Verfasst: 12.3.2009 - 22:28
15.3.2008 (Cannes) – Das wird ne enge Kiste:
Neun Bergwertungen und 200 Kilometer – die siebente Etappe zwischen Sisteron und Cannes versprach nichts Gutes, war über weite Strecken dann aber doch das angenehmste Teilstück der gesamten Fernfahrt. Denn heute machte das Rennen zur Sonne seinem Namen endlich alle Ehre: 25 Grad und strahlend blauer Himmel erwarteten uns an der Cote d’Azur und bereits auf dem Weg dorthin schickte uns die Sonne ein paar Strahlen entgegen. Es hätte eine lange, aber wunderschöne Radtour werden können, wenn da nicht diese Verpflichtung gewesen wäre, erneut ein gutes Ergebnis zu erzielen.
Fred hatte sich gestern für uns aufgeopfert und heute mussten wir alle Dankbarkeit zeigen, indem wir die Gesamtführung mit aller Kraft verteidigten. Einzig der Held von gestern durfte sich heute etwas ausruhen und musste nicht für Tempo sorgen. Doch schon bald wurde deutlich, dass nicht alle im Team fähig waren, das Peloton anzuführen. Michael Creed, Brock Curry und Doug Ollerenshaw hatten mit den Anstrengungen der letzten Tage genauso zu kämpfen wie Fred Rodriguez und so verringerte sich die Zahl der zur Verfügung stehenden Rock-Racer ausgerechnet zu Beginn der heißen Phase, am siebenten von neun Anstiegen, um vier. Nur Mario Cipollini und Cesar Grajales konnten Tyler und mir von diesem Moment, gute 70 Kilometer vor Cannes, noch zur Seite stehen. Mario kümmerte sich um die Verpflegung und Cesar kontrollierte das Tempo an der Spitze des Feldes. Doch allein war er eigentlich chancenlos. Die anderen Teams konnten machen was sie wollten und es wurde offensichtlich, dass wir heute angreifbar waren.
Die Ausreißer des Tages, eine neunköpfige Spitzengruppe um George Hincapie und den ProTour-Spitzenreiter Gomez Gomez von Scott, hatten den Col de Bourrigaille mit neun Minuten Vorsprung in Angriff genommen und es war unser Glück, dass Hincapie deren 13 hinter Tyler zurück lag. Heute hätten wir ernsthafte Probleme gehabt, das Trikot gegen einen gefährlichen Ausreißer zu verteidigen. Doch so war die Lage bis zum letzten Berg überschaubar: Tyler und ich versuchten unsere Konkurrenten im Auge zu behalten, während Cesar und Mario die Arbeit machten. Wir warteten auf die erste Attacke und waren erleichtert, dass sich die Anderen bis zum Col du Tanneron, von dessen Gipfel es nur noch knapp 20 Kilometer ins Ziel sein würden, mit Tempoverschärfungen zurück hielten. An der Spitze war aus der Neuner-Gruppe ein Trio geworden, dem neben Hincapie der Italiener Alessandro Vanotti und der Australier Simon Gerrans angehörten. Die drei hatten ihre sechs Begleiter einen nach dem Anderen abgeschüttelt und radelten nun gemeinsam mit einem immer noch beruhigenden Polster den Tanneron hinauf. Während wir uns hinten im Feld belauerten, entstand vorn ein regelrechtes Ausscheidungsfahren, das Gerrans letztlich für sich entschied. Er hatte scheinbar die meisten Kraftreserven und musste nicht mal attackieren um sich kurz vor der Bergwertung am Tanneron von Hincapie und Vanotti abzusetzen. Er blieb im Sattel und ließ die beiden einfach stehen. Gerrans überquerte die Bergwertung als Erster und stürzte sich allein in die Abfahrt zum Ziel. Er sah wie der sichere Sieger aus.
Doch auch bei uns im Feld waren nun Angriffe zu erwarten. Wir konnten das Tempo nicht so problemlos kontrollieren wie noch am Mont Ventoux und standen nun quasi ohne Verteidigungsreihe an der Front. Mario konnte schon seit einigen Minuten nichts mehr für uns tun und auch Cesar verabschiedete sich vier Kilometer vor dem Gipfel. Tyler und ich waren allein in einem rund 50 Mann umfassenden Feld, das sich so nervös verhielt wie ein aufgescheuchter Bienenschwarm. Und dann begann der Großangriff auf unser Gelbes Trikot. Spätestens jetzt wurde aus der gemütlichen Frühlings-Radtour bei traumhaftem Wetter die Hölle auf Erden. Ständig trat irgendwo ein anderer gefährlicher Konkurrent an und ständig musste ich mit Tyler am Hinterrad die Lücken schließen. Bestimmt zehn Mal schoss einer an mir vorbei und genau so oft musste auch ich aus dem Sattel gehen und mit aller Kraft hinterher spurten. Die letzten Meter zur Bergwertung kamen mir wie eine Erlösung vor und als wir über die Kuppe jagten atmete ich, in der Hoffnung, dass es vorbei sei, tief durch. Aber selbst während der Abfahrt ging es weiter. Janez Brajkovic und Juan Jose Cobo Acebo gingen volles Risiko und versuchten uns erneut abzuhängen. Es gab keine Verschnaufpause. Jede Gerade musste ich nutzen um mit voller Kraft in die Pedale zu treten und die auf Grund niedrigerer Risikofreude verlorene Zeit aus den letzten Kurven wieder gut zu machen. Wir erreichten schließlich die Mittelmeer-Küste, bogen nach links auf eine größere Hauptstraße ab und konnten Cannes bereits sehen. Cobo und Brajkovic waren in die Gruppe zurück gekehrt und für einen kurzen Moment kehrte Ruhe ein. Ich blickte mich um, zählte rund 20 Helme und war glücklich, mit Tyler noch dabei zu sein. Die Ruhe allerdings war nicht von langer Dauer. Kaum hatten sich alle nach der Abfahrt wieder orientiert und sich einen Überblick über die Rennsituation verschafft, da begann Teil zwei des Großangriffs auf Gelb.
Sylvain Chavanel, der Franzose im Grünen Trikot des Punktbesten, eröffnete den Angriffs-Reigen und sofort flog die Gruppe außeinander. Während einige Fahrer noch hinterher springen konnten, waren andere völlig am Ende. Ihre Beine gaben nichts mehr her und ein erneuter Antritt würde sie zur endgültigen Explosion bringen. Zu dieser Gruppe gehörte auch ich. Ich rief Tyler zu, dass ich „am Ende“ sei und versuchte dann mit gleichmäßigem Tempo einigermaßen in Schlagdistanz zu bleiben. Vielleicht bestand ja noch die Chance, dass sich die Gruppe wieder beruhigte und ich mit den anderen abgehängten zurück kommen konnte. Tyler hingegen schaffte gerade so den Anschluss und kämpfte verbissen weiter um sein Trikot.
Einige hundert Meter später holten wir George Hincapie und Alessandro Vanotti ein und die zwei reihten sich in unseren Kreisel ein. Das Schreckliche an der Situation war, dass die Tatsache, dass die zwei Ausreißer unser Tempo noch mitgehen konnten, dafür sprach, dass wir nicht schnell genug waren um den Rückstand nach vorn nochmal zu verkleinern. Wir waren chancenlos gegen die unwiderstehliche Kraft von Sylvain Chavanel, Carlos Sastre, Stijn Devolder, Janez Brajkovic, Iban Mayo und Tyler. Das Quintett jagte dem Ziel entgegen und Tyler erzählte mir später, dass er permanent über dem Limit war. Er wüsste nicht, wie er es geschafft hat, sich immer wieder fest zu beißen. Sein unglaublicher Wille hat ihn wohl einmal mehr vor der Niederlage bewahrt – wie damals, als er vor fünf Jahren bei der Tour de France trotz gebrochenen Schlüsselbeins eine Etappe gewann und Gesamtvierter wurde. Der „härteste Moment“, so Tyler, sei gewesen, als rund 800 Meter vor dem Ziel plötzlich Simon Gerrans vor ihnen auftauchte. Die Möglichkeit dem Australier den Etappensieg noch weg zu schnappen schien Tylers Begleiter nochmal aufs Neue anzustacheln und so erfolgte ein weiterer Attackenhagel, an dessen Ende Stijn Devolder es tatsächlich schaffte, sich etwas abzusetzen.
Ausgerechnet Devolder - der zweite der Gesamtwertung, dessen Rückstand auf Tyler lediglich sieben Sekunden betrug. Der belgische Meister jagte dem Ziel entgegen, passierte die 300 Meter Marke mit einer Lücke von etwa 20 Metern und kam immer näher an Gerrans heran. Es war klar, dass der Quick-Step-Mann Gelb übernehmen würde, wenn er sich die sechs Sekunden Zeitgutschrift für den Etappensieg holen und mit einem kleinen Vorsprung ins Ziel sprinten konnte. Tyler holte das Letzte aus seinen Beinen heraus und konnte von Glück reden, dass auch Brajkovic, Sastre, Chavanel und Mayo die Etappe noch nicht aufgegeben hatten. In ihrem Windschatten hielt er den Anschluss und gemeinsam kamen sie auf den letzten 150 Metern tatsächlich nochmal näher an Devolder heran. Der Belgier wurde immer langsamer. Seine Kräfte waren am Ende und die Beine gaben scheinbar endgültig den Geist auf. Es sah aus, als würde er einen steilen Berg hinauf sprinten, dabei war die Zielgerade topfeben. Devolder schaffte es nicht Gerrans abzufangen und wurde auf den letzten Metern sogar von seinen vier Verfolgern wieder eingeholt. Was für ein Finale! Stijn Devolder wurde vor Carlos Sastre Etappenzweiter, holte sich vier Bonussekunden und rückte somit bis auf drei Sekunden an Tyler heran – heran, aber eben nicht vorbei. Tyler rettete das Gelbe Trikot mit einem atemberaubenden Kraftakt auf den letzten fünf Kilometern einer wahnsinnig spannenden Etappe. Der Mann des Tages aber hieß Simon Gerrans. Er hatte sich bei Kilometer zehn mit acht Kameraden auf den Weg gemacht, 190 Kilometer an der Spitze absolviert und am Ende um haaresbreite den verdienten Lohn eingestrichen. Ein großartiger Etappensieg!
Ich selbst kam 34 Sekunden später mit der ersten Verfolgergruppe als 19. ins Ziel. Dadurch konnte ich mich immerhin auf dem siebenten Gesamtplatz halten und, was mir noch wichtiger ist, vor allem das Weiße Trikot verteidigen. Remi Pauriol liegt weiterhin 27 Sekunden hinter mir und Janez Brajkovic hat 30 Sekunden Rückstand. Morgen wird es auf 131 Kilometern rund um Nizza und über vier Bergwertungen also auch für mich persönlich nochmal sehr spannend. Ich werde mit aller Macht versuchen, das Trikot zu verteidigen. Aber der winzige Vorsprung von Tyler gegenüber Devolder könnte auch bedeuten, dass ich noch mehr Kräfte für meinen Kapitän opfern muss. Devolder darf schließlich auf keinen Fall auch nur ein paar Meter vor Tyler die Ziellinie überqueren.
Ergebnis - 7. Etappe Paris-Nizza:
1 Simon Gerrans Credit Agricole 5h06'09
2 Stijn Devolder Quickstep s.t.
3 Carlos Sastre Team CSC - Saxo Bank s.t.
4 Janez Brajkovic Astana Cycling Team s.t.
5 Sylvain Chavanel Cofidis, le Credit Par Telephone s.t.
6 Tyler Hamilton Rock Racing s.t.
7 Iban Mayo Euskaltel - Euskadi s.t.
8 Sylvester Szmyd Lampre + 34
9 Joaquin Rodriguez Oliver Caisse d'Epargne s.t.
10 Rémi Pauriol Credit Agricole s.t.
...
19 Rot Rigo Rock Racing s.t.
Gesamtwertung - Paris-Nizza:
1 Tyler Hamilton Rock Racing 27h43'15
2 Stijn Devolder Quickstep + 3
3 Sylvain Chavanel Cofidis, le Credit Par Telephone + 12
4 Carlos Sastre Team CSC - Saxo Bank + 26
5 Iban Mayo Euskaltel - Euskadi + 29
6 Kim Kirchen Team Columbia + 43
7 Rot Rigo Rock Racing + 48
8 Juan José Cobo Acebo Scott - American Beef + 1'00
9 Michael Rasmussen Rabobank + 1'05
10 Sylvester Szmyd Lampre + 1'08
U25-Wertung - Paris-Nizza:
1 Rot Rigo Rock Racing 27h44'03
2 Rémi Pauriol Credit Agricole + 27
3 Janez Brajkovic Astana Cycling Team + 30
Punktewertung - Paris-Nizza:
1 Sylvain Chavanel Cofidis, le Credit Par Telephone 82
2 Stijn Devolder Quickstep 78
3 Thor Hushovd Credit Agricole 64
Bergwertung - Paris-Nizza:
1 George Hincapie Team Columbia 66
2 Alessandro Vanotti Liquigas 33
3 Simon Gerrans Credit Agricole 31
Wie schon gestern, hat unsere Iberen-Truppe auch heute wieder etwas zu feiern gehabt. Santiago Botero gewann das Einzelzeitfahren der viertägigen Santarem-Rundfahrt mit einer Sekunde Vorsprung vor Sebastien Joly und ist dadurch auf den zweiten Gesamtrang vor gerutscht. Da das morgige letzte Teilstück dort topfeben sein wird, sollte er die Position wohl auch halten können. Zwei Etappensiege und eine Podiumsplatzierung in der Gesamtwertung – was willst du mehr ASO?
Ergebnis - 3. Etappe Santarem-Rundfahrt:
1 Santiago Botero Rock Racing 26'06
2 Sébastien Joly Francaise Des Jeux + 1
3 David Herrero Llorente Karpin - Galicia + 3
4 Florent Brard Cofidis, le Credit Par Telephone + 4
5 Victor Hugo Pena Rock Racing + 9
Gesamtwertung - Santarem-Rundfahrt:
1 David Herrero Llorente Karpin - Galicia 9h23'21
2 Santiago Botero Rock Racing + 9
3 Sébastien Joly Francaise Des Jeux + 10
4 Victor Hugo Pena Rock Racing + 12
5 Florent Brard Cofidis, le Credit Par Telephone + 13
Rock-Racing-Victory-Counter: 16
Neun Bergwertungen und 200 Kilometer – die siebente Etappe zwischen Sisteron und Cannes versprach nichts Gutes, war über weite Strecken dann aber doch das angenehmste Teilstück der gesamten Fernfahrt. Denn heute machte das Rennen zur Sonne seinem Namen endlich alle Ehre: 25 Grad und strahlend blauer Himmel erwarteten uns an der Cote d’Azur und bereits auf dem Weg dorthin schickte uns die Sonne ein paar Strahlen entgegen. Es hätte eine lange, aber wunderschöne Radtour werden können, wenn da nicht diese Verpflichtung gewesen wäre, erneut ein gutes Ergebnis zu erzielen.
Fred hatte sich gestern für uns aufgeopfert und heute mussten wir alle Dankbarkeit zeigen, indem wir die Gesamtführung mit aller Kraft verteidigten. Einzig der Held von gestern durfte sich heute etwas ausruhen und musste nicht für Tempo sorgen. Doch schon bald wurde deutlich, dass nicht alle im Team fähig waren, das Peloton anzuführen. Michael Creed, Brock Curry und Doug Ollerenshaw hatten mit den Anstrengungen der letzten Tage genauso zu kämpfen wie Fred Rodriguez und so verringerte sich die Zahl der zur Verfügung stehenden Rock-Racer ausgerechnet zu Beginn der heißen Phase, am siebenten von neun Anstiegen, um vier. Nur Mario Cipollini und Cesar Grajales konnten Tyler und mir von diesem Moment, gute 70 Kilometer vor Cannes, noch zur Seite stehen. Mario kümmerte sich um die Verpflegung und Cesar kontrollierte das Tempo an der Spitze des Feldes. Doch allein war er eigentlich chancenlos. Die anderen Teams konnten machen was sie wollten und es wurde offensichtlich, dass wir heute angreifbar waren.
Die Ausreißer des Tages, eine neunköpfige Spitzengruppe um George Hincapie und den ProTour-Spitzenreiter Gomez Gomez von Scott, hatten den Col de Bourrigaille mit neun Minuten Vorsprung in Angriff genommen und es war unser Glück, dass Hincapie deren 13 hinter Tyler zurück lag. Heute hätten wir ernsthafte Probleme gehabt, das Trikot gegen einen gefährlichen Ausreißer zu verteidigen. Doch so war die Lage bis zum letzten Berg überschaubar: Tyler und ich versuchten unsere Konkurrenten im Auge zu behalten, während Cesar und Mario die Arbeit machten. Wir warteten auf die erste Attacke und waren erleichtert, dass sich die Anderen bis zum Col du Tanneron, von dessen Gipfel es nur noch knapp 20 Kilometer ins Ziel sein würden, mit Tempoverschärfungen zurück hielten. An der Spitze war aus der Neuner-Gruppe ein Trio geworden, dem neben Hincapie der Italiener Alessandro Vanotti und der Australier Simon Gerrans angehörten. Die drei hatten ihre sechs Begleiter einen nach dem Anderen abgeschüttelt und radelten nun gemeinsam mit einem immer noch beruhigenden Polster den Tanneron hinauf. Während wir uns hinten im Feld belauerten, entstand vorn ein regelrechtes Ausscheidungsfahren, das Gerrans letztlich für sich entschied. Er hatte scheinbar die meisten Kraftreserven und musste nicht mal attackieren um sich kurz vor der Bergwertung am Tanneron von Hincapie und Vanotti abzusetzen. Er blieb im Sattel und ließ die beiden einfach stehen. Gerrans überquerte die Bergwertung als Erster und stürzte sich allein in die Abfahrt zum Ziel. Er sah wie der sichere Sieger aus.
Doch auch bei uns im Feld waren nun Angriffe zu erwarten. Wir konnten das Tempo nicht so problemlos kontrollieren wie noch am Mont Ventoux und standen nun quasi ohne Verteidigungsreihe an der Front. Mario konnte schon seit einigen Minuten nichts mehr für uns tun und auch Cesar verabschiedete sich vier Kilometer vor dem Gipfel. Tyler und ich waren allein in einem rund 50 Mann umfassenden Feld, das sich so nervös verhielt wie ein aufgescheuchter Bienenschwarm. Und dann begann der Großangriff auf unser Gelbes Trikot. Spätestens jetzt wurde aus der gemütlichen Frühlings-Radtour bei traumhaftem Wetter die Hölle auf Erden. Ständig trat irgendwo ein anderer gefährlicher Konkurrent an und ständig musste ich mit Tyler am Hinterrad die Lücken schließen. Bestimmt zehn Mal schoss einer an mir vorbei und genau so oft musste auch ich aus dem Sattel gehen und mit aller Kraft hinterher spurten. Die letzten Meter zur Bergwertung kamen mir wie eine Erlösung vor und als wir über die Kuppe jagten atmete ich, in der Hoffnung, dass es vorbei sei, tief durch. Aber selbst während der Abfahrt ging es weiter. Janez Brajkovic und Juan Jose Cobo Acebo gingen volles Risiko und versuchten uns erneut abzuhängen. Es gab keine Verschnaufpause. Jede Gerade musste ich nutzen um mit voller Kraft in die Pedale zu treten und die auf Grund niedrigerer Risikofreude verlorene Zeit aus den letzten Kurven wieder gut zu machen. Wir erreichten schließlich die Mittelmeer-Küste, bogen nach links auf eine größere Hauptstraße ab und konnten Cannes bereits sehen. Cobo und Brajkovic waren in die Gruppe zurück gekehrt und für einen kurzen Moment kehrte Ruhe ein. Ich blickte mich um, zählte rund 20 Helme und war glücklich, mit Tyler noch dabei zu sein. Die Ruhe allerdings war nicht von langer Dauer. Kaum hatten sich alle nach der Abfahrt wieder orientiert und sich einen Überblick über die Rennsituation verschafft, da begann Teil zwei des Großangriffs auf Gelb.
Sylvain Chavanel, der Franzose im Grünen Trikot des Punktbesten, eröffnete den Angriffs-Reigen und sofort flog die Gruppe außeinander. Während einige Fahrer noch hinterher springen konnten, waren andere völlig am Ende. Ihre Beine gaben nichts mehr her und ein erneuter Antritt würde sie zur endgültigen Explosion bringen. Zu dieser Gruppe gehörte auch ich. Ich rief Tyler zu, dass ich „am Ende“ sei und versuchte dann mit gleichmäßigem Tempo einigermaßen in Schlagdistanz zu bleiben. Vielleicht bestand ja noch die Chance, dass sich die Gruppe wieder beruhigte und ich mit den anderen abgehängten zurück kommen konnte. Tyler hingegen schaffte gerade so den Anschluss und kämpfte verbissen weiter um sein Trikot.
Einige hundert Meter später holten wir George Hincapie und Alessandro Vanotti ein und die zwei reihten sich in unseren Kreisel ein. Das Schreckliche an der Situation war, dass die Tatsache, dass die zwei Ausreißer unser Tempo noch mitgehen konnten, dafür sprach, dass wir nicht schnell genug waren um den Rückstand nach vorn nochmal zu verkleinern. Wir waren chancenlos gegen die unwiderstehliche Kraft von Sylvain Chavanel, Carlos Sastre, Stijn Devolder, Janez Brajkovic, Iban Mayo und Tyler. Das Quintett jagte dem Ziel entgegen und Tyler erzählte mir später, dass er permanent über dem Limit war. Er wüsste nicht, wie er es geschafft hat, sich immer wieder fest zu beißen. Sein unglaublicher Wille hat ihn wohl einmal mehr vor der Niederlage bewahrt – wie damals, als er vor fünf Jahren bei der Tour de France trotz gebrochenen Schlüsselbeins eine Etappe gewann und Gesamtvierter wurde. Der „härteste Moment“, so Tyler, sei gewesen, als rund 800 Meter vor dem Ziel plötzlich Simon Gerrans vor ihnen auftauchte. Die Möglichkeit dem Australier den Etappensieg noch weg zu schnappen schien Tylers Begleiter nochmal aufs Neue anzustacheln und so erfolgte ein weiterer Attackenhagel, an dessen Ende Stijn Devolder es tatsächlich schaffte, sich etwas abzusetzen.
Ausgerechnet Devolder - der zweite der Gesamtwertung, dessen Rückstand auf Tyler lediglich sieben Sekunden betrug. Der belgische Meister jagte dem Ziel entgegen, passierte die 300 Meter Marke mit einer Lücke von etwa 20 Metern und kam immer näher an Gerrans heran. Es war klar, dass der Quick-Step-Mann Gelb übernehmen würde, wenn er sich die sechs Sekunden Zeitgutschrift für den Etappensieg holen und mit einem kleinen Vorsprung ins Ziel sprinten konnte. Tyler holte das Letzte aus seinen Beinen heraus und konnte von Glück reden, dass auch Brajkovic, Sastre, Chavanel und Mayo die Etappe noch nicht aufgegeben hatten. In ihrem Windschatten hielt er den Anschluss und gemeinsam kamen sie auf den letzten 150 Metern tatsächlich nochmal näher an Devolder heran. Der Belgier wurde immer langsamer. Seine Kräfte waren am Ende und die Beine gaben scheinbar endgültig den Geist auf. Es sah aus, als würde er einen steilen Berg hinauf sprinten, dabei war die Zielgerade topfeben. Devolder schaffte es nicht Gerrans abzufangen und wurde auf den letzten Metern sogar von seinen vier Verfolgern wieder eingeholt. Was für ein Finale! Stijn Devolder wurde vor Carlos Sastre Etappenzweiter, holte sich vier Bonussekunden und rückte somit bis auf drei Sekunden an Tyler heran – heran, aber eben nicht vorbei. Tyler rettete das Gelbe Trikot mit einem atemberaubenden Kraftakt auf den letzten fünf Kilometern einer wahnsinnig spannenden Etappe. Der Mann des Tages aber hieß Simon Gerrans. Er hatte sich bei Kilometer zehn mit acht Kameraden auf den Weg gemacht, 190 Kilometer an der Spitze absolviert und am Ende um haaresbreite den verdienten Lohn eingestrichen. Ein großartiger Etappensieg!
Ich selbst kam 34 Sekunden später mit der ersten Verfolgergruppe als 19. ins Ziel. Dadurch konnte ich mich immerhin auf dem siebenten Gesamtplatz halten und, was mir noch wichtiger ist, vor allem das Weiße Trikot verteidigen. Remi Pauriol liegt weiterhin 27 Sekunden hinter mir und Janez Brajkovic hat 30 Sekunden Rückstand. Morgen wird es auf 131 Kilometern rund um Nizza und über vier Bergwertungen also auch für mich persönlich nochmal sehr spannend. Ich werde mit aller Macht versuchen, das Trikot zu verteidigen. Aber der winzige Vorsprung von Tyler gegenüber Devolder könnte auch bedeuten, dass ich noch mehr Kräfte für meinen Kapitän opfern muss. Devolder darf schließlich auf keinen Fall auch nur ein paar Meter vor Tyler die Ziellinie überqueren.
Ergebnis - 7. Etappe Paris-Nizza:
1 Simon Gerrans Credit Agricole 5h06'09
2 Stijn Devolder Quickstep s.t.
3 Carlos Sastre Team CSC - Saxo Bank s.t.
4 Janez Brajkovic Astana Cycling Team s.t.
5 Sylvain Chavanel Cofidis, le Credit Par Telephone s.t.
6 Tyler Hamilton Rock Racing s.t.
7 Iban Mayo Euskaltel - Euskadi s.t.
8 Sylvester Szmyd Lampre + 34
9 Joaquin Rodriguez Oliver Caisse d'Epargne s.t.
10 Rémi Pauriol Credit Agricole s.t.
...
19 Rot Rigo Rock Racing s.t.
Gesamtwertung - Paris-Nizza:
1 Tyler Hamilton Rock Racing 27h43'15
2 Stijn Devolder Quickstep + 3
3 Sylvain Chavanel Cofidis, le Credit Par Telephone + 12
4 Carlos Sastre Team CSC - Saxo Bank + 26
5 Iban Mayo Euskaltel - Euskadi + 29
6 Kim Kirchen Team Columbia + 43
7 Rot Rigo Rock Racing + 48
8 Juan José Cobo Acebo Scott - American Beef + 1'00
9 Michael Rasmussen Rabobank + 1'05
10 Sylvester Szmyd Lampre + 1'08
U25-Wertung - Paris-Nizza:
1 Rot Rigo Rock Racing 27h44'03
2 Rémi Pauriol Credit Agricole + 27
3 Janez Brajkovic Astana Cycling Team + 30
Punktewertung - Paris-Nizza:
1 Sylvain Chavanel Cofidis, le Credit Par Telephone 82
2 Stijn Devolder Quickstep 78
3 Thor Hushovd Credit Agricole 64
Bergwertung - Paris-Nizza:
1 George Hincapie Team Columbia 66
2 Alessandro Vanotti Liquigas 33
3 Simon Gerrans Credit Agricole 31
Wie schon gestern, hat unsere Iberen-Truppe auch heute wieder etwas zu feiern gehabt. Santiago Botero gewann das Einzelzeitfahren der viertägigen Santarem-Rundfahrt mit einer Sekunde Vorsprung vor Sebastien Joly und ist dadurch auf den zweiten Gesamtrang vor gerutscht. Da das morgige letzte Teilstück dort topfeben sein wird, sollte er die Position wohl auch halten können. Zwei Etappensiege und eine Podiumsplatzierung in der Gesamtwertung – was willst du mehr ASO?
Ergebnis - 3. Etappe Santarem-Rundfahrt:
1 Santiago Botero Rock Racing 26'06
2 Sébastien Joly Francaise Des Jeux + 1
3 David Herrero Llorente Karpin - Galicia + 3
4 Florent Brard Cofidis, le Credit Par Telephone + 4
5 Victor Hugo Pena Rock Racing + 9
Gesamtwertung - Santarem-Rundfahrt:
1 David Herrero Llorente Karpin - Galicia 9h23'21
2 Santiago Botero Rock Racing + 9
3 Sébastien Joly Francaise Des Jeux + 10
4 Victor Hugo Pena Rock Racing + 12
5 Florent Brard Cofidis, le Credit Par Telephone + 13
Rock-Racing-Victory-Counter: 16