14.4.2004 Teil 2 – Aragon-Rundfahrt:
Am Start standen heute Größen wie Joseba Beloki, Oscar Pereiro, Juan Miguel Mercado oder auch Alejandro Valverde. Das waren die Favoriten, so dass mir nichts anderes übrig blieb als mir das Ziel „Hauptfeld“ zu setzen. Ein Ziel, das heute für unser ganzes Team gelten sollte, zumal wir keinen einzigen wirklichen Kletterer an Bord hatten. Vom Start weg versuchte ich mich im vorderen Viertel des Feldes aufzuhalten. Denn wie ich bereits lernen musste werden zuerst die abgehängt, die hinten fahren. Abgehängt werden wollte ich sicher nicht!
Im Verlauf des ersten von drei großen und schweren Anstiegen fühlte ich mich immer besser. Ich konnte ohne Probleme vorne mitfahren und zwischenzeitlich sogar ein paar Worte mit Joseba Beloki wechseln – ein netter Typ der Spanier. Meine Erkältung schien wie weggeblasen und ich drehte mich nicht einmal um. Erst am Gipfel wagte ich einen Blick über die Schulter. Einen Blick, der mich schockte. Hinter mir war ein Loch! Die Spitze, in der ich mich noch immer aufhielt bestand schon jetzt nur noch aus etwa 25 Fahrern. Ich hatte nicht gemerkt, wie sich 80% des Feldes verabschieden mussten und ich hatte nicht gemerkt, dass ich der einzig verbliebene Gerolsteiner-Fahrer hier vorne war.
In der Abfahrt hatte ich dann nochmal Zeit mich etwas zu verpflegen und umzuschauen. Da waren unter anderem Mercado, Beloki, Pereiro, Valverde, Casero, Zülle und Valjavec an meiner Seite. Alles große Namen. Alles sogenannte „Favoriten“. Und ich? Ich war doch kein Favorit!
Auch Udo meldete sich in der Abfahrt erstmals über Funk: „Wie fühlst du dich, Rot?“
Mir blieb nichts anderes übrig als „Großartig“, zu antworten. Ich fühlte mich ja auch großartig. Die Halsschmerzen waren weg und ich fuhr auf einmal neben Joseba Beloki Berge hinauf. Der hat immerhin schon den zweiten Platz bei der Tour de France belegt!
Im nächsten Anstieg war Rennhalbzeit. Die Favoriten erhöhten jetzt das Tempo und ich versuchte weiterhin neben Mercado und co kleben zu bleiben. Es klappte! Ein weiterer Blick nach hinten offenbarte mir, dass ich jetzt wohl dann doch zum Favorit geworden war. Wir waren nur noch zu sechst hier vorn. Jorge Ferrio (Paternina), Joseba, Pereiro, Valverde, Mercado und ich.
Ich glaube in diesem Moment habe ich gegrinst, obwohl meine Beine jetzt langsam anfingen etwas zu schmerzen. Ich biss auf die Zähne und blieb am Ende der Gruppe. Es waren viele Zuschauer am Streckenrand und dann passierte etwas dummes. Joseba Beloki lag am Boden. Der Spanier hatte sich in einem gelben Stoffbeutel eines Zuschauers verfangen und war zu Fall gekommen.
Zunächst blieb er liegen - das Zeichen für uns fünf nicht auf ihn zu warten – doch später hörte ich über Funk, dass er weitermachen konnte, wenngleich seine Siegchancen damit Baden gegangen waren. Immerhin: Er war nicht verletzt.
Ich wurde immer müder, doch ich wusste, dass ich jetzt nichts essen konnte. Essen im Anstieg kostet Zeit. Zeit die ich nicht hatte. Also kämpfte ich mich nach oben. Kurz vor dem Gipfel musste ich eine kleine Lücke reißen lassen, aber auch diese konnte ich in der Abfahrt wieder schließen.
Jetzt war Zeit zum essen und zum trinken bis die Attacken der anderen gehen würden. Ich nahm mir vor abzuwarten. Ein zu früher Angriff war mir zu gefährlich. Immerhin war ich hier der Außenseiter! Jorge Ferrio eröffnete am Fuß des Schlussanstiegs das Finale. Mit einer beherzten Attacke fuhr er uns davon. Keiner setzte nach. Die großen drei schauten sich nur dumm an. Ob das jetzt der richtige Zeitpunkt zum taktieren war?, dachte ich, blieb aber vorsichtshalber auch sitzen.
20 Kilometer vor dem Ziel hatte Ferrio 1’02 Vorsprung und wir wechselten uns hier hinten mit der Führung ab, allerdings wurde der Abstand nicht kleiner. Die letzten 5 Kilometer ins Ziel waren flach, das las ich aus dem Streckenprofil. Bis dahin sollten wir den Vorsprung schon recht klein gefahren haben, wenn wir Ferrio noch einholen wollten. Also verschärfte ich das Tempo etwas und erhöhte die Schlagzahl. Ich sah mich um und merkte, dass die anderen drei nicht sofort mitzogen. Konnten oder wollten sie nicht?
„Jetzt!“, schrie Udo durch den Funk. Ich verstand das als Aufforderung und ging aus dem Sattel. Wieder wurde das Loch hinter mir größer. Es setzten sich in mir ganz neue Kräfte frei und ich fühlte mich wie auf Droge, als ich vor mir Ferrio auftauchen sah. Es waren noch 6 Kilometer bis ins Ziel – 800 Meter bergauf – und ich hatte noch etwa 15 Sekunden Rückstand. Ich war schneller.
Das war spätestens an der Bergwertung klar, denn jetzt war ich dran. Ich hatte Ferrios Hinterrad erreicht und konnte kurz verschnaufen, zumal von Hinten kaum noch eine Gefahr drohte.
Doch vor lauter Adrenalin hielt es mich nicht lang im Sattel. Als ich die Flame Rouge sah konnte ich nicht mehr warten. Ich stiefelte von Ferrios Seite los und trat mit aller Kraft in die Pedale.
Erst 300 Meter vor dem Ziel guckte ich mich um. Ferrio war nicht am Hinterrad. Das Loch war groß genug. Es würde reichen. Ich riß die Arme hoch und rollte über den Zielstrich!
Sieg! Mein erster Sieg als Profi und das ausgerechnet 2000 Meter über dem Meer in einem Rennen gegen Valverde, Mercado und Pereiro! Wahnsinn!
Ergebnis:
1 Rot Rigo GEROLSTEINER 3h36'33
2 Jorge Ferrio COSTA DE ALMERIA - PATERNINA + 15
3 Alejandro Valverde COMUNIDAD VALENCIANA - KELME + 1'08
4 Oscar Pereiro PHONAK HEARING SYSTEMS s.t.
5 Juan Miguel Mercado QUICK STEP - DAVITAMON + 1'20
6 Joseba Beloki SAUNIER DUVAL + 3'18
7 Andrei Zintchenko MILANEZA - MAIA + 3'45
8 Dariusz Baranowski LIBERTY SEGUROS s.t.
9 David Bernabeu MILANEZA - MAIA s.t.
10 Nicolas Fritsch FDJEUX.COM s.t.
Mein erstes Gelbes Trikot!