zehn Fahrer im Rennen, die sich noch realistische Chancen auf den Sieg ausrechnen konnten, darunter fünf aus dem Team Mapei.
Stefano Zanini scherte vor ihm aus und drehte sich noch einmal kurz zu seinem Kapitän um. Wie alle Fahrer war sein Gesicht vom Schlamm überdeckt und man konnte kaum noch seine Haut sehen. Sein Gesicht war zu einer grimmigen Grimasse überzogen und er schien alle Mühe zu haben, dem Tempo weiter zu folgen. „Jetzt musst du alleine weiter, Johan. Gewinn das Ding!“ Mit diesen Worten ließ er sich zurückfallen. Kurze Zeit später folgten van Bon und Planckaert seinem Beispiel und verloren nach getaner Arbeit für ihre Kapitäne die Gruppe nach hinten. Somit waren die drei verbliebenen Kapitäne endgültig isoliert, während an Johans Seite noch Peeters, Tafi und Ballerini fuhren. Eine ideale Ausgangssituation. Johan setzte sich an die Spitze der Gruppe, sah aber, dass die drei Einzelkämpfer logischerweise kein Interesse mehr hatten, ihn in der Führungsarbeit zu unterstützen. Er gab Tafi ein Zeichen einen ersten Angriff zu setzen, den Sörensen noch leicht parieren konnte. Als die Gruppe sich von hinten wieder auffüllte und ein langsameres Tempo anschlug, griff mit Ballerini sein nächster Teamkollege an. Diesem Antritt hatte auf die Schnelle niemand etwas entgegenzusetzen und bis sich die drei verbliebenen Gegner formiert hatten, war sein italienischer Kollege schon über alle Berge. Nun hatte er sie fest im Griff. Sie mussten sich in der Verfolgung aufreiben. Wenn Ballerini nicht mehr eingeholt werden sollte, hätte das Team Mapei seinen Sieg, falls er noch zurückfallen sollte, könnte Johan so ausgeruht, wie es nach 240 Kilometern in der Hölle des Nordens möglich war, einen Gegenangriff setzen. Sie hatten ihre Gegner im Sack.
Patrick verfolgte aufmerksam die Durchsage von Radio Tour. Ballerini hatte nun eine halbe Minute zwischen sich und die sechs Verfolger gelegt und der Vorsprung wurde kontinuierlich größer. Nun war es Zeit am totalen Triumph zu feilen. Er wies Andrea Tafi an, es einfach mit einem Angriff zu probieren, um die verbliebenen Kräfte der Kapitäne zu testen. Zufrieden konnte er feststellen, dass die drei sich zwar aufbäumten, insbesondere Sörensen aber absolut am Ende schien. Tchmil und Bortolami konnten Tafi mit Mühe zurückholen, den folgenden Konter von Peeters wehrten sie nicht mehr ab. Stattdessen schauten sie sich nach hinten um, wo sie mit Schrecken das zwar verdreckte und trotzdem souveräne Gesicht des Löwen von Flandern zu sehen. Beinahe resignierend ließ Tchmil sich an das Ende der Gruppe fallen. Er sah ein, dass er nicht in der Lage war, die Mapeifahrer zu stoppen. Sein Kampfgeist schien gebrochen. Damit verblieb nur Gianluca Bortolami, der im Vorjahr noch für Mapei den zweiten Platz geholt hatte. Als er Tchmils erschöpften Blick sah, nahm er sich ein Herz und attackierte. Immerhin hatte er noch die Chance das Podium zu erreichen, wenn der Sieg auch utopisch erschien.
Johan fuhr direkt an Bortolamis Hinterrad. Sein Antritt war trotz des enormen Kräfteverschleißes enorm gewesen und Johan hatte kurz gefürchtet, ihm nicht folgen zu können. Auf den folgenden Kilometern hatte er dann feststellen müssen, dass Bortolami sich wohl doch übernommen hatte. Auf dem viertletzten Sektor, dem Carrefour de l'Arbre, ließ Johan ihn stehen. Er machte sich nicht die Mühe, aus dem Sattel zu gehen und anzutreten, sondern erhöhte einfach das Tempo, bis seine schmerzenden Beine nicht mehr zuließen. Die Gegner waren eliminiert, jetzt hieß die Devise, Ballerini noch einzufangen. Er erkundigte sich, wie es mit den Abständen nach vorne aussah. Patrick meinte, dass Ballerini etwa zehn Sekunden vor Peeters läge und Johan weitere zwanzig Sekunden zurück. Johan musste nun an sein Limit. Fünfzehn Kilometer verblieben ihm, um das Loch zu schließen.
Acht Kilometer später war es so weit. Begeistert sah Patrick, wie Johan zu den beiden anderen aufschloss. Sie hatten es wie im letzten Jahr geschafft, zu dritt an die Spitze zu kommen. Der nächste Verfolger, Bortolami, hatte schon einen Rückstand von über einer Minute, das Duo Tafi/Tchmil lag ungefähr zwei Minuten zurück. Somit blieb nur die Frage, wer von den dreien das Rennen gewinnen sollte. Er sah die drei kurz diskutieren, dann zeigte ließ sich Ballerini kurz zum Begleitfahrzeug zurückfallen und verkündete unter lautem Schnaufen. „Johan soll gewinnen. Er ist der Kapitän, er hat Chancen auf den Gesamtweltcup.“ Sie hatten sich als entschieden, eine bessere Situation für ihn als Teamchef, als wenn er das Ergebnis diktiert hätte. So hatten sie den optimalen Zieleinlauf gewählt. Johan würde im Trikot des Weltmeisters als Sieger über die Linie fahren und ein Bild für die Ewigkeit hinterlassen. Er konnte sich kaum zurückhalten und brach beinahe in Lachen aus. Was war das für ein verrücktes Rennen, in dem einige Kilometer vor dem Ziel das genaue Ergebnis ausgeknobelt wurde. So machte Radsport Spaß.
Johan führte seine beiden Teamkollegen über die letzte kurze Kopfsteinpflasterpassage. In etwas mehr als tausend Metern sollten die Strapazen vorüber sein. Die Arbeit über sechs Stunden und 260 Kilometer würde belohnt werden. Obwohl die Schmerzen in seinen Beinen immer größer wurden, fühlte er sich dennoch befriedigt, beinahe gereinigt. Die Hölle des Nordens hatte ihm die Möglichkeit gegeben, das auszuleben, was er liebte. Er hatte alles gegeben und wurde fürstlich dafür entlohnt. Aufgrund des hohen Vorsprungs gönnte er sich sogar den Luxus, den Fans zuzuwinken. Er hatte sie nicht enttäuscht, er hatte erreicht, was sie von ihm verlangt hatten. Er führte das Trio nun in das Velodrom herein. Noch 750 Meter lagen vor ihm, die eine einzige Triumphfahrt darstellten. Er richtete sich schon kurz auf und jubelte den Fans zu. Dann erlaubte er sich den Spaß, einen kurzen Bahnsprint mit seinen beiden Teamkollegen zu simulieren und die Massen damit zu verzücken. Es war ein einziges Schaulaufen, sogar in ihrer zweiten Runde waren die drei Mapei-Profis noch alleine im Velodrom und konnten die Momente genießen. Nach der letzten Kurve fuhr Peeters an seine rechte und Ballerini an seine linke Seite. Sie fassten ihn beide bei den Händen und hoben sie zum Sieg in die Höhe. Wie im Vorjahr fuhren sie im Einklang gleichzeitig über die Ziellinie. Auf der Gegengeraden sah er nun auch Andrea Tafi ins Velodrom einbiegen. Er hatte sich gegen Tchmil durchsetzen können und musste nur Bortolami den Vortritt lassen. Auch bei ihm meinte Johan hinter der schmerzverzerrten Grimasse ein zufriedenes Lächeln sehen zu können. Sie waren für alle Qualen belohnt worden, sie waren die Könige des Nordens und er war ihr Anführer, König Johan.
Ergebnis:
1.Johan Museeuw Mapei 6h09:48
2.Franco Ballerini Mapei +0:00
3.Wilfried Peeters Mapei +0:00
4.Gianluca Bortolami Festina +1:33
5.Andrea Tafi Mapei +2:07
6.Andrei Tchmil Lotto +2:20
7.Jo Planckaert Lotto +3:30
8.Leon van Bon Rabobank +3:30
9.Rolf Sörensen Rabobank +3:30
10.Frederic Moncassin Casino +3:30
Was macht man, wenn man am Tag vor seinem Lieblingsklassiker Langeweile hat? Man schaut ihn sich schon einmal im RSM an. Und welches Jahr würde sich besser dazu eignen, als eines der späten 90er mit der überragenden Mannschaft von Mapei unter der Führung von Patrick Lefevre?
Auf Screens wurde wegen mangelnder Qualität verzichtet und sie würden auch gar nicht so gut passen. Spannung steht nicht im Vordergrund, es geht eher um die Erinnerung an die überragende Zeit von Mapei Ende der 90er. Beschrieben wurde die Austragung von 1997.
PS: Ganz schön verstaubt, der Eintagesrennenthread. Schade eigentlich, Klassiker sind doch ganz fein.