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Andy92
15.12.2008 - 21:57
Erinnerungen an Immenstadt kamen hoch als Hans, Sven und ich im Zeichen der aufstrebenden Sonne zu dritt in Richtung Dallenwil unterwegs waren. Die anderen würden bis nach Alpnach fahren, um den Ächerlipass von dort auf der anderen Seite zu erklimmen – die weitaus hässlichere – und auf uns im Zielbereich zu warten.
Ich war richtig heiß auf das Rennen. In den letzten Stunden hatte sich unglaublich viel Wut in mir angestaut, gepaart mit dem nach wie vor vorhandenen Streben nach Perfektion, hatte ich das Gefühl als könne mich an diesem wunderschönen Morgen nichts mehr aufhalten. Es war der Start in einen neuen grandiosen Tag. Ein Start in ein neues glorreiches Leben.
Wir rasten über die Autobahn oberhalb des Sees. Auf dem Wasser und in den Seitentälern hatte sich der Nebel an den Berghängen festgefressen und kämpfte gegen die unbarmherzige Frühlingssonne, die auf der Autobahnbrücke den dichten Nebel bereits in unzählige Schwaden zerfetzt hatte. Wir tauchten gerade in die nächste ein – rasten wieder hinaus – und wieder in die nächste hinein. Das Geschwindigkeitsgefühl war berauschend – die Straße fast komplett leer. Wir konnten dieses herrliche Gefühl so richtig auskosten. Eine willkommene Abwechselung nach der letzten chaotischen dreiviertel Stunde.
Auf ein zwar stärkendes aber hektisches Frühstück, folgte ein noch hastigeres Zusammensuchen der Rennutensilien – Trikot, Hose, Handschuhe, Sonnenbrille, Flaschen abfüllen, Räder überprüfen und am Wagen befestigen. Abschließend hat es von allen anderen noch ein aufbauendes „Viel Glück“ gegeben.
Noch aufbauender war Christines flüchtiger Kuss auf die Wange gewesen, der von ihr wohl absichtlich so platziert wurde, dass ihn niemand sah. Schon jetzt verspürte ich das dringende Bedürfnis sie wieder zu sehen – sollte das meine Beine noch schneller machen, als es Wut und Enttäuschung eh schon taten?
Wir erreichten Dallenwil und bogen auf die kleine schmale Passstraße ab. Hier auf dem letzten Flachstück befand sich der Startbereich. Die Veranstaltung war wirklich um einiges größer. Selbst hier standen schon Zuschauer und als ich dem Straßenverlauf am Berghang folgte, konnte ich noch einige mehr erkennen. Weit reichte mein Blick jedoch nicht, denn hier unten war die Nebeldecke noch zu dick, um überhaupt einen Sonnenstrahl durchzulassen. Als wir uns umgezogen hatten und uns doch tatsächlich Rollen zugeteilt wurden, spürte ich, wie kalt es eigentlich ohne Sonne war. Es war jetzt viertel vor zehn. Was sollte man Anfang April anderes erwarten?
Ich und Sven strampelten uns etwas abseits der anderen Teilnehmer warm. Eigentlich sah ich nur Kraftpakete und einige typische Bergflöhe. Gegen uns wirkten die anderen Fahrer so unglaublich professionell, dass es fast schon beängstigend war. Ja, ich hatte Angst, unter zugehen.
Sven beäugte die Konkurrenz genauso argwöhnisch wie ich. Wir konnten beide kein einziges Ebenbild unserer Staturen ausmachen. Sobald wir jemanden entdeckten, der nicht ganz so groß war wie ich, also eher so wie Sven, war er viel kräftiger als mein Vereinskamerad – und wenn wir so einen doch recht großen Fahrer wie mich entdeckten, dann war er bei weitem nicht so dürr und schmächtig wie ich, sondern wirkte eher schwerfällig. Bei vielen schüttelte Sven sogar den Kopf, warum sie hier überhaupt an den Start gingen.
Einer dieser Sorte stach ganz besonders ins Auge. Die Sponsoraufschrift auf seinem Trikot verriet mir, dass er wohl aus Italien stammen müsste. Doch was mich wirklich schockierte war sein bestechender Bizeps und seine Waden, die mindestens doppelt so dick waren wie meine. Eine goldene Kette baumelte an seinem Hals und wippte im gleichen irre schnellen Rhythmus hin und her, wie seine Beine, die neben den überdimensionalen Waden, auch noch mit schier platzenden Oberschenkeln bepackt waren.
„Der wird zum Sprinter ausgebildet – was will der hier?“, meinte Sven völlig verständnislos.
„Vielleicht ist er der kommende Topmann und soll lernen auch über die Berge zu kommen“, fügte ich hinzu.
„Hm, kann schon sein. Trotzdem tut er mir irgendwie Leid – der letzte Platz ist vorprogrammiert.“
Hatte ich nicht gerade „kommender Topmann“ gesagt – und Sven hatte nicht darauf reagiert?! Wie hochkarätig war dieses Rennen bitteschön besetzt? Wo war ich hier bloß gelandet? Gut, Sven war beim BDR mittlerweile schon relativ hoch angesehen und rangierte zumindest auf nationaler Ebene wohl öfters in solchen Kreisen – zumindest nach dem, was ich in den letzten Monaten so von und über ihn gehört hatte – aber es schien mir dennoch etwas zu hochgegriffen, hier von „kommenden Topleuten“ zu sprechen.
Ich stellte aber fest, das mir das einen Motivationsschub gab. Ich spürte, wie mir der Gedanke, die Großen ärgern zu können, mehr und mehr zu gefallen schien – und als völliger Nobody war das natürlich noch viel dreister. Der Druck schwand von mir. Ich würde völlig befreit auffahren können und letzter würde ich wohl schon gar nicht werden. Möglicherweise könnte ich sogar wieder in die Top 10 oder sogar wieder in die Top 5 fahren?
Nein, ich durfte meine Erwartungen und Ziele ja nicht zu hoch setzen. Sonst gäbe es womöglich ein böses und enttäuschendes Erwachen. Einfach das beste geben und gut ist.
Hans war mittlerweile aufgebrochen, um den anderen nach Alpnach hinterher zu fahren. Auch er wollte das Finale des Rennens im Zielbereich verfolgen, denn die letzten ein, zwei Kilometer konnte man von der Tribüne aus herrlich überblicken – zumindest soweit ich mich erinnerte.
Vor allem er und alle anderen der Gruppe hatten mich heute Morgen richtig überrascht. Nachdem ich, gleich beim ersten, der mich über mein plötzliches Auftauchen ausgefragt hatte, wieder meine Standardlüge aufgetischt hatte, hielten die anderen ganz schnell den Mund und fragten lieber nicht nach. Seltsam. Sie schöpften keinerlei Argwohn, oder wollten es nicht öffentlich kund tun...
Mit zehn Minuten Verspätung drückte ein älterer Herr im schwarzem Anzug auf den Abzug der Pistole und gab das Rennen damit zumindest symbolisch frei. Es fuhr doch glatt ein Jury-Auto vor und hinter dem Feld. Auf den unzähligen Motorrädern saßen Scouts von mir zum Teil völlig unbekannten und andererseits sehr gut bekannten Teams – beim Klang so einiger Namen lief es mir vor Aufregung eiskalt den Rücken hinunter – und neben der Strecke säumten bereits einige Zuschauer den Straßenrand.
Gerade mal hundert Meter nach dem Start winkte der Rennleiter mit einer roten Fahne und gab das Rennen nun offiziell frei. Unsre Taktik war klar definiert und zu meiner völligen Überraschung attackierte keiner von Beginn weg – anscheinend hatten die meisten Fahrer doch gehörigen Respekt von dem, was auf den folgenden zehn Kilometern auf sie wartete. Ich rief mir die Zahl noch einmal in Erinnerung: 9,7 %!
Die erste Kehrenkombination unterhalb des Waldes und der Nebelwand türmte sich vor uns auf. Und plötzlich begann die Steigung. Das Feld bestand gerade mal aus zehn Teams oder Vereinen und insgesamt fünfzig Fahrern – also etwas mehr als in Immenstadt.
Ich hatte mich schon in die erste Reihe vorgemogelt – Sven lauerte ein paar Plätze weiter hinten – er vertraute mir. Mir und meinen Fähigkeiten, auf die ich ebenfalls vertrauen musste – und konnte.
Noch war das Tempo nicht hoch, es war eher verschleppend. Und bevor ich den Schwung aus dem Flachstück zu verlieren drohte, trat ich wie abgesprochen an, während alle anderen neben mir einfach nur einen Rhythmus zu finden versuchten, oder eines der italienischen Teams einen Zug fertig stellen konnte, was mir und Sven wohl nicht so gut getan hätte.
Sofort begegnete mir eine Kopie aus Immenstadt: Ein älterer Hobbyradler aus der Schweiz am Streckenrand stehend – mit einem schreienden violetten Trikot bekleidet – brüllte sofort los: „Hopp! Hopp! Hopp!“, als ich meinen Angriff direkt vor seiner Nase startete.
Mein Rad lies sich trotz der bereits extremen Steigung von wohl sieben oder acht Prozent auf dem durch einen nun einsetzenden Nieselregen nassen Asphalt relativ leicht beschleunigen. Meine Beine fühlten sich super an – ja, fast perfekt – sofort spürte ich, dass ich noch eins drauf setzen könnte und warf einen Blick auf meinen Tacho, nachdem ich die erste Kehre genommen hatte: 21 km/h! Wer hätte damit gerechnet?! Ich auf jeden Fall nicht.
Der Gang war genau richtig – viel schneller konnte ich zwar nicht mehr kurbeln, dafür war er aber nicht zu groß, sodass ich womöglich noch Gefahr gelaufen wäre, einen Stehversuch starten zu müssen. Der Wiegetritt schien mir heute richtig gut zu gefallen und so veränderte ich meinen Stil vorerst nicht. Warum auch? Wenn etwas funktioniert, dann muss man es auch nicht ändern.
Der Angriff schien doch ziemlich gesessen zu haben. Ich las es zunächst, ohne auch nur einen Blick zurück zu werfen, nur an den Gesichtern und Reaktionen der Zuschauer ab. Sie jubelten, zum Teil erstaunt, feuerten mich an, oder meine direkten Verfolger. Irgendein Schweizer schien sich wohl an mir festgebissen zu haben, denn vor allem die überwiegenden einheimischen Zuschauer zollten dem Fahrer hinter mir, mehr Anfeuerung als mir.
Desto näher ich den nebelverhangenen Baumwipfeln des Waldes über mir kam, umso stärker wurde der Nieselregen. Ich nahm die zweite Kehre und warf zum ersten Mal einen Blick zurück: Das Fahrerfeld war arg in die Länge gezogen. Das umschreibt die Situation wohl ziemlich gut – Sven konnte ich leider nicht mehr erkennen. Also: Taktik voll durchziehen – ohne Rücksicht auf Verluste.
Wie ich es erwartet hatte, fuhr – noch mit rund zwei Metern Abstand – ein kleinwüchsiger Bergfloh mit klobig wirkendem Rennrad hinter mir. Wie an der Schnur aufgereiht folgten die nächsten. Nach dem sechsten Fahrer entstand ein größeres Loch – einer konnte das Tempo seines Vordermannes nicht mehr halten und lies kopfschüttelnd abreißen – das gab noch einmal einen Ansporn, die Lücke schnellstmöglich zu vergrößern.
Mittlerweile fuhren wir direkt unterhalb des Waldes. Als ich schließlich die knospentreibenden Laubbäume erreichte, wurde die Straße richtig abenteuerlich. In den Fels gehauen schützte lediglich eine nicht gerade vertrauenserweckende bereits verbogene Leitplanke den Autofahrer vor dem Absturz. Ich musste mir keine Sorgen machen und nahm in der nächsten Kehre noch einmal Schwung – dann setzte ich mich und suchte einen guten Rhythmus. Ein zweiter Blick verriet mir, dass noch einmal ein Fahrer abreißen lassen musste – wir waren nur noch zu fünft: Zwei dieses „Schweizer Bergflöhe“ – Teams und zwei aus Italien, waren noch dabei. Sie waren alle kleiner als ich – mehr oder weniger. Die Italiener waren zwar etwas größer als die beiden Schweizer, dafür aber viel schmächtiger, als es zum Beispiel Sven war. Ihn sah ich jetzt an dritter Position einer Verfolgergruppe um die Ecke biegen. Geschätzter Rückstand – fünfzehn Sekunden – aber dem kämpfenden Fahrer an der Spitze zu urteilen – waren wir fünf auf und davon.
Die Gruppe lief jetzt endgültig zusammen und auch der letzte setzte sich in den Sattel – leider sahen sie alle noch recht entspannt aus, aber ein großartiger und nicht zu erwartender Erfolg war es jetzt schon – ohne Zweifel.
Als ich meinen Kopf wieder nach vorne richtete, erhaschte ich noch kurz im Augenwinkel, wie der zweite Schweizer an dritter Position wieder aus dem Sattel ging – eigentlich machte er es ganz unscheinbar. Doch mein Umdrehen schien ihm wie gelegen zu kommen, denn sofort sauste ein weißes Trikot an mir vorbei, wie es die beiden trugen!
Ich reagierte blitzschnell – ja, fast schon reflexartig und hatte sofort das Hinterrad erwischt. Die etwas weniger gewordenen Zuschauer am Straßenrand tobten – zumindest für ihre Verhältnisse. Der Angriff war zwar wunderbar platziert und perfekt vorgetragen, aber mir machte es nichts aus. Ich fühlte mich wirklich unglaublich gut – noch etwas besser als am Donnerstag hinauf zur Seilbahnstation bei Gersau, wo der Anstieg zwar nicht so lang, dafür aber genauso steil wie hier gewesen war. Nicht nur das Training der letzten Woche, auch die von gestern Abend angestaute Wut trug zur Verbesserung meiner Kletterqualitäten maßgeblich bei. Mir war gerade alles egal – auch das meine Beine jetzt doch schon anfingen etwas zu schmerzen, doch es war flacher geworden.
Unerwartet früh ging der Angreifer wieder in den Sattel und blickte sofort zurück – aber an mir vorbei – ich setzte ohne groß darüber nach zu denken – einfach intuitiv und aus dem Bauch heraus noch eins oben drauf und attackierte den Angreifer. Ich fühlte mich wieder so sicher, wie bei meinem ersten Angriff und benötigte vorerst keinen Blick zurück. Erst mal ein paar Körner verschießen, Stress abbauen und an den Kräften der Gegner zehren – sie mürbe fahren.
Ich nahm die nächste Kehre – immer noch im Wald – und warf jetzt einen flüchtigen Blick zurück – nur als Zwischeninformation gedacht und als womöglich entscheidende Situation endete dieser Vorgang: Einzig und alleine der gerade noch attackierende Schweizer und einer der Italiener hatten mein Hinterrad ansatzweise halten können – alle waren wohl zu überrascht gewesen oder sie konnten tatsächlich nicht mehr folgen. Ich hielt die erste Variante für wahrscheinlicher und wusste was zu tun war. Durchziehen! Diese einmalige Chance nutzen! Vielleicht die entscheidenden Meter zwischen sich und die Verfolger legen! Ich durfte sie nicht mehr rankommen lassen. Ich musste sie ein für alle Mal distanzieren!
Gesagt – getan. Ich legte alles, was ich hatte auf eine Wagschale und fuhr ans Limit. Meine Pulsuhr verriet mir, dass ich konstant an meiner Laktatschwelle fuhr – und das spürte ich auch. Jetzt brannten die Oberschenkel und Brustkorb schon deutlicher als zuvor – aber es war noch nicht unerträglich. In der Lunge spürte ich auch noch kein säuerliches Gefühl, was bei mir meistens eine katastrophale Ladehemmung zur Folge hat – so eine Pulsuhr ist echt praktisch.
Es wurde wieder steiler, doch ich trat den heute perfekten Gang im Wiegetritt durch. Zum ersten Mal erfuhr ich am eigenem Leibe, wie sich das berühmte „Spinning“ anfühlt. Armstrong und Contador waren gerade ein Witz gegen meine Kadenz – glaubte ich zumindest. Trotzdem gab mir dieser Gedanke einen unglaublichen Schub und führte mich um die nächste Kehre und über die nun folgenden 16 % Steigung!
Ich nahm die Rampe kaum bewusst war – nur mein Körper spürte die Anstrengung. Jetzt musste ich einen guten Rhythmus finden, um zumindest ein gutes zügiges Tempo zu wahren. Der Wiegetritt schien heute die bessere Art der Fortbewegung zu sein und so blieb ich dabei. Meine Kadenz war tatsächlich extrem hoch – so hoch, wie noch nie zuvor – aber ob sie tatsächlich an die der großen Kletterstars herankam bezweifelte ich.
Ich sauste um die nächste Kehre. Ein letztes Mal blickte ich zurück – ich war allein. Sofort lähmten ein paar Endorphine meine Beine, doch schnell hatte ich mich wieder gefangen – ich durfte mir diesen Vorsprung jetzt auf keinen Fall mehr nehmen lassen!
In diesem Augenblick verlies die Straße den Wald und die Steigung nahm spürbar ab – lag aber wohl immer noch bei guten acht Prozent. Auf den grünen taufrischen Wiesen standen ein paar alte Scheunen und ein Hof. Die Zuschauerzahl nahm wieder etwas zu, doch die anfeuernden Rufe und den Applaus nahm ich kaum noch wahr. Jetzt nervte mich ein Motorrad rund zehn Meter vor und eines hinter mir. Noch weiter vorne tuckerte das Juryauto entlang – die Geschwindigkeit war wirklich nicht mehr hoch. 18 km/h konnte ich jetzt noch halten – Tendenz leider sinkend. Dennoch war ich mir ziemlich sicher, dass das reichen würde.
Plötzlich verschwand der Nebel und die Wiesen begannen im gelben Sonnenlicht zu glänzen. Ich spürte die Wärme am Rücken und an den Beinen. Der Himmel über mir strahlte in einem tiefen Blau und als ich einen Blick zurück warf, galt dieser nicht meinen Gegnern, sondern der atemberaubenden Kulisse, die sich mir jetzt bot. Das war Belohnung genug, das als erster der fünfzig Fahrer sehen zu dürfen! Im Tal hingen die Wolken und aus diesem weißen Meer ragten die umliegenden Berggipfel auf. Es war atemberaubend!
Gut, dafür hatte ich nicht allzu viel Zeit. Dennoch konnte ich nur schweren Herzens meinen Blick wieder nach vorne richten – oben würde ich noch genug Zeit haben, die Landschaft zu genießen, vielleicht mit Christine zusammen, vielleicht als Sieger.
Doch die hohen Berge ringsum weckten etwas anderes bei mir. Etwas ganz anderes, um das sich bis vor wenigen Sekunden auch noch der Nebel gelegt hatte und mir jeglichen Zugang verwehrt hatte. Es war eine Erinnerung an die vergangene Nacht. An einen freundlichen Mann, der mich nach Hause gefahren hatte und, was noch viel wichtiger war, an einen Traum. Zunächst war es ein Alptraum gewesen, doch dann hatte es sich zum genauen Gegenteil entwickelt. Ich legte eigentlich gar nichts auf angebliche Visionen und deren Deutungen, doch ein undefinierbares Gefühl sagte mir, dass etwas nicht stimmen konnte. Die Bilder vom Stilfser Joch jagten wir wieder durch den Kopf. Die unglaubliche Fahrt mit Jörg, das schreckliche Bild auf der Passhöhe, die endlose Fahrt ins Tal und alles endete mit der Nachricht – mit der Nachricht – die vom Tod meines Vaters. Dann musste ich wieder an meine Mutter denken, was sie alles in den letzten Monaten gesagt und getan hatte, wie sie auf Papas Tod reagiert hatte und was sie mir gestern Abend offenbart hatte – alles zusammen ergab ein Bild. Nein, es war eher eine Vermutung, eine ziemlich schwachsinnige Vermutung, doch gepaart mit Hoffnung und Zuversicht entwickelte sie sich zu einem für mich endgültigen Entschluss. Er kam nicht aus großer Überlegung heraus. Es war ein mulmiges Gefühl in der Magengegend, das mich aufhorchen lies. Ein Gefühl, dem man Beachtung schenken musste. Das war keine Vermutung, nein, mein Unterbewusstsein schien irgendeine Unstimmigkeit zu spüren und versuchte gerade mit dem Bewusstsein Kontakt aufzunehmen. Irgendetwas war in diesem halben Jahr nicht richtig gelaufen und ich würde früher oder später dahinterkommen was es war.
Und während ich in ein kleines Waldstück einbog, wuchs in mir die Hoffnung auf ein Wiedersehen. Auf ein Wiedersehen mit einem alten Bekannten – einem sehr guten Freund. Ich war mir so sicher. Mein Vater war am Leben – ER war nicht am Stilfser Joch gestorben!
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Andy92 am 16.12.2008 - 17:44, insgesamt 1-mal geändert.