Phillip Schiemann hat geschrieben:Die großen Fernsehstationen nutzen die Gunst der Stunde, beleben ein neues Reality-Format, schicken Strohmänner an alle Bahnhöfe im Ruhrgebiet, sammeln mit Kastenwagen die Junkies ein. Wichtig ist, dass nur die kaputtesten Exemplare angesprochen werden. Man händigt ihnen zehn Euro Anzahlung aus und winkt mit weiteren Zweihundert, die immer und überall in bar präsentiert werden, damit die Komparsen heiß bleiben und nicht vorzeitig abspringen. Mit der kompletten Mannschaft gehts dann zum Drehort, der Haupteinkaufsstrasse von Düsseldorf. Wir schreiben den letzten Verkaufsoffenen Samstag vor Weihnachten. Natürlich ist alles vorbereitet: High-Definition-Cams sind am Start, 24-P Bänder stehen kistenweise bereit. Mit fünfzig Mann marschiert der kaputte Club die Straße hinunter, nimmt Kurs auf den Kaufhof. Spätere High-End-Bilder, wackelig-hastige Sequenzen, gestochen scharf, Millionen von Farben: greise Omis, die erschrocken ihre Handtaschen an sich pressen, junge Männer, die wachsam und geduckt mit argwöhnischen Blicken ausweichen, um ihre Business-Dresse fürchten, kein grün-gelben-HIV-positiven-Junkie-Rotz am Helmut-Lang-Ärmel wünschen, Büdchenbesitzer, die schnell aus ihren von der Regenbogenpresse zugeklatschten Holzkästen herausspringen, die Zeitungsständer anketten, auf ihren Handys das Ordnungsamt verständigen, junge Marokkaner, die ihren Mastinos den Maulkorb abnehmen. Trotz allgemeiner Betriebsamkeit steigt die allgemeine Verunsicherung, die schwer beladene Bevölkerung riecht den Braten, wenngleich wie immer in autistischer Selbstverwirklichung versunken, irgendetwas kündigt sich da an, irgendeine Überraschung steht da an, und wenn kein christkindlicher Vorbote mit guter Kunde, so doch jedem Fall etwas prekär-spezielles, vielleicht sogar echtes Gefühlskino; vielleicht sogar mit Gewalt verbunden, in jedem fall doch so, dass man gerne dabeibleibt und zuschauen möchte, eben so, wie man es vom Fernsehprogramm gewohnt ist, einem herben Autobahnunfall mit langsam fahrender Autokinoschlange auf der Gegenfahrbahn gleich, und sei es nur, um festzustellen, wer denn nun der Schuldige war, sei es nur, um sich vom Leid des anderen in Ermangelung eigener Regungen ergreifen zu lassen, gar christlich mitzufühlen, dabei sein ist alles.
Eben betritt der kaputte Club den Kaufhof, läuft am Eingang durchs Heißluftgebläse, versteckt filmen die HD- Cams, halten jede Regung fest, bannen alles aufs Band, den dicken Wachmann, der vom vielen Rumstehen nur noch ein Schatten seiner selbst ist, jetzt unsicher aus der Wäsche guckt, seine CS-Gas-Flasche umklammert, Schweißausbrüche bekommt, schwer schluckend beiseite tritt, an seiner CS-Gas-Flasche herumplanscht, die junge Techno-Maus, die ein findiger Junkie nun über ihre lächerlichen Plateau-Schuhe straucheln lässt, die junge Mutter, die ihrem vierjährigen knatschenden Sohn von den Chupa-Chups-Lollydrehern wegzerrt, eben den Dingern, die einem den Lolly im Mund batteriebetriebener Weise automatisch drehen, eben so drehen, dass weder denken noch handeln nötig ist, um die schon vor Jahren Geschmacksgelähmte Zunge mit Glukosesirup einzusoßen.
So flaniert der Verein Richtung Rolltreppe, verdrängt rau ein paar Kunden, links stehen rechts gehen, wird außer Kraft gesetzt, ein schnauzbärtiger Verwaltungsangestellter regt sich auf, wird laut, will eben mal zeigen, wo’s langgeht und Schwupps – schon wird er gepackt, rupft zuguterletzt noch ein paar Haarbüschel aus schorfigen Köpfen und landet für sein Engagement dann doch noch zwei Stockwerke tiefer, schlägt seitlich auf schmucken Bistro-Tischchen auf, eben jenen, die den Einkauf noch netter, noch angenehmer machen sollen, eben jenen, die genau wie die alles begleitende Musik trotz noch beängstigenderer Raten bei völliger Ebbe im Portemonnaie den Kaufentscheid positiv zu beeinflussen haben. Bums.
Jetzt kommt leben in die Budde, vor allem die Schlaubergern dürfen triumphieren, ahnten sie, wussten sie doch gleich, dass hier noch was aussteht. Am Fuß der Treppe versammelt, macht sich ein kleiner Trupp zeigefreudiger Männer nun auf, dem Junkiepack nachzustellen, die Frauen nehmen Deckung, tuscheln, kichern erregt, legen Lippenstift für die Helden auf oder füttern derweil ihre Blagen ab, covern Köpfchen der Kleinen samt Zitze Komplett mit dem Cashmere-Pullunder, welcher extra gemeinsam zum Fest ausgesucht, schon vorn Bescherungstermin, ausgeführt wie ein reinrassiger Köter, den Status, die Kaste heben soll. Während die Damen der Schöpfung gegenseitig ihre Klamotten befühlen und sich falsch lächelnd Worthülsen zuwerfen, hat die Berber-Infanterie im zweiten Stock mittlerweile locker die Zentralkasse erreicht.
Diese mit Ausschlag und Schuppenflechte bedeckten schlagen jetzt ihre Glattleder-Bomberjacken, allesamt Leihstücke aus der Requisite, zur Seite und ziehen die abgesägten Schrottflinten aus den Schlaufen, klappen gemütlich die Läufe übers Knie, schieben die erhaltenen Kartuschen ein, endlich das zu tun, was ihnen allen irgendwann mal wie ein ferner Wunschtraum durch den Kopf ging, zu tun, was in Zeiten ständiger Beschaffungsproblematik eine echte, wenn auch nur kurzfristige Lösung bedeutet, aber immerhin: Sie nehmen den Kaufhof.
Und nicht nur das: Ganz so, als ob es darum ginge, wirklich ernst zu machen, nicht etwa nur wegen eines Raubüberfalls mit unerlaubten Waffenbesitzes verhaftet zu werden, legen sie direkt aus dem Handgelenk mal eben so ein halbes Dutzend der umstehenden Figuren um, bumm, bumm, bumm, schon fliegen sie geschwind durch die Gegend, fallen in die Regale, geben ihre Schwere Tütenlast frei, ihre Last, deren Inhalt, gar hübsch verpackte Präsente, nun lustig durch die Gegend purzeln.
Aufgeschreckt durch das Feuer der Artillerie nehmen die Herren der Schöpfung, eben die Rolltreppen erklommen, jetzt doch noch reiß aus, lieber abhauen, ein Faustkampf mit abgemagerten Pennern ja, eine Kugel im Wanst lieber nicht, sollen sich die Cops kümmern, dafür sind sie ja schließlich da, dafür zahlen wir ja auch Steuern , lautstarke Beschwichtigungen , erregtes sich-einander-die-Feigheit-ausreden, abgehauen, richtig gehandelt, jawohl, jetzt erstmal in die Kneipe, Bild-Reporter dabei, wie Kriegsveteranen beim Bier nun die Exclusivstory, Andy W’s berühmte fünfzehn Minuten, wenn man es selbst schon nicht glaubt, Hauptsache die anderen glauben es.
Oben ist jetzt Endstation, die Wocheneinnahmen stehen als meterlange Geldbombenbatterie auf dem Tresen der ZK, rechts die Aufzüge, links die Umkleiden, eben kommt ein Pärchen total Verwahrloster mit Perücken und Nubuk-Jäckchen herausgesprungen, sehr fidel, sehr grotesk, alles ein Riesenspaß. 24P-Impressionen, perfekte Beleuchtung, superscharf: Eine Junkie-Mutter setzt den Flachmann an, die Hälfte rinnt ihr über den Hals. Über ihre Schulter legt ein Aussätziger an, einen der Herrenabteilungs-Päderasten zu erlegen, feuert die Kanone ab, lautester Krach. Der Mutter fliegt das Trommelfell raus, dank Mündungsfeuer steht sie gleich halb in Flammen, das Spiritus-Honig-Gemisch flämmt ihr flink hübsche Schneisen in die nicht vorhandene Frisur, schnelle gekräuselte Rauchentwicklung, spitzer Schrei und ehrliches erstaunen beim Schützen. >> Du musst die Augen noch aufkriegen, das ist das wichtigste <<, lallt eine der Pin-Point-Pupillen, stolpert zum Tresen, der Kumpel setzt nach, wittert Beschiss. >> Wo sind meine zweihundert Euro? << weint er, blutverkurstetes T-Shirt, die bepissten Beinkleider auf halb acht
>> Kriegen wir noch <<, stammelt Nummer eins, kindlich, liebenswert nickend, >> hundert pro. <<
Draußen ist jetzt alles abgeriegelt, Sirenen, Menschenmassen, alle am Fenster, Status, Hubschrauber, Megaphonansagen, Fernsehteams, Scharfschützen, Presseteams, Fotografen, Nutznießer, Trittbrettfahrer. Eben landen die Fallschirmspringer, kugelsichere Westen, neues Material, viel leichter, Motorradhauben, Tarnfarbe, Lederhandschuhe, Mag-Lites, Sturmgewehre. Auf Kommando seilt sich der Trupp jetzt ab, schwupp, schwupp, drei Sätze nach unten und mit Schwung durch die Scheibe, GSG 9 Springteufelparade, rien ne vas plus. Aber es kommt noch besser, jetzt kann Hollywood endgültig einpacken: Die Junkie-Bande, verstreut Fünfzig vom übelsten, zieht angesichts der gerade aus der Herrenoberbekleidung antanzenden Staatsmacht die Reißleine, schiebt sich unisono, wie von Ron Demol höchstpersönlich choreographiert, das Schießeisen ins Maul und Bäng! – kurze dreizehn, spritzt ihre kaltschale straight an die Decke, Blütenkelche poppen auf im Mai, schicken Tuff! Tuff! Ihren Lebensstaub gen Himmel, elende, schöne, geile, verzweifelte Verschwendung. Überall tropft jetzt das Hirn von der Decke, quadratmetergroße Hartfaserplatten, von Hypophysen gezeichnet.
Standbilder: kopflose Berber, bizarr ins Regal drapiert, junge Frauen von vierzig Kilo, abszessreiche Arme, der Hals nur noch Sockel für den kopflosen Unterkiefer. Schwenk nach oben, Zoom in die Totale, Still: die Reste mangelhafter Schulbildung, schlechter Kindheitserinnerungen und der generelle Speicherplatz für karmatische Verstrickungen aller Art, hier als Plasmateppich flächendeckend verteilt, kollektiv ans Gebälk gesprühnebelt, echt phatt.
Die Sturmtruppen indessen, immer noch in Hockstellung, Kanonen im Anschlag, schießen ein paar Ladungen Tränengas ab, ballern sinnlos hinterher, vielleicht lässt sich ja doch noch der ein oder andere aufs Konto schreiben, mal gucken. Nichtsdestotrotz: keine Vernehmung mehr möglich.
Am gleichen Tag die Gewissheit, die Wahrheit, wenn auch alles nur sorgfältig fürs Volk inszeniert: Die Fünfzig sind Gesandte einer neuen Vereinigung, deren Oberhaupt von den Cayman-Islands aus weltweit Theater angezettelt hat. Dagegen muss vorgegangen werden, es handelt sich um gefährliche Sektenanhänger, überall unter uns. Nach diesen Subjekten muss gezielt gesucht werden, dazu braucht es die Mitarbeit der Bevölkerung, ein Hinweis genügt, man wird der Sache auf den Grund gehen.
Jedes Volk kriegt die Story, die es verdient. Fröhliche Weihnachten.
So, mal Werbung nebenbei, dafür is sowas ja auch da.
2002 Erschienen.
Düsseldorfer Undergroundschriftsteller und beschreibt die Lage in Deutschland 2005
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