Im siebten Himmel

FIKTIVE Radsport-Geschichten von Usern, die sich für schreibtalentiert halten

Moderator: Grabba

Benutzeravatar
Mor!tz
Beiträge: 359
Registriert: 17.7.2008 - 14:45
Kontaktdaten:

Beitrag: # 6747158Beitrag Mor!tz
2.12.2008 - 18:07

Andy92 hat geschrieben:Ich werde den AAR jetzt so richtig so schreiben, dass mir jeder Teil gefällt und dass ich mitfiebern kann, wenn ich ihn mir wieder durchlese.
Das finde ich spitze, denn in erster Linie sollte der AAr ja dir gefallen, sonst lässt sicher die Motivatiuon schnell nach. Kritik ist ja nicht dazu da, dass nachher alles so ist wie es denn anderen gefällt, denn das klappt eh nie, sondern dazu, dass du dir Gedanken darüber machen kannst und dich verbessern kannst, allerdings nur, solange die Kritik dir auch zusagt...

Frohes Schreiben, ich freu mich drauf

Moritz

Benutzeravatar
Grabba
Beiträge: 2654
Registriert: 3.7.2006 - 22:18
Kontaktdaten:

Beitrag: # 6747159Beitrag Grabba
2.12.2008 - 18:08

Was ist das denn für eine Widerspruchskette? Du sagst, dass Adrenalin unsere Muskeln schlagartig stimuliert und dadurch instinktive Reaktionen hervorruft. Daraus folgerst du, dass man in so einer Situation gelähmt ist? Es ist ja gerade das genaue Gegenteil: Man macht einfach, ohne auch nur eine Chance zu haben, gelähmt zu sein. Und dass das "Adrenalin die Muskeln versagen lässt" ist ja schlichtweg falsch. Dass Andreas in dieser Situation subjektiv anders fühlt ist hingegen eine ganz andere Sache - die aber in deinem Text nicht steht.

Ansonsten könnte ich mal wieder deine zu starr-gute Selbsteinschätzung kritisieren - würde uns aber auch nicht weiterbringen. Deshalb abschließend noch einmal der ausdrückliche Hinweis, dass du deinen AAR einzig und allein so schreiben solltest, wie er dir selbst gefällt, und einzig und allein das umsetzen solltest, was du selbst haben willst. Egal, was die Leser dann sagen. Ist ja nicht so, als würden wir dich dafür bezahlen, dass du genau das schreibst, was wir lesen wollen. ;)


EDIT: Lähmung = Bewegungsunfähigkeit. Und das ist ganz sicher nicht das, was das Adrenalin bewirkt. Was er meinte ist mir durchaus klar, aber er hat es halt nicht geschrieben.


EDIT2: Andy (20:53), mag ja sein. Aber trotz allem hast du was Anderes geschrieben. Und jetzt genug. ;)
Zuletzt geändert von Grabba am 2.12.2008 - 21:18, insgesamt 2-mal geändert.

Benutzeravatar
Hagen
Beiträge: 114
Registriert: 19.3.2008 - 14:30

Beitrag: # 6747161Beitrag Hagen
2.12.2008 - 18:18

nein,er meint wenn man einen extremen Adrenalinschub bekommt das der
Körper von selber reagiert.Und weil man keine kontrolle über den Körper
hat man sich so fühlt als wenn man gelämt wär.

Gerrit
Beiträge: 584
Registriert: 11.7.2007 - 14:43
Kontaktdaten:

Beitrag: # 6747163Beitrag Gerrit
2.12.2008 - 18:36

Ich könnte jetzt mein BioBuch rausholen wenn ihr wollt :D Ne, ich fands einfach Klasse. Und mir ist eig egal, ob das Adrenalin den Körper lähmt oder nicht :D

Andy92
Beiträge: 468
Registriert: 29.6.2008 - 19:53
Kontaktdaten:

Beitrag: # 6747179Beitrag Andy92
2.12.2008 - 20:53

Grabba, schon mal was von Schrecksekunde oder Schockstarre gehört? Hat dich noch nie etwas so getroffen, dass du für ein paar Sekunden wie gelähmt warst? Das löst auch das Adrenalin aus, so wie viele Gefühle. Wut, Angst, Stress...

Und dann hab ich noch was zum Thema "einzige - einzigste": http://de.wikipedia.org/wiki/Absolutadjektiv
Bild
Bild
Bild

Andy92
Beiträge: 468
Registriert: 29.6.2008 - 19:53
Kontaktdaten:

Beitrag: # 6747734Beitrag Andy92
7.12.2008 - 18:44

2.Teil - Tod und Leben

1.Kapitel - Pauls Botschaft

„Vielen Dank. Sie können mich hier rauslassen.“
Ich saß auf der Rückbank. Der unbekannte, nette Mann parkte den Wagen direkt vor der Ferienwohnung. Er hatte mich tatsächlich bis hierher gefahren. Offenbar machte ich einen ganz erbärmlichen Eindruck auf ihn.

Wie ich zitternd vor Kälte am Straßenrand gestanden und meinen Daumen in die Höhe gereckt hatte – nur einen nicht allzu großen Koffer bei mir – die Augen verquollen – und mit tränenverschmierten Wangen.
Er musste sicherlich glauben, dass ich gerade von einem Zuhause, das ich in Wirklichkeit nicht mehr besaß, weglaufen wollte. Doch er hatte kein Wort über dergleichen verloren. Stattdessen hatte er mich in ein Gespräch über die aktuelle Situation im Fußball vor der Europameisterschaft in seinem eigenen Land verwickelt. Als er gleich damit anfing, Michael Ballack zum Kapitän der englischen Nationalmannschaft zu machen, die sich nicht einmal für das Turnier qualifiziert hatte, merkte ich, dass dieser Mann eigentlich gar keine Ahnung von dieser Sportart hatte. Ich erahnte etwas vollkommen anderes.
Das einzige, was er mit diesem doch sehr sinnfreiem Gespräch bezwecken wollte, war, mich von den Geschehnissen der letzten Stunden abzulenken, obwohl er ja gar nicht wusste, was überhaupt vorgefallen war. Und wenn ich es recht bedenke, dann will er die Wahrheit wohl auch gar nicht erfahren – so etwas Schreckliches will keiner wissen...
Ich nahm diese Chance der Ablenkung natürlich dankend an und bekam den Kopf tatsächlich frei. Selbst in dem Augenblick, als wir auf den Radsport zu sprechen kamen, der bei ihm eigentlich nur aus dem Namen Fabian Cancellara bestand. Ich konnte tatsächlich jeglichen Gedanken an den Tod meines Vaters und an meine Mutter verdrängen.

Während der ganzen Fahrt hatte ich meinen Koffer fest an mich gedrückt. Dort war alles drin, was ich jetzt noch mein Eigen nennen konnte: Papiere, Geld, Kleidung.
Die Hitze, die vom Automotor durch die Heizungsschlitze strömte, hatte mir wieder Wärme eingeflößt. Der Schweizer, mein Retter in der Not, hockte mit schweißnasser Stirn auf dem Fahrersitz und lächelte gequält zu mir nach hinten. Er hatte heute eine wirklich gute Tat vollbracht. Mir hatte er wieder auf die Füße geholfen, wie es nur ein Vater konnte. Er hatte Lasten auf sich genommen, damit ich wieder einen klaren Kopf bekam und wieder das Gute in der Welt sehen konnte.
Dennoch stand mein Entschluss fest. Ich wollte nichts mehr von meiner Mutter hören – zwar nicht für immer, aber die Wut, der Frust, die Enttäuschung und die Schuld, die sie mir heute aufgeladen hatte, musste erst einmal schmelzen, bis ich wieder mit ihr sprechen, geschweige denn ihr überhaupt in die Augen blicken konnte. Und wenn ich in diesem Augenblick eine Sache mit ziemlicher Sicherheit sagen konnte, dann, dass dieser Prozess, den Schmerz zu verdrängen oder gar zu vergessen, sehr lange dauern würde.

Ich brauchte eine Weile bis ich meinen Geldbeutel gefunden hatte und zottelte einen Zehn-Euroschein heraus.
„Das ist fürs Tanken.“
Der Unbekannte nahm das Geld schmunzelnd entgegen. Ich zögerte einen kurzen Augenblick.
„Schweizer Franken wären ihnen wohl lieber gewesen, oder?“
„Nein, das geht schon in Ordnung“, grummelte er und bemühte sich dabei, wie schon während der ganzen Fahrt, seinen Schweizer Dialekt weites gehend zu unterdrücken, was ihm aber deutlich misslang.
„Aber, was ich ihnen eigentlich sagen will, kann ich gar nicht mit Geld bezahlen....Sie haben mir heute Abend wirklich sehr geholfen – ich würde sogar sagen, dass sie mir die Augen geöffnet haben – vielen Dank dafür.“
Ich strahlte ihn an, doch seine Züge veränderten sich. Das Lächeln verschwand und er blickte mir für einen ganz kurzen Augenblick mit einer beängstigenden Art und Weise in die Augen. Ich stieß vorsichtshalber schon mal die Wagentür auf und setzte einen Fuß auf den knirschenden Kiesbelag.
So plötzlich das Lächeln verschwunden war, so kam es auch wieder. „Na, wenn du meinst. Keine Ursache.“ Er zwinkerte mir zu.
Ein wenig verwirrt kletterte ich aus dem Auto und schwang die Tür hinter mir zu. Sofort heulte der Motor auf und der Kombi rauschte davon. Ich blickte den beiden Rückleuchten noch einmal nach, dann war er weg.
Ich verspürte einen kleinen Stich in der Magengegend, als wäre gerade eine vertraute Person zu einer langen Reise aufgebrochen. Es fühlte sich an, als hätte ich diesen Mann schon immer gekannt, dabei war ich ihm noch nie begegnet.

Gedankenversunken schlenderte ich zum Haus. Bevor ich klingelte, warf ich vorsichtshalber noch einen Blick auf die Uhr. Es war halb zwölf. Ich hätte so oder so geläutet, doch immerhin konnte ich mich jetzt noch auf eine Person freuen, die wirklich noch wach war und nicht mit verschlafenen Augen und Vorwürfen die Tür öffnete.
Das Licht im Flur ging an und ich sah eine kleine gedrungene Gestalt zur Tür wackeln. Dem unsicheren Gang zu urteilen, war er wegen dem Rennen morgen wohl doch schon schlafen gegangen. Aber warum sollte er dann aufmachen?
Der Schatten drückte auf die Klinke und stöhnte – offenbar hatte Hans schon abgeschlossen.
„Moment!“, hörte ich Peters gedämpfte Stimme – ja, er war wirklich noch wach. Unwillkürlich musste ich grinsen.
Es war wie in dieser herrlichen Woche, als er auch immer der letzte gewesen war, der sich schlafen legte. Anscheinend brauchte Peter nicht so viel Schlaf – oder er war deswegen so klein geblieben. Wie lange das jetzt doch schon her war...

Die Ereignisse dieses Abends überschatteten alles. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren und erst als eine frische Brise vom See meine Gedanken weckte, als hätte ich meinen Kopf selbst in das eiskalte Wasser getaucht, realisierte ich, dass das alles erst vor wenigen Stunden geschehen war.
Einige Situationen der letzten Tage hatten sich für immer in mein Gedächtnis eingebrannt und während Peter durch den Flur huschte, um den Schlüssel zu suchen, schossen mir noch einmal alle Bilder durch den Kopf. Bei einem blieb ich hängen – es war von heute: Christine schob sich mit rotem Kopf an mir vorbei. Sofort schäumten die Gefühle wieder hoch und die Schmetterlinge kitzelten meinen Bauch wie nie zu vor...
Zum ersten Mal stellte ich mir die Frage, warum in dieser Woche nicht mehr zwischen uns vorgefallen war. Lag es an der Anwesenheit ihrer Mutter? Lag es sogar an Sven? Nein. Das war es nicht. Es war das bedrückende Gefühl, dass alle bloß darauf warteten, dass wir uns um den Hals fallen würden, wenn wir in einem Raum zusammen standen. Die einzige Situation, in der wir beide allein gewesen waren, war die heute Nachmittag. Und um da irgendwas unternehmen zu können, war die Situation viel zu überraschend gekommen – und wieder gegangen. Für mich und auch für sie.

Mittlerweile war ich mir so sicher, dass auch sie ein Auge auf mich geworfen hatte. Schon bei der Abfahrt, als wir uns alle auf dem Parkplatz vor der Turnhalle versammelt hatten, waren mir ihre zunächst flüchtenden Blicke aufgefallen – später ihr Lächeln und noch ein wenig später ihr Zuzwinkern und meine grinsenden Antworten.
Das hatte sich durch die ganze Woche gezogen. Immer war jemand bei uns gewesen. Auf unserem Zimmer, Sven und Peter, und auf ihrem Zimmer, ihre Mutter. Keine guten Orte, um mit ersten richtigen Annäherungsversuchen zu beginnen.
Der richtige Augenblick würde kommen – da war ich mir sicher. Aber lange würde ich es nicht mehr bis dahin aushalten können. Vielleicht sollte ich einfach mal Nägel mit Köpfen machen? So ein Typ war ich zwar eigentlich nicht, doch dieses Mädchen verleitete mich dazu...und da begriff ich etwas ganz grundlegendes: Egal welchen Moment ich mir, sie sich, oder sogar wir uns aussuchen würden – es wäre immer der richtige Augenblick. Ich konnte eigentlich gar nichts falsch machen.

Die Tür riss mich aus meinen Gedanken: Sie öffnete sich und Peter starrte mich fassungslos, und natürlich mit Jeans und T-Shirt bekleidet, an. Ich brauchte einige Sekunden, um mich auf die neue Situation einzustellen. Schließlich versuchte ich es mit einem Lächeln und hielt meinen Koffer verheißungsvoll vor meine Brust.
Sein unglaubwürdiger Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Er kratzte sich am Hinterkopf und betrachtete noch einmal mein Gesicht, als wolle er prüfen, dass es auch wirklich ich sei. Seine Lippen formten sich zu einem unsicheren Lächeln.
„Komm erst mal rein“, meinte er bloß.
Ich lies mir das natürlich nicht zweimal sagen. Er verriegelte mit nachdenklichem Gesichtsausdruck hinter mir die Tür, während ich sofort nach oben lief und mich völlig erschöpft auf mein Bett warf.

„Wie darf ich das jetzt verstehen?“, flüsterte Peter und schloss vorsichtig die Zimmertür, um Sven nicht auch noch zu wecken. Dieser wälzte sich im gleichen Augenblick mit einem kleinen Seufzer in einem Durcheinander aus Decke und Kissen um.
„Lass mich einfach schlafen. Ich erklär es dir morgen“, antwortete ich.
„Klar.“
Meine Augen waren bereits zugefallen. Erst jetzt merkte ich, wie erschöpft ich eigentlich war. Mein Körper war völlig entkräftet und benötigte dringend eine Auszeit. Den Griff des Koffers immer noch fest umklammert, schlief ich schließlich ein.
Doch ich erwachte schon viel früher, als ich es erhofft hatte. In einer äußerst schmerzhaften Position mit dem Rücken auf dem Griff des Koffers liegend, fand ich mich nach nur einer halben Stunde Schlaf, wie mir meine Armbanduhr verriet, wieder. Ich beschloss wenigstens den Koffer vom Bett zu nehmen, der im Bett wirklich kein guter Partner zu sein schien. Ja, das fühlte sich schon besser an. Doch der Gewohnheit wegen und der viel zu hohen Temperatur unter der Decke entledigte ich mich auch noch dem Großteil meiner Kleidung. Doch um jetzt auch noch den Schlafanzug im Koffer zu suchen, war ich viel zu müde – bevor ich es mir anders überlegte, war ich auch schon wieder eingeschlafen.

Bei diesem zweiten Versuch träumte ich sogar etwas: Ich kletterte auf einen Berg. Es war Nacht und ich konnte meinen Weg durch die schemenhaften Felsen nur sehr langsam bahnen, obwohl sich der Vollmond in dem See unter mir spiegelte. Es wurde immer steiler, höher und felsiger. Schließlich gab es keine Grasbüschel mehr, an denen ich mich festhalten konnte - es war ein Alptraum. Ständig hatte ich das Gefühl gleich abzurutschen und in die Tiefe dieser unbarmherzigen Wand zu stürzen.
Der Fels wich schließlich dem Schnee. Der Wind frischte auf und die Temperatur fiel rasend schnell ab – ich nährte mich dem Gipfel. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich immer noch nur mit Jeans und T-Shirt bekleidet war. Viel zu kalt für einen nächtlichen Gipfelsturm.
Der Traum verlor sukzessive den Bezug zur Realität, denn einen nächtlichen Gipfelsturm, würde es wohl nie geben – oh, doch – über des schmale mit vereistem Schnee überzogene Gipfelgrat fegte ein erbarmungsloser Wind.
Plötzlich spürte ich wieder die brennenden Tränen auf meiner Wange. Sie stammen von meiner Mutter, die mich im Tal verlassen hatte und da ich keinen anderen Ausweg fand, wollte ich mir hier oben das Leben nehmen, indem ich mich vom Gipfel stürzte.
Die Gefühle brodelten ganz plötzlich wieder hoch und sofort setzte ich zum Sprung an – zum Sprung aus dieser eisigen, abweisenden Welt, die mich nur noch verspottet.

Doch da packt mich eine wärmende Hand. Ich fahre herum. Dort steht ein freundlich lächelnder Mann mit ähnlich kurzem schwarzen Haar, wie ich es habe – er hat genau die gleichen braunen Augen und das gleiche sanfte Gesicht. Um ihn herum ist es ganz hell und warm. Bin das ich, wie ich in dreißig Jahren aussehen könnte?
Er lächelte mir immer noch auf die gleiche Art und Weise zu, nur dass er jetzt die linke Hand von meiner Schulter nimmt und die rechte ausstreckt. Ich schaue verdutzt auf die blassen Finger – was will er mir bloß sagen?
Ich blicke wieder auf und sehe diesmal den Mann vor mir, der mich heute nach Hause gefahren hat. Ist es wirklich er?
Mit einem ungeduldigen Nicken fordert er mich auf, endlich seine Hand zu nehmen. Ich verstehe den Grund dafür immer noch nicht so ganz. Warum ist es ihm so wichtig, seine Hand zu schütteln? Ich zögere noch einen kurzen Augenblick, dann schlage ich, ohne mir große Gedanken gemacht zu haben, ein.
Wieder senke ich meinen Blick – diesmal auf die zwei Hände, die sich umschlingen – seine und meine. Als ich wieder aufschaue steht wieder der erste Mann vor mir, doch diesmal erkenne ich ihn – es ist mein Vater!
Bild
Bild
Bild

Benutzeravatar
Hagen
Beiträge: 114
Registriert: 19.3.2008 - 14:30

Beitrag: # 6748182Beitrag Hagen
11.12.2008 - 15:05

wann gehts denn mal weiter?

Andy92
Beiträge: 468
Registriert: 29.6.2008 - 19:53
Kontaktdaten:

Beitrag: # 6748252Beitrag Andy92
11.12.2008 - 20:16

Weiß ich noch net so ganz. Ersten Teil des nächsten Kapitels schon geschrieben, aber noch nicht zufrieden. Das geht halt nicht mal eben so in ner halben Stunde. Zum Teil sitze ich nämlich schon 1-3 Stunden an einem Kapitel - vor allem bei eigenen Rennen (also wenn ich eins erfinden muss^^).
Bild
Bild
Bild

Andy92
Beiträge: 468
Registriert: 29.6.2008 - 19:53
Kontaktdaten:

Beitrag: # 6748254Beitrag Andy92
11.12.2008 - 20:55

2.Kapitel - Isabel von Klavsen

Ich schlug die Augen auf. Durch den Vorhang an der Balkonfront fiel bereits das Tageslicht. Jemand öffnete die Zimmertür. Ich war eigentlich noch immer viel zu müde um schon aufzustehen, doch bei mir war das morgens so gut wie immer so, deshalb war mir es eigentlich egal, wie früh es erst war.
„Darf ich?“, fragte eine zarte und zugleich raue Stimme, die mir wohl bekannt war. Im ersten Moment freute ich mich sie zu hören. Es tat richtig gut, endlich wieder in ihrer Nähe zu sein, dabei war ich gerade mal einen Abend fort gewesen - ein Abend, an dem sich sehr viel in meinem Leben verändert und offenbart hatte.
„Klar“, entgegnete ich mit überraschend klarer Stimme. Der Schlaf schien mir richtig gut getan zu haben. Oder war es ihre plötzliche Anwesenheit, die meinem Bewusstsein einen kleinen Schubs verpasste?
Ich richtete mich auf und die Decke rutschte von meinem nackten Oberkörper. Christine betrat wie erwartet das Zimmer und hielt sofort inne, als sie mich entdeckte. Mit dem Anblick hatte sie wohl nicht gerechnet. Ich musste lächeln, als ich ihren äußerst seltsamen Gesichtsausdruck bemerkte. Wir sahen uns einen Moment lang an, dann begann auch sie zu lächeln.
„Eine angenehme Überraschung“, lachte sie.
„Was denn?“, antwortete ich kühl und warf einen kurzen Blick auf mein mittlerweile für meinen Geschmack perfekt ausgebildetes Sixpack – nicht zu viel und doch deutlich zu sehen.
Sie fing an zu kichern, was meinem Herzen einen kleinen Stoß verpasste. Ohne es wirklich bewusst zu wollen, lachte ich mit.
„Nicht das – ich wundere mich bloß, dass du hier bist“, sagte sie schließlich.
Ich war ziemlich gut aufgelegt und antwortete: „Enttäuscht?“
Sie öffnete gerade den Mund, um genau so zynisch zurückzuschlagen, als sich plötzlich eine dritte Person im Raum mit einem aufgesetzten Räuspern bemerkbar machte.
„Ich wollte euch nur daran erinnern, dass ihr nicht allein seit.“
Sven grinste frech zu mir herüber. Ehrlichgesagt war ich ziemlich erschrocken, dass überhaupt jemand anwesend war – so fokussiert war ich auf seine kleine Schwester gewesen.
„Ihr sollt zum Frühstück kommen“, sagte Christine mit fester Stimme und vermiet es dabei ihrem Bruder auch nur einen Funken Beachtung zu schenken. Trotz ihrer Wut wirbelte sie ihr langes seidiges Haar elegant um ihren Kopf und verschwand blitzschnell auf den Flur hinaus. Die Tür fiel krachend ins Schloss. Jetzt gab auch Peter im hinteren Teil des Zimmers erste Lebenszeichen von sich. Meine Augen klebten noch für einige Sekunden hoffnungsvoll am hellen Holz der Zimmertür. Doch sie sollte wohl nicht mehr wiederkommen. Ein wenig schockiert stellte ich fest, dass ich bereits jetzt Sehnsucht empfand.
Sven lachte. „Oh, da ist aber jemand sauer, was?“
Ich schaute kopfschüttelnd zu ihm hinüber. Er lag ganz lässig auf dem Ellbogen gestützt auf seiner Matratze und grinste triumphierend zu mir herüber.
„So, und jetzt sagst du mir, warum du hier bist“, fügte er hinzu und richtete sich in einer für die Verhältnisse passende geschäftsmäßige Haltung.
Während Sven mich mit einem erwartungsvollem Blick taxierte, eierte Peter polternd und stolpernd auf den Balkon hinaus, um sich wie jeden Morgen zu„erfrischen“. Ich musste mir schnell eine Lüge einfallen lassen, denn darauf war ich nicht vorbereitet gewesen. Eigentlich ziemlich dämlich, denn damit hätte ich einfach rechnen müssen, wenn ich so vollkommen unerwartet wieder auftauchte. Peter stolperte wieder herein – was für ein Morgenmuffel er doch war.
„Ja, das wolltest du mir ja auch noch sagen“, rief er völlig verwirrt und mit verschlafenem Gesichtsausdruck.
Ich dachte noch einen Augenblick nach. Schließlich schien ich etwas annähernd brauchbares gefunden zu haben.
„Ähm...ja...wir haben auf der Fahrt noch ein wenig diskutiert und schließlich hat sie dann nachgegeben. Oder viel mehr haben wir uns gestritten. Und dann meinte sie, dass ich zurücktrampen solle – die Schweizer seien ja sehr freundlich.“
Sofort schnellten Svens Augenbrauen ungläubig nach oben. Er war völlig baff. Ja, er war fast schockiert, von dem, was ich gerade gesagt hatte. Mein Herz hämmerte gegen meine Brust – würde ihnen das ausreichen?
Peter nickte mir bloß zu, stakste auf den Flur hinaus und verschwand im Bad. Sven dagegen überlegte einen kurzen Augenblick, indem er mit erstauntem Blick meinen Koffer anstarrte. Er schien etwas sagen zu wollen, doch immer wenn er den Mund aufmachte schüttelte er den Kopf und warf irgendeinen Gedanken wieder bei Seite. Schließlich schien er eine passende Antwort gefunden zu haben.
„Ja...Gut. Ist die Sache von deiner Mutter ihren minderjährigen Sohn Nachts per Anhalter nach Hause zu schicken – und dann auch noch im Ausland...Na ja, geht mich ja nix an. Auf alle Fälle freu ich mich, dass wir das Rennen doch noch gemeinsam fahren können.“ Hastig fingerte er nach seiner Armbanduhr auf seinem Nachttischchen und noch einmal schossen seine Augenbrauen nach oben – diesmal vor Panik. „Und jetzt sollten wir uns beeilen, wenn überhaupt jemand das Rennen fahren soll – noch anderthalb Stunden bis zum Start – auf geht’s!“
Bild
Bild
Bild

Andy92
Beiträge: 468
Registriert: 29.6.2008 - 19:53
Kontaktdaten:

Beitrag: # 6748761Beitrag Andy92
15.12.2008 - 21:57

Erinnerungen an Immenstadt kamen hoch als Hans, Sven und ich im Zeichen der aufstrebenden Sonne zu dritt in Richtung Dallenwil unterwegs waren. Die anderen würden bis nach Alpnach fahren, um den Ächerlipass von dort auf der anderen Seite zu erklimmen – die weitaus hässlichere – und auf uns im Zielbereich zu warten.
Ich war richtig heiß auf das Rennen. In den letzten Stunden hatte sich unglaublich viel Wut in mir angestaut, gepaart mit dem nach wie vor vorhandenen Streben nach Perfektion, hatte ich das Gefühl als könne mich an diesem wunderschönen Morgen nichts mehr aufhalten. Es war der Start in einen neuen grandiosen Tag. Ein Start in ein neues glorreiches Leben.
Wir rasten über die Autobahn oberhalb des Sees. Auf dem Wasser und in den Seitentälern hatte sich der Nebel an den Berghängen festgefressen und kämpfte gegen die unbarmherzige Frühlingssonne, die auf der Autobahnbrücke den dichten Nebel bereits in unzählige Schwaden zerfetzt hatte. Wir tauchten gerade in die nächste ein – rasten wieder hinaus – und wieder in die nächste hinein. Das Geschwindigkeitsgefühl war berauschend – die Straße fast komplett leer. Wir konnten dieses herrliche Gefühl so richtig auskosten. Eine willkommene Abwechselung nach der letzten chaotischen dreiviertel Stunde.
Auf ein zwar stärkendes aber hektisches Frühstück, folgte ein noch hastigeres Zusammensuchen der Rennutensilien – Trikot, Hose, Handschuhe, Sonnenbrille, Flaschen abfüllen, Räder überprüfen und am Wagen befestigen. Abschließend hat es von allen anderen noch ein aufbauendes „Viel Glück“ gegeben.
Noch aufbauender war Christines flüchtiger Kuss auf die Wange gewesen, der von ihr wohl absichtlich so platziert wurde, dass ihn niemand sah. Schon jetzt verspürte ich das dringende Bedürfnis sie wieder zu sehen – sollte das meine Beine noch schneller machen, als es Wut und Enttäuschung eh schon taten?

Wir erreichten Dallenwil und bogen auf die kleine schmale Passstraße ab. Hier auf dem letzten Flachstück befand sich der Startbereich. Die Veranstaltung war wirklich um einiges größer. Selbst hier standen schon Zuschauer und als ich dem Straßenverlauf am Berghang folgte, konnte ich noch einige mehr erkennen. Weit reichte mein Blick jedoch nicht, denn hier unten war die Nebeldecke noch zu dick, um überhaupt einen Sonnenstrahl durchzulassen. Als wir uns umgezogen hatten und uns doch tatsächlich Rollen zugeteilt wurden, spürte ich, wie kalt es eigentlich ohne Sonne war. Es war jetzt viertel vor zehn. Was sollte man Anfang April anderes erwarten?
Ich und Sven strampelten uns etwas abseits der anderen Teilnehmer warm. Eigentlich sah ich nur Kraftpakete und einige typische Bergflöhe. Gegen uns wirkten die anderen Fahrer so unglaublich professionell, dass es fast schon beängstigend war. Ja, ich hatte Angst, unter zugehen.
Sven beäugte die Konkurrenz genauso argwöhnisch wie ich. Wir konnten beide kein einziges Ebenbild unserer Staturen ausmachen. Sobald wir jemanden entdeckten, der nicht ganz so groß war wie ich, also eher so wie Sven, war er viel kräftiger als mein Vereinskamerad – und wenn wir so einen doch recht großen Fahrer wie mich entdeckten, dann war er bei weitem nicht so dürr und schmächtig wie ich, sondern wirkte eher schwerfällig. Bei vielen schüttelte Sven sogar den Kopf, warum sie hier überhaupt an den Start gingen.
Einer dieser Sorte stach ganz besonders ins Auge. Die Sponsoraufschrift auf seinem Trikot verriet mir, dass er wohl aus Italien stammen müsste. Doch was mich wirklich schockierte war sein bestechender Bizeps und seine Waden, die mindestens doppelt so dick waren wie meine. Eine goldene Kette baumelte an seinem Hals und wippte im gleichen irre schnellen Rhythmus hin und her, wie seine Beine, die neben den überdimensionalen Waden, auch noch mit schier platzenden Oberschenkeln bepackt waren.
„Der wird zum Sprinter ausgebildet – was will der hier?“, meinte Sven völlig verständnislos.
„Vielleicht ist er der kommende Topmann und soll lernen auch über die Berge zu kommen“, fügte ich hinzu.
„Hm, kann schon sein. Trotzdem tut er mir irgendwie Leid – der letzte Platz ist vorprogrammiert.“
Hatte ich nicht gerade „kommender Topmann“ gesagt – und Sven hatte nicht darauf reagiert?! Wie hochkarätig war dieses Rennen bitteschön besetzt? Wo war ich hier bloß gelandet? Gut, Sven war beim BDR mittlerweile schon relativ hoch angesehen und rangierte zumindest auf nationaler Ebene wohl öfters in solchen Kreisen – zumindest nach dem, was ich in den letzten Monaten so von und über ihn gehört hatte – aber es schien mir dennoch etwas zu hochgegriffen, hier von „kommenden Topleuten“ zu sprechen.
Ich stellte aber fest, das mir das einen Motivationsschub gab. Ich spürte, wie mir der Gedanke, die Großen ärgern zu können, mehr und mehr zu gefallen schien – und als völliger Nobody war das natürlich noch viel dreister. Der Druck schwand von mir. Ich würde völlig befreit auffahren können und letzter würde ich wohl schon gar nicht werden. Möglicherweise könnte ich sogar wieder in die Top 10 oder sogar wieder in die Top 5 fahren?
Nein, ich durfte meine Erwartungen und Ziele ja nicht zu hoch setzen. Sonst gäbe es womöglich ein böses und enttäuschendes Erwachen. Einfach das beste geben und gut ist.
Hans war mittlerweile aufgebrochen, um den anderen nach Alpnach hinterher zu fahren. Auch er wollte das Finale des Rennens im Zielbereich verfolgen, denn die letzten ein, zwei Kilometer konnte man von der Tribüne aus herrlich überblicken – zumindest soweit ich mich erinnerte.
Vor allem er und alle anderen der Gruppe hatten mich heute Morgen richtig überrascht. Nachdem ich, gleich beim ersten, der mich über mein plötzliches Auftauchen ausgefragt hatte, wieder meine Standardlüge aufgetischt hatte, hielten die anderen ganz schnell den Mund und fragten lieber nicht nach. Seltsam. Sie schöpften keinerlei Argwohn, oder wollten es nicht öffentlich kund tun...

Mit zehn Minuten Verspätung drückte ein älterer Herr im schwarzem Anzug auf den Abzug der Pistole und gab das Rennen damit zumindest symbolisch frei. Es fuhr doch glatt ein Jury-Auto vor und hinter dem Feld. Auf den unzähligen Motorrädern saßen Scouts von mir zum Teil völlig unbekannten und andererseits sehr gut bekannten Teams – beim Klang so einiger Namen lief es mir vor Aufregung eiskalt den Rücken hinunter – und neben der Strecke säumten bereits einige Zuschauer den Straßenrand.
Gerade mal hundert Meter nach dem Start winkte der Rennleiter mit einer roten Fahne und gab das Rennen nun offiziell frei. Unsre Taktik war klar definiert und zu meiner völligen Überraschung attackierte keiner von Beginn weg – anscheinend hatten die meisten Fahrer doch gehörigen Respekt von dem, was auf den folgenden zehn Kilometern auf sie wartete. Ich rief mir die Zahl noch einmal in Erinnerung: 9,7 %!
Die erste Kehrenkombination unterhalb des Waldes und der Nebelwand türmte sich vor uns auf. Und plötzlich begann die Steigung. Das Feld bestand gerade mal aus zehn Teams oder Vereinen und insgesamt fünfzig Fahrern – also etwas mehr als in Immenstadt.
Ich hatte mich schon in die erste Reihe vorgemogelt – Sven lauerte ein paar Plätze weiter hinten – er vertraute mir. Mir und meinen Fähigkeiten, auf die ich ebenfalls vertrauen musste – und konnte.
Noch war das Tempo nicht hoch, es war eher verschleppend. Und bevor ich den Schwung aus dem Flachstück zu verlieren drohte, trat ich wie abgesprochen an, während alle anderen neben mir einfach nur einen Rhythmus zu finden versuchten, oder eines der italienischen Teams einen Zug fertig stellen konnte, was mir und Sven wohl nicht so gut getan hätte.
Sofort begegnete mir eine Kopie aus Immenstadt: Ein älterer Hobbyradler aus der Schweiz am Streckenrand stehend – mit einem schreienden violetten Trikot bekleidet – brüllte sofort los: „Hopp! Hopp! Hopp!“, als ich meinen Angriff direkt vor seiner Nase startete.
Mein Rad lies sich trotz der bereits extremen Steigung von wohl sieben oder acht Prozent auf dem durch einen nun einsetzenden Nieselregen nassen Asphalt relativ leicht beschleunigen. Meine Beine fühlten sich super an – ja, fast perfekt – sofort spürte ich, dass ich noch eins drauf setzen könnte und warf einen Blick auf meinen Tacho, nachdem ich die erste Kehre genommen hatte: 21 km/h! Wer hätte damit gerechnet?! Ich auf jeden Fall nicht.
Der Gang war genau richtig – viel schneller konnte ich zwar nicht mehr kurbeln, dafür war er aber nicht zu groß, sodass ich womöglich noch Gefahr gelaufen wäre, einen Stehversuch starten zu müssen. Der Wiegetritt schien mir heute richtig gut zu gefallen und so veränderte ich meinen Stil vorerst nicht. Warum auch? Wenn etwas funktioniert, dann muss man es auch nicht ändern.
Der Angriff schien doch ziemlich gesessen zu haben. Ich las es zunächst, ohne auch nur einen Blick zurück zu werfen, nur an den Gesichtern und Reaktionen der Zuschauer ab. Sie jubelten, zum Teil erstaunt, feuerten mich an, oder meine direkten Verfolger. Irgendein Schweizer schien sich wohl an mir festgebissen zu haben, denn vor allem die überwiegenden einheimischen Zuschauer zollten dem Fahrer hinter mir, mehr Anfeuerung als mir.
Desto näher ich den nebelverhangenen Baumwipfeln des Waldes über mir kam, umso stärker wurde der Nieselregen. Ich nahm die zweite Kehre und warf zum ersten Mal einen Blick zurück: Das Fahrerfeld war arg in die Länge gezogen. Das umschreibt die Situation wohl ziemlich gut – Sven konnte ich leider nicht mehr erkennen. Also: Taktik voll durchziehen – ohne Rücksicht auf Verluste.
Wie ich es erwartet hatte, fuhr – noch mit rund zwei Metern Abstand – ein kleinwüchsiger Bergfloh mit klobig wirkendem Rennrad hinter mir. Wie an der Schnur aufgereiht folgten die nächsten. Nach dem sechsten Fahrer entstand ein größeres Loch – einer konnte das Tempo seines Vordermannes nicht mehr halten und lies kopfschüttelnd abreißen – das gab noch einmal einen Ansporn, die Lücke schnellstmöglich zu vergrößern.
Mittlerweile fuhren wir direkt unterhalb des Waldes. Als ich schließlich die knospentreibenden Laubbäume erreichte, wurde die Straße richtig abenteuerlich. In den Fels gehauen schützte lediglich eine nicht gerade vertrauenserweckende bereits verbogene Leitplanke den Autofahrer vor dem Absturz. Ich musste mir keine Sorgen machen und nahm in der nächsten Kehre noch einmal Schwung – dann setzte ich mich und suchte einen guten Rhythmus. Ein zweiter Blick verriet mir, dass noch einmal ein Fahrer abreißen lassen musste – wir waren nur noch zu fünft: Zwei dieses „Schweizer Bergflöhe“ – Teams und zwei aus Italien, waren noch dabei. Sie waren alle kleiner als ich – mehr oder weniger. Die Italiener waren zwar etwas größer als die beiden Schweizer, dafür aber viel schmächtiger, als es zum Beispiel Sven war. Ihn sah ich jetzt an dritter Position einer Verfolgergruppe um die Ecke biegen. Geschätzter Rückstand – fünfzehn Sekunden – aber dem kämpfenden Fahrer an der Spitze zu urteilen – waren wir fünf auf und davon.
Die Gruppe lief jetzt endgültig zusammen und auch der letzte setzte sich in den Sattel – leider sahen sie alle noch recht entspannt aus, aber ein großartiger und nicht zu erwartender Erfolg war es jetzt schon – ohne Zweifel.
Als ich meinen Kopf wieder nach vorne richtete, erhaschte ich noch kurz im Augenwinkel, wie der zweite Schweizer an dritter Position wieder aus dem Sattel ging – eigentlich machte er es ganz unscheinbar. Doch mein Umdrehen schien ihm wie gelegen zu kommen, denn sofort sauste ein weißes Trikot an mir vorbei, wie es die beiden trugen!
Ich reagierte blitzschnell – ja, fast schon reflexartig und hatte sofort das Hinterrad erwischt. Die etwas weniger gewordenen Zuschauer am Straßenrand tobten – zumindest für ihre Verhältnisse. Der Angriff war zwar wunderbar platziert und perfekt vorgetragen, aber mir machte es nichts aus. Ich fühlte mich wirklich unglaublich gut – noch etwas besser als am Donnerstag hinauf zur Seilbahnstation bei Gersau, wo der Anstieg zwar nicht so lang, dafür aber genauso steil wie hier gewesen war. Nicht nur das Training der letzten Woche, auch die von gestern Abend angestaute Wut trug zur Verbesserung meiner Kletterqualitäten maßgeblich bei. Mir war gerade alles egal – auch das meine Beine jetzt doch schon anfingen etwas zu schmerzen, doch es war flacher geworden.
Unerwartet früh ging der Angreifer wieder in den Sattel und blickte sofort zurück – aber an mir vorbei – ich setzte ohne groß darüber nach zu denken – einfach intuitiv und aus dem Bauch heraus noch eins oben drauf und attackierte den Angreifer. Ich fühlte mich wieder so sicher, wie bei meinem ersten Angriff und benötigte vorerst keinen Blick zurück. Erst mal ein paar Körner verschießen, Stress abbauen und an den Kräften der Gegner zehren – sie mürbe fahren.
Ich nahm die nächste Kehre – immer noch im Wald – und warf jetzt einen flüchtigen Blick zurück – nur als Zwischeninformation gedacht und als womöglich entscheidende Situation endete dieser Vorgang: Einzig und alleine der gerade noch attackierende Schweizer und einer der Italiener hatten mein Hinterrad ansatzweise halten können – alle waren wohl zu überrascht gewesen oder sie konnten tatsächlich nicht mehr folgen. Ich hielt die erste Variante für wahrscheinlicher und wusste was zu tun war. Durchziehen! Diese einmalige Chance nutzen! Vielleicht die entscheidenden Meter zwischen sich und die Verfolger legen! Ich durfte sie nicht mehr rankommen lassen. Ich musste sie ein für alle Mal distanzieren!
Gesagt – getan. Ich legte alles, was ich hatte auf eine Wagschale und fuhr ans Limit. Meine Pulsuhr verriet mir, dass ich konstant an meiner Laktatschwelle fuhr – und das spürte ich auch. Jetzt brannten die Oberschenkel und Brustkorb schon deutlicher als zuvor – aber es war noch nicht unerträglich. In der Lunge spürte ich auch noch kein säuerliches Gefühl, was bei mir meistens eine katastrophale Ladehemmung zur Folge hat – so eine Pulsuhr ist echt praktisch.
Es wurde wieder steiler, doch ich trat den heute perfekten Gang im Wiegetritt durch. Zum ersten Mal erfuhr ich am eigenem Leibe, wie sich das berühmte „Spinning“ anfühlt. Armstrong und Contador waren gerade ein Witz gegen meine Kadenz – glaubte ich zumindest. Trotzdem gab mir dieser Gedanke einen unglaublichen Schub und führte mich um die nächste Kehre und über die nun folgenden 16 % Steigung!
Ich nahm die Rampe kaum bewusst war – nur mein Körper spürte die Anstrengung. Jetzt musste ich einen guten Rhythmus finden, um zumindest ein gutes zügiges Tempo zu wahren. Der Wiegetritt schien heute die bessere Art der Fortbewegung zu sein und so blieb ich dabei. Meine Kadenz war tatsächlich extrem hoch – so hoch, wie noch nie zuvor – aber ob sie tatsächlich an die der großen Kletterstars herankam bezweifelte ich.
Ich sauste um die nächste Kehre. Ein letztes Mal blickte ich zurück – ich war allein. Sofort lähmten ein paar Endorphine meine Beine, doch schnell hatte ich mich wieder gefangen – ich durfte mir diesen Vorsprung jetzt auf keinen Fall mehr nehmen lassen!
In diesem Augenblick verlies die Straße den Wald und die Steigung nahm spürbar ab – lag aber wohl immer noch bei guten acht Prozent. Auf den grünen taufrischen Wiesen standen ein paar alte Scheunen und ein Hof. Die Zuschauerzahl nahm wieder etwas zu, doch die anfeuernden Rufe und den Applaus nahm ich kaum noch wahr. Jetzt nervte mich ein Motorrad rund zehn Meter vor und eines hinter mir. Noch weiter vorne tuckerte das Juryauto entlang – die Geschwindigkeit war wirklich nicht mehr hoch. 18 km/h konnte ich jetzt noch halten – Tendenz leider sinkend. Dennoch war ich mir ziemlich sicher, dass das reichen würde.
Plötzlich verschwand der Nebel und die Wiesen begannen im gelben Sonnenlicht zu glänzen. Ich spürte die Wärme am Rücken und an den Beinen. Der Himmel über mir strahlte in einem tiefen Blau und als ich einen Blick zurück warf, galt dieser nicht meinen Gegnern, sondern der atemberaubenden Kulisse, die sich mir jetzt bot. Das war Belohnung genug, das als erster der fünfzig Fahrer sehen zu dürfen! Im Tal hingen die Wolken und aus diesem weißen Meer ragten die umliegenden Berggipfel auf. Es war atemberaubend!
Gut, dafür hatte ich nicht allzu viel Zeit. Dennoch konnte ich nur schweren Herzens meinen Blick wieder nach vorne richten – oben würde ich noch genug Zeit haben, die Landschaft zu genießen, vielleicht mit Christine zusammen, vielleicht als Sieger.

Doch die hohen Berge ringsum weckten etwas anderes bei mir. Etwas ganz anderes, um das sich bis vor wenigen Sekunden auch noch der Nebel gelegt hatte und mir jeglichen Zugang verwehrt hatte. Es war eine Erinnerung an die vergangene Nacht. An einen freundlichen Mann, der mich nach Hause gefahren hatte und, was noch viel wichtiger war, an einen Traum. Zunächst war es ein Alptraum gewesen, doch dann hatte es sich zum genauen Gegenteil entwickelt. Ich legte eigentlich gar nichts auf angebliche Visionen und deren Deutungen, doch ein undefinierbares Gefühl sagte mir, dass etwas nicht stimmen konnte. Die Bilder vom Stilfser Joch jagten wir wieder durch den Kopf. Die unglaubliche Fahrt mit Jörg, das schreckliche Bild auf der Passhöhe, die endlose Fahrt ins Tal und alles endete mit der Nachricht – mit der Nachricht – die vom Tod meines Vaters. Dann musste ich wieder an meine Mutter denken, was sie alles in den letzten Monaten gesagt und getan hatte, wie sie auf Papas Tod reagiert hatte und was sie mir gestern Abend offenbart hatte – alles zusammen ergab ein Bild. Nein, es war eher eine Vermutung, eine ziemlich schwachsinnige Vermutung, doch gepaart mit Hoffnung und Zuversicht entwickelte sie sich zu einem für mich endgültigen Entschluss. Er kam nicht aus großer Überlegung heraus. Es war ein mulmiges Gefühl in der Magengegend, das mich aufhorchen lies. Ein Gefühl, dem man Beachtung schenken musste. Das war keine Vermutung, nein, mein Unterbewusstsein schien irgendeine Unstimmigkeit zu spüren und versuchte gerade mit dem Bewusstsein Kontakt aufzunehmen. Irgendetwas war in diesem halben Jahr nicht richtig gelaufen und ich würde früher oder später dahinterkommen was es war.
Und während ich in ein kleines Waldstück einbog, wuchs in mir die Hoffnung auf ein Wiedersehen. Auf ein Wiedersehen mit einem alten Bekannten – einem sehr guten Freund. Ich war mir so sicher. Mein Vater war am Leben – ER war nicht am Stilfser Joch gestorben!
Zuletzt geändert von Andy92 am 16.12.2008 - 17:44, insgesamt 1-mal geändert.
Bild
Bild
Bild

crojkr
Beiträge: 339
Registriert: 14.1.2007 - 16:17
Kontaktdaten:

Beitrag: # 6748769Beitrag crojkr
15.12.2008 - 22:41

Wow ich bin sprachlos 8O :o

Benutzeravatar
Grabba
Beiträge: 2654
Registriert: 3.7.2006 - 22:18
Kontaktdaten:

Beitrag: # 6748776Beitrag Grabba
16.12.2008 - 0:23

Groß. Das ist der in meinen Augen bisher beste Beitrag des AARs, da er all seine Stärken vereint (schöne Sprache, wunderbare Rennbeschreibung, Spannung bzgl. Inhalt, visuell-landschaftliche Beschreibungen) und die Schwächen (langweilige RSM-Sachen, zu ausufernde Texte, sprachliche Ungereimtheiten) außen vor lässt.
Perfekt noch lange nicht, das ist klar, aber bereits richtig, richtig gut! Daumen hoch, und bitte ganz genau so weitermachen!

Benutzeravatar
Mor!tz
Beiträge: 359
Registriert: 17.7.2008 - 14:45
Kontaktdaten:

Beitrag: # 6748792Beitrag Mor!tz
16.12.2008 - 13:46

Wow! Du weißt echt, wie man Spannung aufbaut. Ein ganz großes Lob.

Andy92
Beiträge: 468
Registriert: 29.6.2008 - 19:53
Kontaktdaten:

Beitrag: # 6748834Beitrag Andy92
16.12.2008 - 17:34

Danke, Leute. Ich war mit dem Teil nämlich nicht immer so ganz zufrieden. Aber zum ersten Mal hab ich beim ersten Durchlesen gemerkt, dass keine großen Lücken entstanden sind, und dass es sich relativ flüssig liest - ich schein mich also Schreibtechnisch zu entwickeln. :D
Bild
Bild
Bild

Andy92
Beiträge: 468
Registriert: 29.6.2008 - 19:53
Kontaktdaten:

Beitrag: # 6749137Beitrag Andy92
18.12.2008 - 18:58

Ein kleines Schild am Straßenrand riss mich wieder aus meinen Gedanken – noch 3 Kilometer! Ich warf unwillkürlich einen Blick zurück und erschrak. Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet – ungefähr zehn Meter hinter mir kämpfte sich einer der Schweizer an mich heran. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, pfiff er schon aus dem letzten Loch. Trotzdem machte mir seine plötzliche Anwesenheit Angst. Das Vertrauen in meine eigenen Fähigkeiten schwand dahin. Wenigstens schien der Schweizer alleine zu sein – als ich mich nach dem Waldstück ein zweites Mal umblickte, war hinter ihm weit und breit niemand zu sehen. Allerdings betrug der Abstand jetzt nur noch fünf Meter und mit einem letzten Zwischensprint im Wiegetritt erreichte er mein Hinterrad.
Was sollte ich jetzt tun? Warum war wieder jemand zu mir nach vorne gekommen? Ich spürte jetzt deutlich die Ermüdung in den Beinen und ein Stechen in der Brust. Ich fuhr im anaeroben Bereich. Auch die Pulsuhr zeigte jetzt keinen guten Wert mehr an – den Puls würde ich jetzt auch kaum noch runterschrauben können. Das wäre sicherlich ein Himmelfahrtskommando. Jetzt hieß es Mann gegen Mann. Einzig und alleine der Sieg zählte jetzt und nichts anderes – ein Kampf um Leben und Tod.
Das rief mir wieder die Erinnerung an meinen Vater ins Gedächtnis. Er war am Leben – ich war mir absolut sicher. Gut, es sprach zwar einiges dagegen und einen vernünftigen Grund, warum man seinen Tod vertuschen sollte, wollte mir auch nicht einfallen. Dennoch, irgendetwas stimmte nicht – ich spürte das ganz genau. Mein Vater lebt – und ich werde für ihn das Rennen nach Hause fahren. Ja, heute ist der Tag, an dem ich die einmalige Chance habe alles aufzuzeigen, was ich drauf habe. Und mein Vater würde mir dabei helfen. Allein der Gedanke an ihn lies den Schmerz für einige Augenblicke verpuffen.

Provozierend und im Gefühl des sicheren Duells fuhr ich im langsamen Wiegetritt auf die andere Straßenseite. Ich wollte sehen, ob der Schweizer angreifen wollte oder viel mehr noch konnte. Wenn ich ehrlich bin, hätte es gar nicht erst soweit kommen müssen, wenn ich mich doch bloß auf das Rennen konzentriert hätte, denn durch den kleinen Tagtraum hatte ich mit Sicherheit einiges an Geschwindigkeit eingebüßt.
Doch das würde meinem Kontrahenten nichts nützen. Auch wenn er die Zuschauer am Streckenrad auf seiner Seite hatte. Mittlerweile stand dort eine fast geschlossene Reihe von klatschenden und jubelnden Menschen. Sie hatte hier oben die strahlende Sonne angelockt, die auf den nun immer weniger bewaldeten Hang brüllte und an den letzten kleinen Schneeresten weit abseits der Strecke leckte. Hier oben waren die Wiesen bereits saftig grün – der angenehme beruhigende Duft stieg mir in die Nase und unwillkürlich beschleunigte ich meinen Tritt, obwohl ich meinen Gegner immer noch fixierte. Er blieb dran. Zu meiner Freude zeigte mein Tacho jetzt immerhin wieder 16 km/h. Ich wollte es versuchen – zum antesten.
Es folgte ein richtiger Angriff mit starrem Blick auf die nächste Kurve. Sie kam schneller als erwartet und wieder bogen wir in ein kleines Waldstück ein. Ich warf einen Blick auf den Tacho – 19 km/h – der Schmerz war noch erträglich. Dann blickte ich mich wieder um. Der Schweizer klebte immer noch an meinem Hinterrad. Ich setzte mich auf den Sattel und suchte einen ruhigeren Rhythmus – es ging tatsächlich ohne zu schalten.
Wieder aus dem Waldstück draußen folgte eine kurze Gerade zwischen den Wiesen. Hier standen wieder weniger Zuschauer am Streckenrand. Jetzt würde er es auf keinen Fall versuchen – denkste – er trat wohl aus dem Prinzip des Überraschungseffekts an und legte zwei drei Meter zwischen uns. Es wurden zehn daraus und ich reagierte zu meiner eigenen Verwunderung überhaupt nicht. Ich pokerte. Der Angriff konnte nur reine Verzweiflung sein und wenn ich ihn jetzt mit einem gesunden Rhythmus wieder einholen könnte, dann würde er psychisch sicher am Boden sein.
Jörg, du bist ein klasse Lehrer!, rief ich still in mich hinein. Ich verspürte überhaupt keine Bedenken dabei, als der Schweizer noch vom Schwung des Angriffs beschleunigt, weitere fünf Meter zwischen sich und mich legte. Wir passierten ein letztes kleines Waldstück. Einen Meter hatte ich mittlerweile schon wieder gut gemacht. Oder täuschte das?
Entlang der kleinen Straßen säumte eine Allee den Wegesrand – dazwischen herrschte Stadionatmosphäre. Ich wurde völlig überrumpelt. Zwischen den Zuschauern konnte ich gerade noch das Schild mit der Aufschrift für die letzten zwei Kilometer erkennen. Mein Blick schweifte nach rechts, den grünen Hang hinauf – dort war das Ziel – die Tribüne voll besetzt. Das Gelände war tatsächlich eine natürliche Arena.
Nach links ging es in den kleinen Ort Wirzweli, der hauptsächlich aus Ferienwohnungen besteht; die Hauptsraße führte jedoch zuerst in einem Knick nach rechts und dann wieder nach links weiter den Berg hinauf. Die Steigung bleib konstant – also hoch. Doch die Umgebung täuschte. Es wirkte fast so, als wäre das Gelände eben. Normalerweise würde ich jetzt verzweifeln. Jeder kennt das: Man nimmt eine steile lange und gerade Rampe in Angriff und hat das Gefühl nicht vorwärts zu kommen, obwohl die Oberschenkel unerträglich schmerzen.
Doch diesmal kam es ganz anders. Ich fühlte mich hier oben trotz der Anstrengungen wohl. Die Sonne, die Wärme, die Wiesen, die Zuschauer, der Kampf – alles trug dazu bei. Auch, dass sich das kleine Sträßchen zwischen den Wiesen hindurch schlängelte, sodass man zwar leicht den Überblick über den Streckenverlauf verlieren konnte, dafür aber keine erdrückende Rampe vor sich hatte. Man könnte sagen, die Steigung verlief im Sand, obwohl sie ganz eindeutig zu spüren war.

Immerhin war ich jetzt auch schon wieder auf gute zehn Meter ran gekommen. Der kleinwüchsige Fahrer im weißen Trikot wechselte ständig zwischen Wiegetritt und im Sattel sitzend ab – kein gutes Zeichen. Er quälte sich viel mehr den Hang hinauf. Ich dagegen saß ruhig im Sattel und hatte zu einem neuen Stil gefunden, der genauso effizient schien, wie der schnelle Wiegetritt. Ich konnte sogar einen Gang hoch schalten und zog mich förmlich an meinen Kontrahenten heran. Ein paar Zuschauer klatschten lediglich – andere peitschten ihren Schützling hinauf, als gäbe es nichts wichtigeres auf der Welt. Ich musste fast schon schmunzeln, obwohl meine Oberschenkel wieder damit begannen zu brennen. Doch im langsamen und konstantem Heranziehen war ich schon immer, vor allem auf den Trainingsausfahrten mit dem Verein, ein wahrer Meister gewesen. Das gab mir wieder ein bisschen Halt und Sicherheit in dieser schwierigen Rennphase.

Einmal hatte sich der Schweizer bis jetzt umgesehen. Es hatte ihn richtig gepuscht, mich in vermeintlichen Schwierigkeiten zu sehen. Doch jetzt waren seine Blicke eher angsterfüllt. Er schaute dem Unausweichlichem sprichwörtlich in die Augen. Meine Kadenz war nicht enorm hoch, doch die meines Gegners verschwand immer mehr im Niemandsland, bis er schließlich in der letzten großen Kehre einen Stehversuch zu unternehmen schien – unfreiwillig versteht sich.
Ich sauste ihm hinter her und beschleunigte in der engen Kurve. Es wurde wieder etwas steiler, aber das war mir egal. Mit drei, vier Pedalumdrehungen war ich an ihm dran – er fuhr jetzt vielleicht noch 12 oder 13 km/h – ich dagegen gute 19 – die logische Folge war, dass ich unbarmherzig an ihm vorbeiraste. Ich hatte mein „Spinning“ vom ersten Teil des Berges wiedergefunden. Ich warf noch einen Blick zurück – mein Gegner blickte resignierend auf den Asphalt, dann sogar zurück – er war geschlagen! Mein Angriff war wahrlich niederschmetternd gewesen.
Jetzt konnte mich nichts und niemand mehr halten. Wie in Trance jagte ich am Schild für die letzten tausend Meter vorbei – mein Rad glitt förmlich über den Straßenbelag dahin. Ich musste kaum noch was tun, doch ein paar hundert Meter später war ich auch am Ende. Die kleinen Schlangenlinien, die der asphaltierte Weg immer noch machte, kamen mir nun endlos lange vor. Der Streckenverlauf schien sich ständig zu wiederholen. Obwohl das Ziel so nahe war, wollte der Berg kein Ende nehmen. Die doch recht zahlreichen Zuschauer feierten mich bereits – das linderte die Schmerzen ein wenig. Jetzt spürte ich zum ersten Mal das säuerliche Gefühl in der Lunge – die Beine stagnierten – ich „kotzte“ den Berg hinauf – weit nach vorn über den Lenker gebeugt, kroch ich am Hang hinauf. Das Rad wollte einfach nicht mehr schneller fahren. Die Geschwindigkeit pendelte sich zwischen 14 und 15 Stundenkilometern ein.
Es folgte der letzte Knick – ich konnte über den Bergsattel ins Nachbartal blicken – doch dafür blieb jetzt wenig Zeit. Ich war auf der Zielgeraden. Die Qualen wollten aber immer noch kein Ende nehmen. Vorsichtshalber warf ich einen letzten Blick zurück – ich war alleine.
Noch hatte ich nicht begriffen was das bedeutete – erst als ich hinter einer leichten Linkskurve endlich das Transparent und den weißen Zielstrich erkannte – durchströmten die Endorphine meinen Körper und die letzten Meter liefen wieder wie von selbst. Nie im Leben hätte ich damit gerechnet! Diese Linie als erster zu passieren – unglaublich! Unbeschreiblich war das Gefühl, als ich mich fünf Meter vor dem Transparent aufrichtete und – anstatt den Finger gen Himmel zu recken – die Hand nach vorne ausstreckte. Ich wusste ganz genau, wem dieser Gruß galt...

Ich torkelte an ein, zwei Fotografen vorbei. Die Zuschauer auf der Tribüne applaudierten – doch ich nahm es gar nicht so bewusst wahr, dass mir gerade ungefähr zweihundert Menschen zuschauten, wie ich abgekämpft vom Rad stolperte und sofort einen Halt an der Bande suchte. Hinter dem Zielbereich war ein kleines Lager aufgeschlagen worden – unter anderem mit einem Bierzelt – doch das sah ich alles nur aus dem Augenwinkel. Ich musste husten – mein Rachen brannte – ich war sehr viel Sauerstoffschuld eingegangen, wenn ich ehrlich bin, so viel wie noch nie! Meine Brust hob und senkte sich rasend schnell. Einige Sekunden schnappte ich nach Luft. Dann konnte ich endlich darüber nachdenken, was mir soeben gelungen war...Ich hatte mein erstes Radrennen gewonnen – und dann auch noch im Ausland!

Drei Motorräder passierten nacheinander das Ziel. Ich wartete auf den ersten Verfolger – und auf Sven. Ich wollte wissen, wie viel Zeit ich wirklich zwischen all die anderen gelegt hatte. Erst jetzt realisierte ich, dass es hier sogar eine Art Kommentator und Moderator gab. Er stand nur wenige Meter von mir entfernt hinter der Bande und quasselte ohne Punkt und Komma in ein Mikrofon. Zwei Lautsprecher beschallten die Zuschauer auf der Tribüne, die der Strecke abgewandt waren – deshalb hatte ich also nichts gehört.
„Dort unten fährt noch eine Gruppe – dreißig Sekunden sind mittlerweile vergangen – wann kommt...“
Ich warf einen flüchtigen Blick über meine Schulter. Irgendetwas hatte ich im Augenwinkel bemerkt. Da waren meine Vereinskameraden: Hans lächelte wie ein allwissender Guru – Peter strahlte neben ihm herlaufend zu mir herüber – die beiden verdeckten die anderen dahinter. Sie interessierten mich auch nicht – die eine Person im Vordergrund zog nun all meine Aufmerksamkeit auf sich. Die langen Haare hatte sie mit einem Haargummi hochgesteckt – wenn ich ehrlich bin, sah das richtig klasse aus – mein Herz machte einen weiteren Hüpfer als ich bemerkte, dass sie nicht einfach nur auf mich zu ging – nein, sie rannte. Und schon in der nächsten Sekunde war sie bei mir und ohne Vorwarnung, ohne Plan, küsste sie mich...

Es kam mir vor als wären einige Jahre vergangen, als wir uns wieder voneinander lösten. Ich hielt sie in meinen Armen und wir lachten uns an.
„Hey, ich hab doch grad nur ein Radrennen gewonnen“, warf ich beiläufig ein. So ganz konnte ich ihre überschäumende Freude nicht verstehen.
Irgendjemand klopfte mir flüchtig auf die Schulter. „Klasse Rennen“, krächzte die Stimme des jungen Schweizers, der an uns vorbeirauschte. Ich freute mich für ihn, dass es noch der zweite Platz geworden war – ich wusste nicht warum, aber auf der Strecke war er richtig sympathisch gewesen – kein selbstverliebtes Arschloch, wie ich es heute eigentlich erwartet hatte...
„Ich freu mich halt für dich – ehrlich“, sagte Christine, als wäre es schon das normalste der Welt. „Ich weis, wie viel dir daran liegt.“
„Trotzdem kam das etwas überraschend.“
„Überraschend? Jetzt freu dich doch mal – oh, sorry, du weist ja gar nicht was der Preis ist.“ Sie setzte ein schelmisches Lächeln auf. Egal was sie tat, sie war in meinen Augen einfach zu süß, um jetzt eine ernsthafte Antwort zu geben. Ich wollte das ausreizen.
„So, ich dachte, den hätte ich gerade schon bekommen?“
Bild
Bild
Bild

Benutzeravatar
vino 12
Beiträge: 587
Registriert: 25.11.2006 - 16:43

Beitrag: # 6749147Beitrag vino 12
18.12.2008 - 19:19

Genial!!! Wie du die Spannung aufbaust... einfach geil!!!

Benutzeravatar
Mor!tz
Beiträge: 359
Registriert: 17.7.2008 - 14:45
Kontaktdaten:

Beitrag: # 6749214Beitrag Mor!tz
19.12.2008 - 13:05

8O 8O 8O
Wahnsinn! Man hat das Gefühl richtig dabei zu sein. Am liebsten würd ich sofort weiterlesen... Die Geschichte lässt einen so mitfiebern... Ich freu mich auf den nächsten Teil und bin schon gespannt...

Benutzeravatar
vino 12
Beiträge: 587
Registriert: 25.11.2006 - 16:43

Beitrag: # 6750094Beitrag vino 12
28.12.2008 - 19:15

wann gehts weiter?

Andy92
Beiträge: 468
Registriert: 29.6.2008 - 19:53
Kontaktdaten:

Beitrag: # 6750102Beitrag Andy92
28.12.2008 - 20:20

Ich war vom 2.Weihnachtsfeiertag bis heute bei meinem Vater - Weihnachten feiern. Und ab Mittwoch fahren wir zu meiner Oma - Sylvester und Geburtstag feiern. :D Und am Anfang der Ferien hatte ich mit Vorbereitungen für Heiligabend und anderen weihnachtlichen Veranstaltungen genug am Hut, als einen AAR weiter zu schreiben. Ich hoffe aber selbst, dass es bald wieder weitergeht. Möglicherweise kommt ja in den nächsten beiden Tagen schon etwas ;) .
Bild
Bild
Bild

Andy92
Beiträge: 468
Registriert: 29.6.2008 - 19:53
Kontaktdaten:

Beitrag: # 6750121Beitrag Andy92
28.12.2008 - 23:34

Christine lachte nur kurz auf. Sie blickte über meine Schulter hinweg zum Zielbereich.
„Hey, da kommt Sven“, rief sie und löste sich aus meiner sanft nachgebenden Umarmung.
Ich drehte mich um. Sven hatte das Ziel bereits passiert – wohl als erster einer fünfköpfigen Gruppe. „2 Minuten Rückstand für diese Gruppe – das Teilnehmerfeld ist in diesem Jahr einmal mehr sehr stark aufgesplittert worden...“, gab der Moderator durch und laberte ohne Unterbrechung weiter in sein Mikrofon – es wirkte fast so, als wäre er von den Bewegungen seines Mundwerks abhängig geworden. Ich beschäftigte mich gerade mit der Frage, ob er bei einer Unterbrechung nicht von der plötzlichen Sauerstoffüberflutung in seiner Lunge nicht ernsthafte Schäden davon tragen würde, da klopfte mir Hans auf die Schulter – Sven hatte ich leider aus den Augen verloren.
„Ganz große klasse! Du musst mir nachher unbedingt erzählen, wie du gewonnen hast, ich hab nämlich nur den letzten Kilometer von dir gesehen“, sagte er und nickte zur Tribüne, wo auf den obersten Rängen bereits ein paar Plätze frei waren – dort hatten sie wohl gesessen und mir zugejubelt. Was für ein grandioser Tag! An all die Enttäuschungen und Ängste die ich gestern erfahren habe, konnte ich mich bereits nicht mehr erinnern – so übermannend war das Glücksgefühl des Sieges, der Annerkennung und der Bewunderung – und nicht zu vergessen: Vom Kuss...

Christine hatte ihren Bruder irgendwo in der Menge aufgegabelt, die hinter dem Ziel unaufhörlich wuchs, desto mehr Fahrer das Rennen beendet hatten und von ihren Trainern betreut wurden. Anscheinend hatte sie ihm schon erzählt, was geschehen war. So ganz konnte er es wohl noch nicht fassen – ich ja auch nicht. Beides nicht. Der Sieg dieses schweren Rennens und der Gewinn von Christines Herz – wobei er letzteres wohl eher nicht in Erfahrung gebracht hatte (zum Glück nicht), denn er kam mit einem ungläubigem Lächeln und funkelnden Augen auf mich zu.
„Das ist ein Witz oder?“, sagte er.
„Sven, darf ich vorstellen: Vor dir steht der amtierende U19-Meister vom Ächerlipass“, feixte Hans und forderte meinen Freund auf, mir die Hand zu schütteln. Ich musste lachen – alle lachten. Ich hatte Hans noch nie so glücklich gesehen. So lange kannte ich ihn zwar noch nicht, aber so ein breites Grinsen hatte ich bisher wirklich selten auf seinen Lippen gesehen. Und das, obwohl er doch generell ein Mensch mit einer äußerst positiven Lebenseinstellung war. Selbst Peter, der in dieser Beziehung noch schlimmer war, lächelte mit einem – ja – fassungslosen Kopfschütteln zu mir herüber.
Doch plötzlich wich die heitere Stimmung einem betretenem Schweigen. Nicht abrupt. Nein, einer nach dem anderen verstummte. Die Stille breitete sich wie eine Art Virus in der Gruppe aus. Ich hatte die Ursache dafür natürlich wieder als letztes begriffen. Die Antwort konnte ich Sven im Gesicht ablesen, als ich ihn fragend anblickte.
„Christine?“, sagte er und starrte über meine Schulter hinweg in die Ferne.
„Ja?“
„Da ist sie ja.“ Er nickte in eine bestimmte Richtung. Seine Begeisterung schien sich in Grenzen zu halten. Sein Blick hatte sich eher verfinstert, was wohl auch die plötzliche Stille verursacht hatte.
Sofort wandten alle ihre Blicke in den hinteren Bereich des Zieles – Richtung Bierzelt. Dort standen aber so viele Menschen, dass ich keine besondere Person darunter ausmachen konnte. Ich verstand sowieso nur Bahnhof. Alle Aufmerksamkeit war von mir gewichen. Einem Teil meines Kopfes, dem noch „normalen“ Teil, der meinen ursprünglichen zurückhaltenden Charakter enthielt, freute sich darüber, doch der andere „neue“ Teil ärgerte sich und verfluchte denjenigen, der mit seinem plötzlichen Aufkreuzen in Svens Sichtfeld diesen wunderschönen Augenblick besudelt hatte. Vor allem die Zweisamkeit mit Christine konnte ich jetzt wieder vergessen.
Ihre Reaktion sagte alles: Die Lippen, gerade noch zu einem strahlenden Lächeln geformt, bildeten jetzt einen einfachen, schlichten roten Strich, und, wenn ich sie ganz genau betrachtete, dann wurde sie sogar ein wenig blass. Über diese Frau, oder wen auch immer, die sie gerade entdeckt hatte, schien sie sich gar nicht zu freuen. Zwei Sekunden später, konnte man den Hass auf diese Person, wer auch immer es sein mochte, in ihren Augen ablesen, die gefährlich aufblitzten. So hatte ich sie noch nie gesehen. Oder? Doch, natürlich – heute morgen, als Sven uns den schönen Dialog versaut hatte, da hatte sie mit genauso zornigen Blicken um sich geworfen. Und auch diesmal war wieder ein Quäntchen Enttäuschung mit im Spiel.
„Na super.“ Die Ironie, die sie in ihre Stimme legte, hätte kaum größer sein können.
„Du sagst es“, fügte Sven noch hinzu, dann packte mich völlig unerwartet eine Hand. Sie gehörte einem Mann von der Rennleitung. Er blickte ziemlich nervös drein, ja fast gestresst. Mit der linken Hand umklammerte er ein Klemmbrett mit wehendem Papieren – mir war gar nicht aufgefallen, dass hier oben ein leichter Wind blies – und einem Kugelschreiber in der rechten Hand, dessen schmerzhaften Abdruck ich immer noch auf der Schulter spürte.
„Herzlichen Glückwunsch!“, rief er mit einem aufgesetztem strahlenden Lächeln in perfektem Schweizer Dialekt und wies mir den Weg durch die Menge auf das Siegerpodest zu. Hans nickte mir bekräftigend zu – außer Sven und Christine folgten mir alle. Im Gedränge hatte ich sie blitzschnell aus den Augen verloren.
Ich war jetzt überhaupt nicht in der Stimmung für eine Siegerehrung. Mich interessierte jetzt viel mehr, was Sven und Christine für Probleme hatten. Doch als ich neben der Bühne zwischen zwei weiteren Fahrern stand, die Siegerehrung ohne Umschweife von dem ständig quasselnden Moderator angekündigt wurde und sich immer mehr Leute vor dem Podest versammelten, da wich die Neugierde wieder aus meinem Kopf. Jetzt konnte ich es kaum abwarten, vor diesem Publikum ganz oben zu stehen, eine Medaille oder einen Pokal entgegen zu nehmen, zu jubeln und natürlich diesen geheimnisvollen Preis zu erhalten.
Ungefähr hundert Personen hatten sich mittlerweile versammelt, um die ersten drei des Rennens zu ehren. Doch der Moderator fing zu meiner Verwunderung mit dem zehnten Platz an – na gut, dachte ich, ist doch auch irgendwo richtig so.
Es war einer aus diesem Schweizerteam. Jetzt ohne Helm und Sonnenbrille, mit schweißnassen Haaren, sahen alle Fahrer wieder ganz anders aus. Der strohblonde junge Mann erhielt eine Urkunde – er strahlte zu meiner Verwunderung. So goldwert konnte das Rennen doch gar nicht sein – oder? So wichtig war diese Veranstaltung hier nie und nimmer. Doch irgendetwas verpasste mir noch mal einen kleinen Adrenalinstoß. Die Aufregung und die Unruhe in mir stiegen noch weiter an, als der Fahrer noch mit einem viel größerem Lächeln einen weißen Briefkuvert erhielt. Nicht das er noch im mit großen Sprüngen wieder hinter der Bühne verschwunden wäre. Er grinste wie ein Honigkuchenpferd.
Der nächste Fahrer, der neunte, kam wohl aus Italien, erhielt nur ein Urkunde und verhielt sich nicht ganz so „drastisch“ wie sein Vorgänger. Er schien nicht überschäumend vor Glück und mit hohen Luftsprüngen davon zu rennen, als hätte er gerade völlig überraschend Abiturnoten mit Einserschnitt erhalten.
Auch der nächste, der achte im Rennen, ein weiterer Schweizer, aber aus einem anderen Team, erhielt eine Urkunde – aber keinen Briefumschlag. Auch der siebte nicht – der sechste ebenfalls nicht. Erst der fünfte bekam wieder einen – ein Österreicher. Vierter war wohl ein weiterer Italiener geworden – auch er erhielt einen Umschlag.
Jetzt ging’s um die Wurst. Die Aufregung in mir stieg ins Unermessliche! Mit Sicherheit würde ich auch so einen Umschlag bekommen – was könnte da bloß drin sein. Mein erster Gedanke war: Geld. Doch den warf ich ganz schnell wieder weg. Völlig unwahrscheinlich.
Die Zuschauer vor der Bühne schenkten uns dreien einen besonders kräftigen Applaus. Doch der rührte vor allem vom Gegröle meiner Jungs her. Ich drehte mich sofort nach ihnen um – sie standen dicht gedrängt links unterhalb des Podests – und lächelte ihnen zu. Es war mir fast ein wenig peinlich so viel Aufmerksamkeit zu bekommen. Als das Geschrei und der überschwängliche Jubel auch noch in „ANDREAS! ANDREAS!“- Rufe übergingen, da musste ich einfach mein Lächeln hinter einem Kopfschütteln und einem kurzen Zu-Boden-Schauen verstecken. Aus der linken unteren Ecke vor der Bühne brach Gelächter aus, als die Rufe endlich verstummten – selbst der Moderator musste über diese Spaßvögel grinsen. Einfacher Applaus hätte es doch auch getan. Mal wieder typisch deutsch, auswärts die größte Party steigen zu lassen. Man muss ja auch allen anderen zeigen, dass wir einfach die stärksten sind, die von den germanischen Urvölkern abstammen und dem langsamen Nachbarn aus der Schweiz vor Augen führen, wo der Hammer hängt – bei uns! Ja, ja – wie ich das doch immer wieder zum Lachen fand.
Immerhin war der Moderator schon dabei, den Namen des drittplatzierten aufzurufen, ein Italiener, der kurz seinen rechten Arm in den Himmel streckte, aber eigentlich sehr gefasst wirkte. Er stand rechts von mir und erhielt von einem noch recht jungen Mann in Kurzarmhemd eine Urkunde und eine Art Bronzemedaille. Ich war mir ziemlich sicher, dass dieser junge Mann, ok, jung war übertrieben, auf alle Fälle war er gute zwanzig Jahre jünger, als die anderen Grauhaarsäcke, die hier auf der Bühne herumlungerten – höchstwahrscheinlich die Vertreter der Sponsoren – und damit wohl so um die 30 bis 35 Jahre alt war. Er zwinkerte dem jungen Italiener zu und klopfte ihm kurz auf die Schulter – es wirkte fast so, als würden sich die beiden schon sehr lange kennen. Das gleiche bei dem kleinen zweitplatzierten Schweizer links von mir: Urkunde, Medaille, kein Briefumschlag und eine freundschaftliche, eher väterliche Umarmung.
Dann war es soweit! Der Moderator rief meinen Namen aus und sofort brandete wieder der unbändige Jubel aus der linken unteren Ecke hervor – wenigstens blieben diesmal die „ANDREAS! ANDREAS!“- Rufe aus. Aber das war mir in dieser Situation wirklich scheißegal. Ich hatte etwas im Kopf, was ich nach Erhalten meiner Medaille machen würde. Es kam ganz spontan – es übermannte mich sozusagen – es kam aus tiefstem Herzen.
Als erstes schüttelte mir der junge Mann – er hatte übrigens ähnliches kurzes schwarzes Haar wie ich – die Hand, sprach seine Glückwünsche aus und drückte mir eine kunstvoll gedruckte Urkunde in die Hand. Beim Überfliegen erkannte ich bloß eine alles in den Schatten stellende große weinrote 1. Schon im nächsten Moment hängte er mir die Medaille um und flüsterte mir dabei etwas ins Ohr: „Hast ja schon deinen Fanklub, was?“
„Ja, ich hab gleich meinen Verein mitgebracht“, grinste ich zurück. Das Schmunzeln auf den Lippen des Mannes wuchs zu einem Lächeln an – im selben Moment drückte er mir einen weißen Kuvert in die Hand, mit der ich immer noch die Urkunde hielt.
„Viel Spaß damit – wir werden uns bald wieder sehen“, grinste er. Ich wusste überhaupt nicht was er damit meinen könnte – es war mir jetzt auch erst mal egal, denn ein wunderschöner Pokal wanderte in mein Sichtfeld. Er wurde von einem dieser älteren Herren getragen.
„Danke ihnen, Herr Bauer“, sagte der jüngere und Herr Bauer verschwand wieder zur Seite. Mein Blick konnte sich vom Pokal nicht mehr loseisen. Eigentlich war es nur eine schlichte Scheibe aus Glas, die zu einem Sechseck gefräst worden war und in deren Mitte mein neuer Titel prangte – „Meister vom Ächerlipass 2008 – U19“. Ganz einfach gehalten und doch irgendwie markant und schön. Feierlich überreichte mir der Renndirektor – ich nannte ihn jetzt einfach mal so – dieses Kunstwerk. Alleine die Tatsache, dass es einen Pokal gab, den ich jetzt in die Höhe hätte recken können, war Genugtuung für die Strapazen dieses Rennens. Die Medaille war das zwar auch schon gewesen, aber dieser Pokal, der war etwas wert. Den konnte man in der Hand hin und her wiegen – der war schwer und groß und bettelte darum doch endlich in die Höhe gereckt zu werden. Dieser Pokal setzte diesem Tag wirklich die Krone auf! Er entlohnte mich für alle Anstrengungen! Er machte sie einfach zunichte und vergessen!
Meister vom Ächerlipass! Ich lies meinem Blick für den Bruchteil einer Sekunde auf dem eingelassenen matt glänzenden Metallblättchen ruhen – dann hielt ich es nicht mehr länger aus und reckte ihn unter Applaus in den Himmel. Mit einem Satz landete ich vor meinem Siegertreppchen auf der Bühne und brüllte ein „Jaaaaaaaaaaaaaaa!“ in die Menge und küsste den Pokal in meiner Hand. Die Urkunde und den weißen Umschlag hatte ich auf das Treppchen fallen lassen – das kam später – jetzt wollte ich feiern!
Bild
Bild
Bild

Andy92
Beiträge: 468
Registriert: 29.6.2008 - 19:53
Kontaktdaten:

Beitrag: # 6750190Beitrag Andy92
29.12.2008 - 20:07

„Komm schon, mach ihn endlich auf!“ Ich konnte Svens Ungeduld förmlich spüren. Seine Augen taxierten begierig den weißen Umschlag in meiner Hand. Doch bevor ich ihn öffnete, wollte ich noch etwas wissen.
„Hast du keinen bekommen?“, fragte ich. Er schüttelte beiläufig den Kopf. Offensichtlich war es ihm völlig egal.
„Als achtzehnter ist die Wahrscheinlichkeit ziemlich gering einen zu bekommen“, fügte er noch hinzu. Was sollte das jetzt wieder heißen?
„Außerdem schlägt Sven einen anderen Weg ein als du. Aber...ja, mach ihn einfach auf, dann wirst du es schon sehen.“ Hans Aussage machte mich neugierig. Sehr sogar.
Christine kam jetzt auch hinzu. Sofort hatte sie sich neben mich gestellt und küsste mich flüchtig auf meine glühende linke Wange. Sven blickte überrascht auf. Doch er schien sich wie immer bloß auf eine Sache konzentrieren zu können – und das war jetzt der Umschlag in meinen Händen. Nicht die Beziehung seiner kleinen Schwester zu mir. Seine Geste zeigte mir deutlich, dass er sich das noch für später aufheben würde. Ich musste über die ganze Sache unwillkürlich grinsen.
Während sich Christine jetzt auch noch provozierend an meine Schulter hängte und ich ihren warmen Atem im Nacken spürte – es lies mich erschaudern – und Hans schon demonstrativ hüstelte, öffnete ich endlich den Briefumschlag. Ich zögerte bevor ich sein Inneres preis gab.
„Und? Was ist drin?“, rief Sven. Er schien Christine völlig zu ignorieren. Da hatte er es sich in den letzten Wochen zur Lebensaufgabe gemacht uns beide möglichst fern voneinander zu halten und jetzt das. Er ignorierte unsre Zweisamkeit – hatte er es akzeptiert? Hatte ich seine „Prüfungen“ bestanden, oder was?
Ich gab keine Antwort auf seine Frage. Stattdessen zog ich ein weißes Blatt Papier heraus und faltete es unter den Argusaugen von Hans und Christine auf – Sven stand mir ja gegenüber und konnte so schlecht auf den Brief sehen, den ich nun in Händen hielt. Ich las ihn mir stumm durch und mit jeder Zeile, ach was, mit jedem Wort machte mein Herz einen Freudensprung. Einen noch viel, viel größeren als bei der Überquerung der Ziellinie! Ich war überwältigt!
„Wow“, war das erste, was ich mit schwacher heiserer Stimme wieder herausbrachte. Beinahe wurde mir schwarz vor Augen.
„Jetzt sag schon“, bettelte Sven. Seine Hand schnellte hervor, um mir den Brief aus der Hand zu reisen, doch ich reagierte schneller und lies seinen Griff ins Leere laufen.
„Das ist eine Einladung“, fügte ich mit allwissendem Blick hinzu.
„Für das was ich denke? Wirklich? Für Grubers Internat?“
Ich war verblüfft woher er den Namen des Verfassers dieses Briefes kannte. Da setzte Hans gerade zu einer seiner berühmten längeren Reden an und gab mir die Antwort.
„Alexander Gruber ist ein ehemaliger Radsportler. Er galt in der Schweiz als größtes Talent nach Alex Zülle, doch wie so oft, verhinderte ein Sturz eine glanzvolle Karriere. Das Radfahren musste er leider ganz sein lassen und so gründete er ein Internat für Nachwuchstalente mit denen er später ein Profiteam aufbauen möchte. Und wie du siehst, haben sich bereits einige Firmen an dem Projekt beteiligt.“
„Und da soll ich hin?“, fragte ich ungläubig.
„Wenn du willst. Der Sieger dieses Rennens erhält so eine Art Stipendium von den Geldgebern. Ich würde so eine Chance nicht ausschlagen.“
„Hm, ich weiß ehrlichgesagt nicht, was ich sagen soll.“
„Du hast ja noch bis August...“
„Bist du verrückt!“, rief Sven, „Mann, so eine Chance bekommst du nie wieder!“
„Er vergisst dir zu sagen, dass er vielleicht auch noch dort hin kommt“, raunte mir Christine für alle gut hörbar ins Ohr zu. Jetzt war ich völlig durcheinander. Nicht, dass ich es ihm nicht gegönnt hätte, aber das Warum und Wieso interessierte mich doch sehr.
Überraschenderweise war es Sven selbst, der meinen perplexen Gesichtsausdruck zu bemerken schien.
„Also“, fing er an. Seine Aufregung hatte sich wohl endlich ein wenig gelegt. „Die Eltern von Gruber, die kennen wir beide.“ Er nickte zu Christine. „Wir haben gerade erfahren, dass die Frau unseres Vaters seine Mutter ist. Ich weiß auch noch nicht, wo mir der Kopf steht, aber ich schein doch ganz gute Beziehungen zu haben“, lachte er.
„Ich versteh jetzt gar nichts mehr“, gab ich offen zu. Am liebsten hätte ich mich jetzt hingelegt und eine Nacht darüber geschlafen. Nicht nur über die Einladung ins Internat an sich, nein, auch an die Verwandtschaftsverhältnisse in Svens Familie, die mir unheimlich kompliziert erschienen.
„Noch mal zum Mitschreiben“, begann Sven von neuem. „Unser Vater hat unsre Mutter verlassen, als ich ungefähr zehn Jahre alt war und ist in die Schweiz ausgewandert – wegen einer Frau. Und die hieß bis vor kurzem zufälligerweise noch Isabel Gruber, bis sie unseren Vater geheiratet hat.“
„Das heißt du bist der Halbbruder von Alexander Gruber?“
„Ja. Und deine Freundin ist seine Halbschwester“, fügte Sven mit einem schelmischen Grinsen noch hinzu.
Beim Wort „Freundin“ hatten sich meine Augen sofort in denen von Christine verfangen. Sie lächelte – unwiderstehlich. Ihre Lippen schienen magnetische Kräfte auf die meinen auszuwirken – ich wollte sie unbedingt berühren...
„Sein Vater war übrigens ein steinreicher Geschäftsmann“, riss mich Hans aus meinen Träumereien. Ich warf ihn einen unterschwelligen finsteren Blick zu – leider schien er die Botschaft bemerkt zu haben und begann regelrecht zu kichern. Ich schaute schnell wieder weg.
„Hast du verstanden, was das bedeutet?“, warf Sven ein und ignorierte seinen schmunzelnden Trainer dabei völlig. Seine Anspielung von gerade eben, schien ihm schon als Genugtuung und Beweis völlig ausreichend gewesen zu sein. Zumindest meine oder besser gesagt unsre Reaktion war wohl sehr eindeutig gewesen.
„Ja...ich glaube schon. War das die Frau, die ihr vorhin entdeckt hattet?“
„Ja, genau die. Sie wollte sich eigentlich zusammen mit unserem Vater hier treffen, doch der ist seit gestern Vormittag nicht mehr aufgetaucht. Typisch...Immerhin empfinde ich jetzt etwas mehr Sympathien für diese abstoßende Frau – ich weiß gar nicht wie man so etwas heiraten kann...aber immerhin ist sie ja doch noch alleine hergekommen“, fügte er noch schnell hinzu, als er Christines vorwurfsvollen Blick bemerkte.
„Also so schlimm ist sie jetzt auch wieder nicht“, entgegnete sie energisch.
„Mal sehen, was du jetzt sagst. Da kommt sie nämlich schon wieder“, feixte Sven und nickte über Christines Schulter hinweg. Sie drehte sich blitzschnell um und stieß ein unterdrücktes „Was?! Oh nein!“ hervor.

Sie war mittelgroß, schlank, hatte schulterlanges braunes Haar und trug ein ihrer Stellung entsprechendes Kostüm. Sie war so eine Frau, von der man nichts anderes erwarten konnte, außer, dass sie ein Kostüm zu tragen hatte. Mit Sicherheit verwaltete sie irgendwelche Geschäfte ihres Sohnes. Ohne jegliche Vorwarnung fielen mir Hans Worte wieder ein: „Sein Vater war übrigens ein steinreicher Geschäftsmann.“ Es war sonnenklar. Alexander Grubers Vater war gestorben. Mit Sicherheit war ein Großteil seines Vermögens in das Projekt seines Sohnes geflossen. Und der Rest? Den hatte diese Frau geerbt. Und wer hatte sie geheiratet? Svens Vater. Diese Tatsache warf ein ganz anderes Licht auf die Sache. Aber es war kein feierliches, glorreiches Licht. Sondern ein schlechtes, fadenscheiniges, schwaches Licht. Vor allem auf diese Frau. Svens Stiefmutter – Christines Stiefmutter.
„Na, ihr beiden“, rief sie mit gekünstelt freundlicher Stimme. „Ihr habt auch noch nichts von eurem Vater gehört?“
„Nein, nichts gekommen“, antwortete Christine zynisch, klappte ihr Handy zu und lies es in ihre Hosentasche gleiten – ich hatte gar nicht bemerkt, dass sie es überhaupt ausgepackt hatte.
„Wo steckt der denn bloß?“ Ihr Blick schweifte ab in die Ferne, als würde ihr Mann gleich zwischen den Menschen auftauchen. Man sah ihr die Besorgnis an, doch irgendwie wirkte es nicht echt, wenn ich ehrlich bin. Als ihr Mann scheinbar immer noch keine Anstalten machte, endlich aufzukreuzen, warf sie einen Blick in die Runde. Leider blieben ihre beiden kleinen schwarzen Äuglein an mir kleben.
„Oh, Herzlichen Glückwunsch, junger Mann. Ein ganz famoses Rennen war das“, rief sie hysterisch und packte unsanft meine Hand. Den Briefumschlag hielt ich leider mit der linken. Warum dachte ich das überhaupt?
„Sie können sich sicher sein, dass das Team des Internats absolut auf ihre Bedürfnisse Rücksicht nehmen wird – perfekte Ausbildung in jeglicher Hinsicht. Oh, Entschuldigung, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt - ich bin die Geschäftsführerin des Projekts, Isabel von Klavsen, Herr Gruber ist mein Sohn.“
Ja, jetzt wusste ich es. Ihre Stimme, ihr Auftreten, ihr Verhalten – einfach alles – einfach sie – ich hasste sie.
Bild
Bild
Bild

Antworten