arkon, [i]Das Ziel[/i] ([url=http://cyclingmanager.de/viewtopic.php?p=6706336#6706336]Link[/url]) hat geschrieben:Das Ziel
Alles war weiß. Nichtsagend. Steril. Er blickte sich um. Es ödete ihn an. Er lag hier, auf seinem Rücken, wie ein Krüppel. Mühsam kämpfte er sich hoch. Er wollte hier nicht einfach so herum liegen. Nicht mehr. Es war unwürdig. Schweiß tropfte ihm von der Stirn als seine zitternden Armen halt suchten und seine Hände sich in die kalten Streben des Bettes krallten. Die Glocke für die Schwester. Seine Rettung. Das enervierende Bimmeln hörte sich in seinen Ohren mit einem Male erlösend an. Hilfe nahte.
Eine alte, ergraute Schwester erschien in der Tür.
„Signore Stefano Virazio?“
Er herrschte sie an, ihn nicht wie einen alten Mann zu behandeln und ihm gefälligst einen Rollstuhl zu holen. Er wolle vor die Tür. Während sie genervt, aber doch eilig die Tür hinter sich schloss musste er unweigerlich zurück denken. Zurück an die Zeit, in der er noch nicht hier gefangen war. Und sie war noch nicht so lange her…
Langsam wurde es ernst. 160 Kilometer waren sie bereits gefahren. Und erst jetzt wurde das Rennen langsam ernst. 160 Kilometer trennten sie von Lüttich. Bastogne hatten sie schon längst hinter sich gelassen. Sie befanden sich auf dem Rückweg. Auf dem Weg nach Ans. Hin zu dem Anstieg, der das Rennen entscheiden würde. Die diesjährige Auflage des Klassikers Lüttich-Bastogne-Lüttich.
Alleine der Klang des Rennens genügt, um ihm dieses Glänzen in die Augen zu treiben. Es war für ihn immer eines der ganz besonderen Termine des Kalenders gewesen. Und nun war er hierher gekommen um zu siegen. Und nicht irgendwie. Heute würde es einen Paukenschlag geben. So sicher, so überzeugt war er von seinem Triumph, das er keinen Plan gemacht hatte für eine Niederlage. Wenn er nicht gewann… das gab es alles gar nicht. Er würde es schaffen. Er würde seine Reise beenden. Und er würde ankommen.
Das Feld wälzte sich durch die Ardennen. Die Bäume links und rechts schirmten die Fahrer vor den schlimmsten Schauern ab. Aber Regen gab es genug. Und immer wenn ein kleiner Feldweg oder etwa eine Hochspannungsleitung eine Schneise durch den Wald trieb, fegten die Böen des bissigen, kalten Windes durch die sich dicht zusammen drängenden Gruppen der Fahrer. Den meisten stand der Unwille schon ins Gesicht geschrieben. Einige Ausreißer versuchten ihr Glück, doch die Helfer hielten unerbittlich dagegen. Es war offensichtlich, das sie sich gerne aufrieben, um möglichst früh ihren Teil der Arbeit erledigt zu haben. Dann würden die Kapitäne übernehmen müssen, dann würde er übernehmen müssen. Und das wahre Spektakel stand ihnen ja noch bevor.
Seit dem letzten Herbst, seit seinem Sieg bei der Weltmeisterschaft, hatte er diesen Plan geschmiedet. Er war ein eigentlich noch ein junger Fahrer, aber er hatte schon so gut wie alles erreicht, was es für seinen Fahrertyp zu erreichen gab: Sein Sieg bei Mailand-San Remo und dem Amstel Gold Race vor zwei Jahren, dann die Flandernrundfahrt im letzten Jahr. Im Herbst war er vor zwei Jahren bei Lombardei-Rundfahrt erfolgreich gewesen und nun auch noch die Weltmeisterschaft in Rom, nur 20 Kilometer von Frascati, seiner Heimatstadt, entfernt. Zwei Monumente des Radsports standen noch aus. Als er den Entschluss fasste, sie beide zu gewinnen, hätte er fast selber laut losgelacht: Ein Sieg beim wichtigsten Kopfsteinpflasterrennen, Paris-Roubaix, und bei der Doyenne, dem ältesten Radrennen der Welt. In einem Jahr. Von einem Fahrer. Unglaublich.
Aber er war der Fahrertyp, der so etwas wagen durfte: Stämmig, beständig genug, um auf Kopfsteinpflaster sein Tempo fahren zu können, und auch spritzig am Berg. Er hatte nie die Substanz für eine der großen Rundfahrten besessen, aber das brauchte er auch gar nicht: Er liebte die Klassiker. Von klein an hatte er sich in diese Form des Radrennens verliebt, was sich auch nicht änderte, als er älter wurde. Während viele seiner Kollegen nach und nach anfingen, sich an Rundfahrten zu versuchen, blieb er den Klassikern treu. Und es zahlte sich aus: Seine Erfolge bei den Nachwuchsklassikern brachte ihn zu den Profis, und auch hier etablierte er sich schnell vor allem durch seine Fähigkeit, sich perfekt auf einen Tag zu konzentrieren und 250, wenn es sein musste auch 300 Kilometer, Volldampf zu geben. Keine langfristigen Strategien, kein zurück, keine Chance, einen Fehler auszumerzen. Er wusste immer, was zu tun war. Sein Blick war während des Rennens stets bis ganz zum Ziel gerichtet. Früh konnte er fühlen, was seine Gegner im Schilde führten, konnte ihre Taktik entschlüsseln und zerbrechen.
So wie heute: Sie lauerten. Da er heute der überragende Favorit war waren alle Augen auf ihn gerichtet. Sie rechneten mit einer gemächlichen Fahrt bis zum Finale, wo sie dann durch abwechselnde Angriffe versuchen würde, ihn zu ermüden. Er musste lächeln. War dass schon ihr Bestes?
Zum ersten Mal an diesem Tag richtete er sich auf. Seine 1 Meter 90 große Statur ragte majestätisch über dem Feld, sein Regenbogentrikot blitzte durch den Regen in die Objektive der Kameras. Im tristen Grau des Tages ein willkommenes Motiv für den zuständigen Regisseur und den Kamermann, der auf einem Motorrad das Hauptfeld begleitete.
Langsam bahnte er sich seinen Weg durch diese zähe Masse, durch das Drängen und Ziehen und Schubsen und Stupsen. Es dauerte seine Zeit, aber schließlich erreichte er sein Ziel. Der Regen klatsche auf einmal hart gegen sein Gesicht, prasselte auf seine Brille und trommelte gegen sein Trikot. Die Helfer hier vorne waren froh, dass ihnen jemand die lästige Arbeit abnahm, ganz vorne zu fahren. Jedenfalls bis sie erkannten, wer es war. Die Cote de Wanne fing soeben an, sich leicht zu erheben. Stefano schaute sich noch einmal kurz um und griff dann an. Spielerisch leicht, so mutete es an, spurtete er die Steigung empor. Hinter ihm ertönten laute Schreie und das wilde Klicken hektischen Schaltens. Mann nahm die Verfolgung auf, dafür musste er sich gar nicht erst umdrehen.
Bis er die Kuppe des Anstieges erreicht hatte war er mit einer kleinen Gruppe Mutiger dem Feld schon weit enteilt. Die Verfolgungsarbeit wurde sogleich aufgenommen, doch nicht ganz so fanatisch, wie sie hätte sein sollte. Er konnte das Fragezeichen in ihren Gesichtern förmlich spüren: War es das schon? War das sein Angriff, 90 Kilometer vor dem Ziel, bei diesen Windverhältnissen?
Es waren die gleichen Fragezeichen, die sich auch auf dem Weg nach Roubaix vor ein paar Wochen abgezeichnet hatten, als er 30 Kilometer vor dem Ziel aus einer eigentlich ganz stabilen Spitzengruppe heraus angegriffen hatte. 30 Kilometer, die er als Solist überbrückt hatte, während hinter ihm verzweifelt die anderen Favoriten den Anschluss gesucht hatten. Erst gemeinsam, dann jeder für sich alleine. Aber die Lücke war nicht kleiner geworden, sie war stetig gewachsen. Egal, wie wild sie hinten fuhren, er hatte vorne auf alles eine Antwort. Und so erreichte er schließlich ganz für sich alleine und mit einem monumentalen Vorsprung von über zwei Minuten das Velodrom in Roubaix. Mit weit ausgestreckten Armen war er über die Ziellinie gerollt und hatte den Sieg gefeiert. Den Erfolg des ersten Teils in seinem Plan.
Die gleichen Fragezeichen, die er in den Gesichtern der Journalisten gesehen hatte, als er auf der Pressekonferenz nach dem Rennen angekündigt hatte, das er hier und heute gewinnen würde. Er wollte es nicht, er würde es. Der Versuch alleine adelte noch niemanden. Der Sieg bei allen fünf Monumenten, bei zwei so unterschiedlichen in einem Jahr noch dazu, das Tat es.
Und auch als er die Redoute hinauf fuhr, gleichmäßig schnell in seinem Tempo, während alle seine Begleiter ihr Heil in der Flucht suchten, verschwanden die Fragezeichen nicht. Er war mehr damit beschäftigt, seine Brille, die er zum Schutz vor dem Spritzwasser trug, sauber zu halten, als mit den kindischen Spielchen seiner Begleiter. Die meisten waren nichtige Begleiter, lediglich zwei, drei vielversprechende Talente gab es unter ihnen. Bis sie die Spitze des Berges erreicht hatten war er mit den beiden besten von ihnen im Schlepptau unterwegs. Er tat seinen Teil der Führungsarbeit, aber er verausgabte sich nicht. Über Funk hörte er, wie das Feld an Tempo aufnahm und die Redoute empor jagte, als gäbe es kein Morgen. Sie versuchten nun doch, die Lücke zu schließen.
Den nächsten kleinen Hügel hinauf, der im Vergleich zum restlichen Programm eher einer Bodenwelle glich, führte er ordentlich mit. Einer seiner Begleiter hatte sichtlich Schwierigkeiten, ihm zu folgen, biss aber die Zähne zusammen. Wunderbar.
Er musste an den vorigen Abend denken. An seinen Trainer. Wie er weinend neben seinem Bett gekniet und ihn gebeten hatte, doch das Rennen nicht zu bestreiten. An das Feuer, was er in sich hatte brennen fühlen. So heiß und so unmittelbar, wie es selten der Fall war. Er hatte schreien wollen, ihm klar machen wollen, warum er nicht anders konnte. Warum er dieses Rennen fahren und gewinnen musste. Egal, welchen Preis er dafür letzten Endes zahlen sollte. Aber seine Stimme hatte ihm versagt.
Sie erreichten den letzten Berg vor der charakteristischen Doppelspitze hinein nach Ans. Es war der letzte große Anstieg im Programm, die letzte ‚Cote‘ vor dem eigentlichen Finale. Und nun würde sich zeigen, ob er zu hoch gepokert hatte. Wie erwartet schauten seine beiden Begleiter vor allem auf ihn. Würde er angreifen? Würde er sie jetzt verlassen? Doch er blieb sitzen. Bis einer der beiden, der stärkere, sein Heil in der Flucht suchte. Panisch schaute ihn der verbliebene an, doch mit unbeirrbarem Gleichmut trat Stefano in die Pedale. Schließlich verlor er die Nerven und wetzte dem anderen hinterher. Stefano schüttelte kaum merklich den Kopf. Wie aussichtslos ihre Situation auch war, sie waren beide imstande, ihre Augen weit davor zu verschließen und sich für einige Minuten auf den Fernsehschirmen, einige Minuten des Gefühls, kurz vor dem großen Ruhm zu sein, aufzureiben.
Von hinten erreichten ihn schnell die anderen Favoriten und gemeinsam nahmen sie den Rest der Strecke in Angriff. Das hieß: Er klinkte sich hinten ein, den gebrochenen mimend. Sein Angriff war ja zerschlagen, wie um alles in der Welt sollte er also noch die Kraft besitzen, Führungsarbeit zu leisten? Auch die letzten Edelhelfer fielen nach und nach zurück, die Gruppe schmolz unaufhörlich und jagte mit irrem Tempo die beiden Ausreißer, die ohnehin keine Gefahr darstellen konnten.
Schließlich erreichten sie Ans. Der Schlussanstieg mit der kurzen Pause darin. Mittlerweile hatten sie sich wieder an ihn erinnert und beäugten ihn argwöhnisch. Mit allem Einsatz seiner schauspielerischen Künste krümmte er sich auf dem Rad und simulierte den kämpfenden Sprinter. Seine Größe kam ihm zugute. Trotz seiner vielfach bewiesenen Fähigkeiten auch an steilen Hügeln tendierten seine Gegner immer noch konsequent dazu, ihn wenigstens unterbewusst zu unterschätzen. Ein immer wieder fataler Fehler.
Wie auch diesmal: Die Angriffe kamen zu spät und zu vereinzelt. Der kaum vermeidbare Pakt aller Konkurrenten gegen ihn war gebrochen oder wenigstens angeätzt und somit kaum mehr wirkungsvoll. Hinzu kam, das die Lücken sich oft wieder von alleine schlossen. Mit hohem Tempo rauschten sie an den beiden tapferen Ausreißern vorbei. Stefano nickte seinen ehemaligen Begleitern im Vorbeifahren zu.
Nun kam seine Einsatz: Kurz vor der Spitze des vorletzten Hügels übernahm er die Führung der Gruppe, was schon alleine überraschend war für die anderen. Mit einem kurzen Sprint von vorne eröffnete er die Jagd die Abfahrt hinab. Durch seine Größe war er relativ immun gegen die Böen, die nass und kalt durch die engen Straßen von Ans pfiffen. Er schlitterte oft nur um die Kurven. Das Wasser stand teilweise schon auf dem Asphalt. Der wenige Halt, den seine Millimeterdünnen Reifen auf trockenen Straßen fanden, war kaum noch existent. Doch er konnte nicht stürzen. Er würde nicht stürzen. Nicht heute. Nicht er.
Bis zum Fuße hatte er seine Verfolger aus seiner Sicht verloren. Sein kleiner Funkstöpsel baumelte schon seit geraumer Zeit unbeachtet an seinem Trikot herab. Nun galt es also. Er fühlte, wie alle Lebenskraft, die in ihm geblieben war, aufwallte und in seine Beine schoss. Sein Gedankenstrom verdünnte sich zu vereinzelten Tropfen, die im Wasserchaos um ihn herum hinweg gespült wurden.
Sein Blick ging nicht mehr nach hinten, nicht mehr auf den Tacho. Sein Blick war nach vorne fest auf die Straße gerichtet.
„Ich kann es nicht absagen. Es ist mein Leben. Dieses Rennen. Es ist das, wofür ich immer gekämpft habe!“ warf er ihm entgegen.
Einem Schrei gleich antwortete er „Deine Leben! Verdammt richtig, Stefano. Es ist dein Leben. Willst du nicht dafür kämpfen? Willst du nicht an deine Chance glauben? Es gibt sie! Du musst sie suchen, dann wirst du leben, nicht sterben“
Stefano schluckte. Er verstand nicht. Wie sollte er auch? Heißer flüsterte er „Morgen werde ich kämpfen. Für mein Leben. Auch wenn ich es dabei lassen werde“
Die letzte Kurve. Wie oft hatte er davon geträumt. Er hatte sie wieder und wieder durchfahren, diesen Schwenk. Nun ging es noch einige hundert Meter geradeaus ins Ziel. Ein letzter, kurzer Blick zurück. Nicht bange, eher versichernd. Aber es war unnötig. Alles war so gekommen, wie es hätte sein sollen. Wie er es voraus gesehen hatte. Er schloss sein Trikot. Das Regenbogentrikot des Straßenweltmeisters. Viele sagten, dass ein Fluch auf ihm lastete. Wenn dem so war, so hatte er ihn heute wohl gebrochen. Er richtete sich auf, stemmte seine Fäuste in die Luft. Noch ein kurzer Blick zurück. Er wollte jetzt keine Überraschungen mehr haben.
Und so ging er auf die letzten paar Meter. Seine letzten Meter. Er hatte keine Tränen mehr übrig. Zu viele hatte er in den letzten Wochen geweint. So ließ er einfach seine Arme an sich herab sinken, müde, erschöpft. Er hatte es geschafft, es war vollbracht.
Im Ziel brandete eine Welle der Begeisterung über ihn herein. Die Menschenmassen jubelten und stürmten auf ihn zu. Mühsam bahnte er sich mit zwei Leibwächtern einen Weg durch die Menge. Schnell zum Dopinglabor, die Probe abgeben. Das Interview, das dem Sieger zustand lehnte er ab, schob die Mikros von sich weg. Das würde warten müssen.
Endlich ging es zur Siegerehrung. Erst wurden der zweite und der dritte Platz auf die Tribüne gebeten, dann schließlich er. Er reckte die Arme nach oben, ließ sich ein wenig feiern. Aber es fühlte sich alles schal an. Sein Triumph war vollkommener als alles, was sich diese Menschen jemals vorstellen konnten. Es war ihm im Grunde egal. Dann holte er sich ein Mikrofon.
„Danke, danke! Ich möchte eine kleine Rede halten. Es wird nicht darum gehen, wem ich diesen Erfolg alles zu verdanken habe. Die Menschen wissen es selber am besten und sie haben es für mich getan, nicht für die Anerkennung, die sie bekommen würden, wenn ich ihren Namen laut über das Fernsehen hinaus schreien würde. Verschwenden wir also keine Zeit damit.
Ich habe gewonnen! Und damit habe ich alles erreicht. Mein Weg ist gegangen, ich habe alle Stationen erreicht und nun ist es an der Zeit, den Weg zu wechseln. Ich trete hier und heute vom Radsport zurück“
Das Blitzlichtgewitter flutete auf. Damit hatten sie nicht gerechnet. Die grellen Blitze blendeten ihn. Er sah weiß.
Eine weiße Wand. Er starrte sie an. Es hingen ein paar Bilder an ihr, aber soweit reichte sein Blick gar nicht. Er hielt sich an ein paar Kratzern in der Wand fest. Der Arzt ihm gegenüber räusperte sich. Stefano fühlte sich wie ein kleiner Schuljunge, der zum Rektor musste. So kam er sich vor. Damals war auch immer seine Welt zusammen gebrochen, wenn er von seinen Eltern zwei Wochen Hausarrest bekam. Und nun zerbrach seine Welt ebenfalls. Ein Wort nur hatte es gebraucht.
„Glioblastom“
Es hatte ihn getroffen wie ein Vorschlaghammer. Er fühlte sich, wie als ob er auf einer Abfahrt die Kontrolle verloren hätte und gerade realisiert hatte, dass er sich hinlegen würde. Es war dieser Moment der Schwerelosigkeit: Die Hormone rasten durch seine Blutbahn, die Zeit zog sich schier endlos hin. Man hatte alle Zeit zu realisieren, dass man sich vermutlich alles brechen würde, aber doch keine Chance, es noch zu ändern. Dieser schale Geschmack im Mund, dieses Brennen im Magen. Er hörte sein Blut durch seine Ohren rauschen.
„Die 5-Jahres-Überlebensrate liegt unter 2 %“
„Bösartiger Hirntumor“
Das waren die Sätze, die ihm den Atem raubten. Er wagte nicht zu atmen. Wie ein Blitz schoss der Gedanke durch seinen Kopf: Armstrong hat es geschafft, dann schaffst du es erst Recht. Aber er traute sich nicht einmal, den Arzt darauf anzusprechen. 2 %. Das war wirklich wenig. Er war tot. Er lag nicht im Sterben. Sein Todesurteil war gesprochen, es musste nur noch vollzogen werden.
Der Stapel an Fallbeispielen, die der Arzt ihm mitgab, reizte ihn nicht einmal mehr zu einem müden Lächeln. Sein Fallbeispiel entstand vor seinen Augen: Paris-Roubaix hatte er bereits gewonnen. Und in drei Tagen konnte er in Lüttich triumphieren. Fallbeispiel.
„Verstehst du? Es war immer mein Leben, Rad zu fahren, zu gewinnen. Ich meine: Wenn ich gesund wäre, was würde ich tuen, wenn ich morgen gewinnen würde? Ich würde mich den Rest meiner Tage langweilen. Ich könnte nur noch wiederholen, was ich ohnehin schon geschafft habe.
Morgen endet mein Leben, auch ohne den Krebs. Ich habe mein Ziel erreicht. Was soll ich mich da bitteschön noch operieren lassen und an eine irre 2 % Chance glauben?“
„Die Ärzte geben mir noch einen Monat, vielleicht ein halbes Jahr. Es ist mehr als fraglich, ob ich es noch erleben werde, wie das Weltmeistertrikot einen neuen Besitzer findet. Ich werde keine Therapie beginnen. Eigentlich sollte ich gestern operiert werden, aber ich habe abgelehnt. Dieses Rennen heute war mein Abschied. Mein Abschied von der Welt. Mein Leben ist der Radsport, und dieses Leben habe ich erfüllt“
Die Schwester schob ihn hinaus, hinaus an die frische Luft. Die Infusionsnadel in seinem Arm, den Rollstuhl unter sich blickte er hinaus auf das Meer. Er war in Italien und genoss hier, so gut es ging, sein Ende. Der Zorn, die Wut über seinen unausweichlichen Tod, welche ihn zu seinem Triumph in Lüttich geführt hatte, war erloschen. Er hatte akzeptiert. Sicherlich hätte er gerne noch versucht, eine Etappe bei der Tour zu gewinnen. Eine Frau zu finden. Eine Familie zu gründen. Er hatte viele Pläne gehabt, die der Krebs zunichte gemacht hatte. Aber ihm blieb sein erfüllter Plan, sein gelebter Traum.
Er hatte noch vier Wochen.
geschrieben von Julian Peters, 3/4. Juni 2008