Im siebten Himmel

FIKTIVE Radsport-Geschichten von Usern, die sich für schreibtalentiert halten

Moderator: Grabba

Andy92
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Beitrag: # 6793830Beitrag Andy92
26.10.2009 - 21:26

:D Danke für euer großes Interesse an der Fortsetzung, aber leider...nein, hier ist sie...

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„Jungs, was...?“ Ich erkannte die Stimme sofort, es war Melinda. Sie rammte die Tür in meinen Rücken, doch der Schmerz war nichts im Vergleich zu den Qualen, die in meinem Handgelenk tobten! Wahrscheinlich war es jetzt für immer und ewig in tausend Splitter zersprengt! Ich würde wohl nie wieder etwas in die linke Hand nehmen, geschweige denn Radfahren können! Und wer war daran Schuld? Sven. Er hatte mit seiner Sturheit und Naivität alles kaputt gemacht – nicht nur meine Hand, sondern auch, und das war noch viel schlimmer, unsere Freundschaft!
Melinda war plötzlich ganz still. „Oh, mein Gott“, stammelte sie plötzlich. Ich konnte nicht aufsehen und selbst nachschauen, was sie meinte, ich war viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Sven stand weiterhin regungslos über mir, machte außer seiner schweren Atmung keine Bewegung und war Mucksmäuschen still.
„Als ich vorhin vom Essen kam, hat man euer Geschrei und den ganzen Lärm schon zwei Gänge weiter gehört. Aber ich hätte nicht gedacht, dass es so schlimm ist – oh, Mann, was habt ihr denn da bloß gemacht? Was ist denn passiert? Ich versteh das nicht“, fügte sie mit völlig abwesender Stimme hinzu.
Es trat eine längere Pause ein – sie schien ihren Blick durchs Zimmer schweifen zu lassen. Doch ich wollte nur, dass wieder irgendjemand sprach. Das lenkte mich wenigstens ein bisschen von diesen Höllenqualen ab.
„Oh, Mann, Sven. Wer hat dich denn so zugerichtet?“, rief sie plötzlich. Er schüttelte kaum merklich den Kopf. Im selben Moment tropfte mir irgendeine Flüssigkeit auf die Stirn und ich wusste sofort, was es war. Sven hatte es nicht anders verdient, mehr konnte ich dazu nicht sagen. Hoffentlich blieb er für den Rest seines Lebens entstellt...
„So“, hallte der langgezogene, geschäftstüchtige Ruf von Alexander den Gang hinunter. Sven schaute auf, mir zog es sämtliche Eingeweide zusammen! Wenn der „Chef“ sah, was wir hier angerichtet hatten – er würde uns rauswerfen, mit Sicherheit! Dann war eh alles vorbei! Aus der Traum.
Ich spürte meinen Puls gegen meine Schläfe pochen, immer schneller, immer näher kamen sie, immer lauter wurden die Schritte, die sich mir einzeln in den die Erinnerung zu rammen schienen. Ich konnte das Unheil nicht aufhalten! Es kam auf mich zu und ich konnte nichts dagegen ausrichten!
Ich sah die Lawine schon auf mich zurasen, da jagte mir plötzlich ein Gedanke durch den Kopf. Gerade mal fünf Minuten nach unserem Kampf, saßen Sven und ich schon wieder im selben Boot. Es war erst wenige Augenblicke her, da prallten wir mit unseren Ansichten noch aneinander, jetzt hatten wir gemeinsame Interessen und das gleiche Ziel – wenn es überhaupt noch eines geben konnte.
Sven war außer sich vor Angst. Ich spürte es, weil es mir genauso erging und sah es im Augenwinkel. Gerade eben noch schwer atmend und völlig ohne Bewegung, starrte er jetzt zitternd und bebend auf die geöffnete Tür. Diese Zeitspanne, die in Melindas oder Alexanders Augen so unbedeutend erscheinen musste, war für uns zwei eine weitere Höllenqual von gefühlten zweitausend Jahren Dauer!
Ich vernahm das dumpfe Geräusch, als sich Alexanders Handfläche gegen die Tür lehnte und sie aufschob. „Sind wir mal wieder verschiedener Meinung – oder...?“, lachte er gut gelaunt. Doch er stockte als die Tür erneut auf meinen Rücken traf. Auch, wenn ich ihn nicht sehen konnte, so wusste ich doch genau, dass er verdutzt darüber war, warum die Tür nicht einmal um die Hälfte aufging, und er sich im Gegensatz zu Melinda regelrecht hineinzwängen musste – doch zuerst lugte er nur um die Ecke. Ich nahm seinen Kopf im Augenwinkel wahr. Es vergingen ein, zwei Sekunden, noch eine dritte, eine vierte...
„SEIT IHR WAHNSINNIG!?“, brüllte er und stieß die Tür mit so einer gewaltigen Wucht auf, wie sie nur ein Wütender, ein Zorniger entfalten konnte. Ich wurde in den Raum gedrückt und wälzte mich ein, zweimal auf dem Boden hin und her.
„VERDAMMT NOCHMAL! WAS HABT IHR MIT DEM ZIMMER GEMACHT!?...SVEN! ANDREAS! IHR! IHR…IHR KOMMT SOFORT MIT!”, schrie er, so wie ich ihn noch nie schreien gehört hatte. Und schon war er verschwunden. Die Wände schienen vom verbalen Erbeben noch wie gelähmt zu sein. Man hörte von den Gängen kein Laut, außer das leise und langsam verklingende Fluchen meines Mentors. Ich wischte mir die Tränen aus den Augen und versuchte mich aufzurichten. Melinda, mit kreidebleichem Gesicht – sie wirkte völlig konsterniert – eilte heran und half mir auf.
„Danke“, keuchte ich mit belegter Stimme. Ich räusperte mich, während sich Sven auf das Bett fallen lies und seufzte. Er fuhr sich übers Gesicht. Die Stille war allumfassend, als er seine blutverschmierten Hände betrachtete. Melinda warf ihm einen Blick zwischen Verachtung und Mitleid zu, machte jedoch keine Anstalten zu ihm hinüber zu gehen. Machte sie ihn dafür verantwortlich, dass ich schmerzverzerrt am Boden lag? Oder hatte sie von ihm ein bisschen mehr Beherrschung erwartet?
Sie wendete sich wieder mir zu und starrte mich kurz mit besorgte Miene an. Aus ihren Augen schöpfte ich einmal mehr, Hoffnung, Glück und Zuversicht. Plötzlich war ich davon überzeugt, dass Alexanders Reaktion gar nicht so schlimm ausfallen würde, wenn wir ihm nur schildern würden, warum und wie das alles zustande kam. Doch die Schmerzen in meinem Handgelenk konnte sie nicht stillen. Obwohl ich verzweifelt versuchte, es auf keinen Fall zu bewegen, was ich erschrocken feststellen musste, aktiv auch gar nicht mehr möglich war, fühlte es sich ständig so an, als würden tief im Inneren Knochen zu Mehl gemahlen werden. Es war ein markerschütterndes Gefühl und ich wusste nicht, wie lange ich es noch aushalten würde. Solange Melinda in der Nähe war, mit Sicherheit einige Minuten länger. Ihre schiere Anwesenheit linderte die Schmerzen bereits ein wenig, doch sie verschwanden leider wie gesagt nicht. Ich konnte sie nicht vergessen. Oder wollte mein Unterbewusstsein vor ihr nur den „starken Mann“ spielen?
„Zeig mal“, warf sie plötzlich ein und betastete meine linke Hand. Ihre war ganz warm und es fühlte sich jeden einzelnen Sekundenbruchteil so an, als ob sie heilende Kräfte besitze. Es war ein unbeschreiblich stark beruhigendes Gefühl und so lockerte ich den Griff meiner rechten Hand, die linke knickte leicht ein, und sofort jagte mir der Schmerz wieder durch alle Glieder!
„Ah! Ich muss dringend zum Arzt“, stöhnte ich, sie nickte.
„Komm mit Sven. Wie auch immer ihr euch so zurichten konntet, aber ihr müsst euch erst mal untersuchen lassen. Nicht das ihr euch noch Rippen gebrochen habt oder sonst was!“
Widerwillig, aber doch einsichtig richtete sich Sven auf und folgte uns in Richtung Alexanders Büro. Das Schlachtfeld, also das, was von der Zimmereinrichtung noch übrig geblieben war, ließen wir so zurück, wie es war. Nach dem großen Paukenschlag von Alexander zeigten sich wohl jetzt erst wieder die ersten Mitschüler auf dem Gang. Danilo war einer von ihnen, der uns über den Weg lief. Er schüttelte verständnislos den Kopf und setzte einen fragenden Gesichtsausdruck auf. Doch keiner von uns wechselte ein Wort mit ihm.
Alle schienen schon Wind von der Sache bekommen zu haben – ich schloss es aus ihren Reaktionen, wenn wir jemanden auf dem Gang trafen. Das war, wenn es stimmte, was Melinda gesagt hatte, wohl auch nicht zu überhören gewesen. Spätestens bei Alexanders Wutausbruch hatten es alle mitgekriegt.
Bevor wir zu Alexander ins Büro gingen, machten wir noch einen Abstecher zu den Toiletten, um uns wenigstens das Gesicht zu waschen. Sven und ich ignorierten uns, doch schon jetzt, bekam ich langsam aber sicher Gewissensbisse ihm gegenüber. Es tat mir fast schon Leid, was ich ihm angetan hatte und hätte mich am liebsten mit ihm vernünftig aussprechen wollen. Doch ich hatte bei weitem nicht den Mut dazu, das Wort zu ergreifen. Das sollte dann doch bitteschön schon er übernehmen. Ich hatte den Kampf ja von Anfang an vermeiden wollen – er war es gewesen, der die ständigen Provokationen nicht unterlassen hatte.

„Ich warte draußen“, nickte uns Melinda zu, als wir die Höhle des Löwen erreicht hatten. Ich nickte ihr zu, Sven verzog keine Miene und hielt den Blick starr auf die Tür gerichtet. Er seufzte kurz und ich holte tief Luft, bevor ich den ersten Schritt auf die Tür zu machte.
Doch plötzlich stach Isabel von Klavsen um die Ecke. Ihr Gesicht glühte vor Zorn und als sie uns erblickte, verzog sich ihre Miene zu einer schrecklichen Grimasse. Nein, wenn ich es genau nahm, dann verzog sie ihr Gesicht nicht, als sie uns erblickte, sondern als ihre Augen von Sven auf mich hinüberglitten.
„Jetzt reicht’s! Das war’s für dich!“, donnerte sie los. „Ich werde persönlich dafür sorgen, dass du hier endgültig hochkant rausfliegst! Das verspreche ich dir!“, rief sie erzürnt, und bevor ich realisierte, was gerade geschah, packte sie, zum Glück, meinen rechten Arm und zog mich auf die Bürotür zu...
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Andy92
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Beitrag: # 6793967Beitrag Andy92
28.10.2009 - 21:59

Alexander saß hinter seinem Schreibtisch und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Er stützte sich mit seinen Ellenbogen auf die makellose, im faden Tageslicht glänzende Tischplatte aus Glas. Er war nichts weiter als ein Häufchen Elend.
Endlos schien er in dieser Position zu verharren, dann hob er seinen Kopf ein wenig, fuhr sich mit den Handflächen übers Gesicht, seufzte und schüttelte fassungslos den Kopf, bevor er sich wieder in seine Ausgangsposition zurückbegab.
Sven und ich standen verlegen zwischen Tür und Tisch und warteten sehnsüchtig darauf, dass endlich einer der beiden etwas sagte. Doch weder Alexander noch Isabel, die gelangweilt zum Fenster schritt und einen Blick auf das wolkenverhangene Alpenpanorama warf, machten irgendwelche Anstalten das Wort zu ergreifen. Diese immerwährende Stille war schrecklich. Das Schweigen machte mich regelrecht verrückt. Schließlich überlegte ich schon, ob ich nicht etwas sagen solle, doch glücklicherweise war Isabel mittlerweile auch mit ihrer Geduld am Ende.
„Alexander – wird das heute noch was oder soll ich morgen noch mal kommen?“
„Lass mich bitte in Ruhe nachdenken“, war die seufzende, aber ruhige Antwort.
„Du hast sie jetzt lange genug angeschwiegen. Bis du dir was ausgedacht hast, ist ja die ganze Wirkung dahin. Gleich haben die beiden wieder vergessen, weswegen sie hier sind.“ Isabel lies nicht locker, sie wollte eine schnelle Entscheidung. „Obwohl – bei Andreas bin ich mir da nicht so sicher“, fügte sie noch in gehässigem Tonfall hinzu und lächelte in meine Richtung. Ich versuchte sie zu ignorieren.
„Bitte, Mutter! Ich versuche einen klaren Kopf zu bekommen. So schlecht ist die Sache mit dem Anschweigen gar nicht. Das einzige, was du gerade erreichst, ist, dass du uns unglaubwürdig machst. Und jetzt sei bitte still – ich muss mich konzentrieren. Subjektive Einschätzungen und überschäumende Emotionen bringen uns jetzt nicht viel weiter“, entgegnete Alexander genervt. Obwohl es im Grunde genommen nichts anderes zu erwarten gab, so war ich doch überrascht, wie loyal und gerecht Alexander offensichtlich zu sein versuchte.
„So, und jetzt zu euch. Meine erste Frage: Warum?“, fuhr er nach einer kurzen Pause fort. Plötzlich war meine Nervosität wie verflogen – Alexander versuchte wirklich ganz normal mit uns zu sprechen und suchte viel mehr nach einer Lösung des Problems, als uns fertig zu machen und damit den Hass noch weiter anzuschüren.
„Weil...“, riefen Sven und ich übereifrig. Zum ersten Mal trafen sich unsere Blicke, doch es blieb bei einem zufälligen Augenkontakt, nichts weiter. Es bestand nach wie vor eine gewisse Kälte und Distanz.
„Stopp, einer nach dem anderen“, warf Alexander ein und wies mit angestrengten, konzentriertem Blick auf mich.
Ich war überrascht, dass er mir den Vortritt überlies, überlegte aber sofort, was ich genau sagen sollte. Am besten fing ich nicht mit dem immer noch schmerzenden Handgelenk an – das hatte noch ein wenig Zeit, mittlerweile schien ich mich daran gewöhnt zu haben.
„Er will nicht glauben, dass meine Mutter völlig zu Recht aus der U-Haft entlassen worden ist und das Verfahren gegen sie genauso berechtigt eingestellt wurde“, antwortete ich so präzise und genau wie möglich.
Doch noch bevor die letzten Worte abgeklungen waren, wurde der Raum auch schon von einem schrillen Lachen Isabels erhellt. „Also, dazu sage ich jetzt nichts“, gab sie zynisch zum Besten.
„Musst du auch nicht“, entgegnete Alexander ohne sie eines Blickes zu würdigen. Er schaute Sven erwartungsvoll an.
„Na ja, du weißt wohl genau, was ich davon halte“, sagte er. Es hatte sich also nach wie vor nichts geändert. Immer noch hatte er die gleiche Meinung.
„Meinst du nicht, dass du Andreas Mutter Unrecht tust?“
„Nein. Es ist einfach so unwahrscheinlich, dass sich die Beweislast gegen sie auf einmal in Luft aufgelöst hat. Vor ein paar Wochen war sie noch so erdrückend und selbst Andreas hat ihr nicht geglaubt. Letzteres trifft jetzt wohl leider nicht mehr zu – ich versteh es einfach nicht und werde es wohl auch nie verstehen.“
„Hm, bist du dir da ganz sicher? Ich dachte ihr beiden wärt Freunde? Glaubst du deinem besten Freund nicht, Sven?“ Alexander provozierte, für meinen Geschmack, ein wenig zu heftig. Nachdem was ich in der letzten halben Stunde erlebt hatte, war mit Sven nicht zu spaßen. Anscheinend hatte er zu wenig Selbstbeherrschung und Bewusstsein, um solche Konfrontationen zu ertragen. Ich fragte mich, wie weit Alexander noch gehen würde...
„Seit heute habe ich keinen besten Freund mehr!“ Die Antwort traf mich wie ein Schlag – aber hatte ich tatsächlich etwas anderes erwartet? „Er ist immerhin auf mich losgegangen und...“
„Halt!“, unterbrach ihn Alexander. „Es interessiert mich überhaupt nicht, wer angefangen hat. Zu einem Streit und einer Prügelei gehören immer zwei – die Ursachen kann man nicht zurückverfolgen. Es ist völlig unerheblich, wer mit den Sticheleien, oder was auch immer, begonnen hat. Ich kann mir ehrlichgesagt nicht vorstellen, dass ihr euch nicht gegenseitig provoziert habt und ihr euch beide beherrschen konntet, sonst wäre es wohl nicht dazu gekommen, oder?“
Wir nickten beide kaum merklich – doch das Sven wirklich einsichtig war, konnte ich mir nicht vorstellen.
„Also...Allerdings ist es genau das, was wir uns hier nicht erlauben können. Ihr müsst es verdammt noch Mal lernen, euch zu beherrschen und einem handgreiflichen Streit aus dem Weg zu gehen! So was darf einfach nicht passieren – ihr seit alt genug! Und wie zumindest Sven gestern Abend gesehen hat, erwarte ich von euch auch ein angemessenes und erwachsenes verhalten und auftreten. Ich will aus euch Profis machen – ich will mit euch ein Team aufbauen, wenn ihr euch dann bei jeder privater Unstimmigkeit die Köpfe einschlagt und ein Zimmer dabei auseinanderlegt, dann fliegt ihr ganz einfach raus – verstanden? So etwas können wir uns nämlich auf keinen Fall erlauben, vor allem dann nicht, wenn ihr darauf hofft nächstes oder spätestens übernächstes Jahr in die Continental-Mannschaft zu kommen – Streithähne wie ihr zwei können wir dort wirklich nicht gebrauchen. Private Streitigkeiten wirken sich nämlich auch auf die Rennen aus und das wäre wirklich ärgerlich – wenn das so weiter geht, dann fahrt ihr nämlich bald gegeneinander, anstatt für- und miteinander. Das wäre nicht nur für das Team von äußerstem Nachteil, sondern auch für euch selbst. Ihr würdet mehr Energie in eure Streitigkeiten legen, als in euer Training und damit nicht in eure Weiterentwicklung...So, zu weit will ich das jetzt aber auch nicht ausführen. Aber ich hoffe ihr wisst, dass wir ein Eliteinternat sind und Erfolge feiern wollen und keine Hobbyfahrervereinigung sind – wir zielen auf Leistung ab, das dürfte euch mittlerweile aufgefallen sein. Deshalb schlage ich vor, dass ihr euren Streit so bald wie möglich beilegt und euch auf das Wesentliche konzentriert. Wir ihr das macht, überlasse ich euch selbst. Ihr sollt dabei ja auch noch etwas lernen. Aber diesmal beherrscht ihr euch und versucht das ganze sachlich zu klären, wie künftig bitte immer – so eine Aktion will ich nie wieder erleben, so reif werdet ihr ja wohl sein.“
Alexanders Ansprache hatte gesessen. Obwohl ich deutlich spürte, dass er richtig sauer auf uns war, hatte er sich trotzdem bemüht uns nicht einen Kopf kürzer zu machen und uns somit gleich ein Vorbild für seine Vorderrungen zu sein. Zwar hatte er uns dennoch einen Denkzettel verpasst, aber uns auch gleichzeitig ein bisschen aufgebaut. Doch eine Person schien die ganze Sache ein wenig anders zu sehen.
„Ich möchte dich nur daran erinnern, dass wir uns mit so einer ,Aussöhnung’ keinen Gefallen machen.“ Der Widerspruch kam vom Fenster. Isabel warf ihrem Sohn einen verständnislosen, ja fast zornigen Blick zu.
„Und wieso nicht?“, entgegnete Alexander etwas gereizt.
„Na, ganz einfach. Für Sven und alle anderen ist es doch äußerst beunruhigend, wenn ihnen tagtäglich der Sohn einer potentiellen Mörderin, oder vielleicht bald sogar sie selbst über den weg laufen. Ich würde es nicht verantworten, dass vor allem Sven, das äußerst belasten würde. Da hilft auch keine Schlichtung des Streits – die ständige Gewissheit eines nicht völlig angenehmen Umfelds wirkt sich wohl auch negativ auf sein Training aus. So viel werde ich wohl auch noch davon verstehen.“
„Und was schlägst du deshalb vor?“ Alexander schien von den Äußerungen seiner Mutter äußerst überrascht – ich weniger.
„Das liegt doch auf der Hand. Andreas ist für das Internet und das ganze Unternehmen nicht mehr tragbar. Irgendwann verplappert sich einer derjenigen, die von der Sache Wind bekommen haben, oder noch schlimmer, diejenigen, die nur Gerüchte aufgeschnappt haben, erzählen die Sache überall rum. Wenn das die Presse erfährt, dann haftet ein dunkler Fleck auf dem Internat – wir machen uns unglaubwürdig und unseriös. Die Folge wäre, dass uns einige Sponsoren abspringen würden. Und da die finanzielle Lage zurzeit sowieso nicht so rosig aussieht – unser ,Jungstar’ hat am Sponsorentag ja gefehlt“, sie zwinkerte sarkastisch lächelnd zu mir herüber, „und somit nicht dafür gesorgt, dass seine kostenlose Ausbildung und Förderung bei uns gerechtfertigt ist – würde ich vorschlagen, ich erinnere dich nur daran, dass zum 1.Januar der Vertrag einer der Hauptsponsoren ausläuft und wir bisher noch keinen Ersatz gefunden haben, was wir gestern durchaus hätten schaffen können, wenn wir geschlossen aufgetreten wären, was du vorhin ja ebenfalls gefordert hast“, wieder schickte sie eine liebgemeinte Botschaft zu mir herüber, „dass wir Andreas rausschmeißen, vor allem aus disziplinären Gründen.“
Ihre Forderung traf mich wie ein Hieb ins Gesicht! Es herrschte plötzlich Totenstille im Raum und gähnende Leere in meinem Kopf. Hatte Isabel da gerade tatsächlich ganz offensichtlich meinen Rauswurf gefordert? Und dann war ihre Argumentation auch noch so schlüssig, ja fast unwiderlegbar! Was wenn Alexander das plötzlich genauso sah? Seine Miene verriet nichts Gutes. Es schien, als verstünde er plötzlich Sachverhalte, die er zuvor gar nicht beachtet hätte. Er war schlichtweg beeindruckt von der Schlagfertigkeit seiner Mutter und ich von ihrem Hass. Und auch, wenn es mir gerade nicht viel einbrachte, begann ich genauso, sie wieder zu hassen. Doch dieser lähmte auch zugleich meine Zunge. Ich konnte ihr nichts entgegnen, ich konnte mich nicht verteidigen. Doch da schien sich Alexander wieder gefangen zu haben und ergriff das Wort.
„Langsam, langsam, Mutter. Wir sollten das ganze nicht überstürzen. Natürlich ist es ärgerlich, dass Andreas gestern keine Zeit hatte, aber ich persönlich kann seine Beweggründe voll und ganz verstehen. Außerdem glaube ich, dass sein fehlendes sportliches Potential bei einem Rauswurf mittlerweile zu große Lücken hinterlassen würde, als dass es in irgendeiner Weise von Nutzen wäre.“
Aber weiter kam er schon gar nicht mehr. „Hast du gesehen, was sie mit dem Zimmer gemacht haben? Und was er mit Sven gemacht hat?! So wie das für mich aussieht, hat er ihm die Nase gebrochen. Das ist doch...“
„Ich weiß – natürlich wird das disziplinäre Folgen haben, darauf wollte ich noch zu sprechen kommen. Aber ein Rauswurf wäre jetzt übertrieben. Außerdem ist Andreas genauso schlimm zugerichtet. Ich glaube nämlich, dass sein Handgelenk etwas abbekommen hat, das wäre wirklich ärgerlich. Beide gehören in ärztliche Behandlung und deshalb beenden wir die ganze Diskussion jetzt auch.“ Er wandte sich uns ein letztes Mal zu. „Also, noch einmal so eine ähnliche Sache, egal von wem, und derjenige fliegt raus, klar?“ Wieder entgegneten wir ein einstimmiges Nicken als Antwort. „Ihr klärt eure Differenzen eigenständig und sachlich so bald wie möglich und das Zimmer renoviert ihr als Denkzettel selbst und zwar zusammen. Am besten fangt ihr gleich morgen damit an – eine gute Gelegenheit sich auszusprechen, wie ich finde.“
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Andy92
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Beitrag: # 6796621Beitrag Andy92
15.11.2009 - 15:37

Es war der Montag nach einer Tour de France. Nach langen, sehr langen, verdammt langen, schier endlosen drei Wochen. So weit zurück schien der Morgen in Brest zu liegen, damals, als er in irgendeinem vorigen Leben auf sein geliebtes Rad gestiegen war, die Schuhe in die Pedale einrasteten und es keinen Weg zurück gegeben hatte. Heute hasste er sein Rad, wollte es nie wieder sehen, geschweige denn sich darauf setzen. Gerade im Moment war ihm seine Platzierung egal, er war nur heil froh die erneute Herausforderung gemeistert zu haben. Nach einem Jahr Pause hatte er die Tour noch einmal bezwingen können – er musste es sich immer wieder sagen: Die Schmerzen, die Qualen sind vorbei, er hatte es hinter sich gebracht. Es war endlich vorbei!
Wie hatte er sich auf das, was vor ihm stand, vor drei Wochen überhaupt freuen können? Es war nicht seine erste Tour gewesen. Jetzt fragte er sich, warum er nicht gleich die Finger davon gelassen hatte. Er verspürte etwas, was schwer zu beschreiben war – doch eines wusste er ganz sicher: Keine Hundert Meter würde er jetzt auf dem Drahtesel schaffen. Schon der Gedanke daran, erschien ihm Ekel erregend. Aber zum Glück musste er jetzt ja nicht mehr daran denken, es war vorbei.
Doch er hatte schon einen zu weiten Ausflug in seine Erinnerungen unternommen, jetzt fand er nicht mehr zurück. Alles an was er dachte, war L’Alpe d’Huez. Er musste die Augen schließen, um sich nicht zu übergeben. Er atmete tief durch, versuchte an etwas anderes zu denken, doch vor seinen Augen blitzte nur die Zahl 27 auf – das war an diesem Tag seine Platzierung gewesen. Dieser Anstieg symbolisierte für ihn neuerdings die Hölle auf Erden! Seit diesem Tag hatte er nur noch Schmerzen verspürt, bei jeder kleinen Tempoverschärfung. An diesem Tag hatte er drei Plätze eingebüßt, sodass er in der Endabrechnung auf dem 13. und nicht auf dem 10. Rang landete.
Doch er wusste auch, was die Ursache für die ganze Sache war: Die Verausgabungen tags zuvor. Aber im Endeffekt wusste er auch, dass es sich alle Mal gelohnt hatte diese Anstrengungen zu unternehmen, dieses halsbrecherische Risiko in der Abfahrt vom Col de la Bonette einzugehen, er hatte seine erste Touretappe gewonnen! Und die gesamte Rundfahrt mit dem persönlich besten Ergebnis abgeschlossen! Eigentlich hätte er sich darüber freuen und vielleicht noch etwas länger mit dem Team feiern sollen, doch dafür war er einfach zu müde gewesen – die Alpen und das Zeitfahren steckten ihm immer noch in den Knochen...
Endlich zu Hause! Da war endlich das Sofa, da konnte er sich endlich ein wenig hinlegen, vielleicht ein bisschen schlafen. Doch die Ruhe war ihm wohl nicht gegönnt – auf dem Tisch lag die Zeitung von heute: Das Bild auf der Titelseite verschwamm vor seinen Augen. Es zeigte das überlebensgroße Lächeln von Andreas Klöden...


Ich musste urplötzlich an das Ergebnis der diesjährigen Tour denken. Klöden hatte sie gewonnen, der zweite Deutsche in der Geschichte des Radsports, der nach Jan Ullrich die Frankreichrundfahrt gewonnen hatte – doch, wenn ich ehrlich war, bekam ich hier überhaupt nichts davon mit. Es schien nichts außergewöhnliches zu sein, dass ein Mitteleuropäer die wohl schwerste Rundfahrt der Welt gewonnen hatte. Die Schweizer schien das kalt zu lassen. In den Medien wurde sachlich, ja fast beiläufig darüber berichtet. Im Internat schien es auch kein Thema zu sein – allerdings gab es hier zur Zeit zu meinem eigenen Leidwesen auch Wichtigeres, als die Frage, ob sich die deutschen Medien mit Lobeshymnen gegenseitig überboten, immerhin hatte Klöden seine Konkurrenz deutlicher distanziert, als es Armstrong je geschafft hatte. Doch eigentlich war auch mir diese Frage so ziemlich egal – im Moment zumindest, vielleicht aber auch generell.
Zum Schrecken meiner Trainer und Mentoren musste ich so schnell wie möglich operiert werden. Ich wusste zwar nicht wirklich, was genau Sven in meinem Handgelenk regelrecht zerstört hatte, doch hatte ich eine ungefähre Vorstellung davon, auch wenn diese ziemlich ekelerregend war und ich kaum länger als ein paar Sekunden darüber nachdenken konnte. Schon am Dienstag kam ich unters Messer. Die Schmerzen hatten inzwischen dank diverser Medikamente nachgelassen, flammten nach der OP aber wieder auf. Zwei Tage später hatten die Qualen dann zum Glück ein Ende. Mit Verband und Schiene konnte ich die nun völlig bewegungsunfähige Hand schmerzfrei umherzeigen.
Als Ironie des Schicksaals hatte Svens Wurf mit dem Stuhlbein, doch noch etwas Gutes: Die alte Verletzung an einem Band, das vorher nur äußerst kompliziert angerissen war, hatte er so komplett durchtrennt, wodurch die Wahrscheinlichkeit seltsamerweise höher war, dass ich keinerlei bleibende Schäden davontragen würde, zumindest was dieses Band anging. Denn das Gelenk an sich hatte es irgendwie, so genau konnte ich das nicht sagen, in sich verdreht oder verschoben, ein paar Knochensplitter waren angeblich auch nicht mehr an der richtigen Stelle zu finden, auf jeden Fall waren die Folgen äußerlich kaum sichtbar, doch die Ärzte vor ein Rätsel in Sachen Langzeitprognose gestellt. Sie konnten mir nicht versichern, dass ich zukünftig unter bestimmten Belastungen keine Schmerzen haben würde. Noch konnte ich das nicht überprüfen, die Hand war für einige Tage zu absoluter Ruhelage verpflichtet.
Doch immerhin würde auch Sven stets ein Andenken an diesen im Internat mittlerweile als legendär geltenden Kampf bei sich tragen: Ich hatte ihm seine Nase gebrochen – im ersten Moment war ich richtig Stolz auf diese Leistung gewesen, versuchte sie aber nicht nach außen zu tragen, was mir in Anwesenheit von Melinda, die mir diese Nachricht übermittelt hatte, natürlich misslang. Ihre vorwurfsvolle Miene trieb mich zur Reue und ich musste mir eingestehen, dass die Sache auch ganz Böse hätte enden können. Dennoch, Sven hatte keine perfekt geformte Nase mehr – ich war mir zwar ziemlich sicher, dass er seinen vorigen Nasenrücken nicht wirklich vergöttert hatte, doch war er mit dem Ergebnis der Rettungsversuche im Krankenhaus bestimmt nicht zufrieden. Ein kleiner Knick, ein kaum sichtbarer Hubbel würden seine Visage nun für immer zieren. Und bei diesen gehässigen Glückwünschen realisierte ich zum ersten Mal, dass ich Sven wirklich hasste. Es erschien mir völlig unmöglich, dass wir uns je wieder wie zivilisierte Menschen über den Weg laufen würden, oder sogar Freunde werden können. Auf so einen Freund, der so in seine eigene Ansichten vernarrt war und kein bisschen Vertrauen in seinen Kameraden hatte, konnte ich getrost verzichten!

„Und? Habt ihr euch ausgesprochen?“, waren die ersten Worte, die ich am Freitagnachmittag nach stundenlangem Schweigen in meinem und Svens Zimmer hörte, das wir endlich aufgeräumt hatten. Ich begegnete Melinda einmal mehr auf der Treppe ins Kellergeschoss, auf dem Weg mich mit den Computern etwas zu beruhigen.
„Glaubst du an den Weihnachtsmann?“, entgegnete ich ihr in einem unbeabsichtigt zynischem Tonfall. Ich war gereizt. Die Wut, die alleine Svens stundenlange Anwesenheit bei mir ausgelöst hatte, musste jetzt irgendwo raus. Eine Stimme in meinem Kopf warnte mich, dass ich das bei Melinda aber besser sein lassen sollte.
Sie schüttelte mit verständnislosem Gesichtsausdruck den Kopf.
„Ihr zwei solltet echt noch Mal zurück in den Kindergarten. Aber ich glaube selbst dort gibt’s reifere Kinder als ihr zwei.“
„Das kannst du nicht verstehen.“
„Ach“, rief sie und begann leise zu kichern.
„Jetzt tu nicht so. Mit so einem Sturkopf hält man es keine Minute lang aus und schon gar nicht zwei Stunden lang – ich sage dir, das war die...“ Doch Melinda unterbrach meinen Anfall von Ärger abrupt.
„Andreas, das ist lächerlich. Überleg mal, ob es wirklich nur einen Sturkopf gibt. Hast du nie versucht Sven zu verstehen?“
„Natürlich hab ich das! Ganz am Anfang. Ich hab es sogar nicht nur versucht, ich kenne seine Ansichten schon längst. Aber es ist völlig egal, was ich ihm auch immer sage, er beharrt darauf, dass ich meine Mutter hassen müsste.“
„Achso ist das, darum geht’s – und ich dachte Phasenweise schon ihr zwei Halbstarken hättet euch wegen mir gestritten.“ Sie lächelte mit aufleuchtenden Augen und warf ihr Haar zurück. Nach einer kurzen Pause, in der ich keine Reaktion zeigte, griff sie ihre Provokation von eben noch Mal auf: „Würde mich nicht wundern.“ Und setzte ein noch viel süßeres Lächeln auf als zuvor. Sie gab sich echt Mühe, doch ich fühlte mich plötzlich kalt wie ein Eisberg, unfähig eine Antwort zu geben.
„Weißt du, mir hätte das ja auch mal jemand sagen können, warum ihr dieses ganze übertriebene pubertäre Affentheater veranstaltet habt.“
Ihre letzten Worte schienen meine Lippen endlich zu lockern und ich suchte kurz nach der passenden Reaktion. Sollte ich meinem Ärger Luft machen? Immerhin hatte sie mich jetzt auch noch provoziert, anstelle ein wenig Verständnis zu zeigen. Obwohl – ich musste einfach einen kühlen Kopf bewahren, auch wenn das bei Sven nicht funktioniert hatte, bei Melinda war das etwas anderes. „Sorrry“, seufzte ich.
Doch das rief bei ihr nur ein Grinsen als Antwort hervor. „Für was?“, fügte sie nach wenigen Sekunden hinzu – ihre Augen blitzten auf und sie fokussierte mich mit einem Blick, den ich bei ihr noch nie gesehen hatte. Nicht ironisch, lächelnd von oben herab, trotzdem irgendwie freundschaftlich – nein, eher begierig, um es mit einem Wort zu umschreiben. Nicht mehr nach dem Mott „Ja, du kleiner, laber nur“.
Da ich diese Reaktion, oder besser gesagt diese Aktion, bei ihr noch nie gesehen hatte, war ich zunächst völlig verwirrt.
„Na...na, weil – weil ich dir nichts gesagt habe“, stammelte ich schließlich.
„Wirklich?“
„Für was denn sonst?“ Ihr Verhalten erschien mir absolut seltsam. Doch mir kam plötzlich ein anderer Gedanke – wenn ich gerade schon beim Pluspunkte sammeln war: „Und übrigens, Danke. Dafür, dass du im richtigen Moment ins Zimmer gekommen bist und nicht einfach weggehört hast, auch das du überhaupt noch mit uns reden wolltest und es auch jetzt noch tust, obwohl Sven und ich uns wohl nie einigen werden.“
Irgendwann war mein Blick auf das Treppengeländer abgeglitten – aus irgendeinem Grund hatte ich ihrem Augenkontakt nicht standhalten können. Sie entgegnete mit einem vielsagendem Grinsen, nur was es bedeutete konnte ich nicht entschlüsseln.
„Wirklich, das ist keine Sache, für die du dich bedanken musst. Dafür sind Freunde doch da.“ Sie lächelte beinahe verlegen und ich hatte kurz den Eindruck, als ob ihre Wangen einen zierlichen roten Farbton annehmen würden. Doch schon nach wenigen Sekundenbruchteilen hatte sie ihren üblichen verspielt ironischen Gesichtsausdruck wieder gefunden. „Aber ich glaube ich muss dir jetzt auch etwas sagen“, fuhr sie fort und räusperte sich kurz. „Ehrlichgesagt habe ich mir schon von Anfang an gedacht, warum ihr euch bekriegt habt – und es immer noch tut“, sie seufzte. „Wenn man eins und eins zusammen zählen kann, dann leuchtet einem das sofort ein. Ok, hättest du mir die ganze Vorgeschichte schon vor Wochen erzählt, dann wäre es mir vielleicht nicht so präsent gewesen wie jetzt und dann hätte ich mit Sven wahrscheinlich auch gesprochen.“
Überrascht schnellten meine Augenbrauen nach oben. „Heißt das, du hast mit ihm seit Montag kein Wort geredet?“
Sie nickte stumm. „Genau das heißt es. Aus irgendeinem Grund bin ich genauso wütend auf ihn wie du.“
„Oh, das glaub ich weniger.“
Melinda schaute verdutzt auf. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.
„Na ja, du hast ihn glaube ich nicht krankenhausreif geschlagen, oder?“
Ihre Miene verfinsterte sich. „Glaub mir, man kann einen Menschen auch so hassen, ohne physisch gegen ihn vorzugehen. Die verbale Ebene oder auch die schlichte Ignoranz, wie bei Sven und mir, können viel tiefere und schmerzhaftere Wunden reißen – weil sie nicht auf die körperliche Hülle, sondern auf die Seele zielen.“
Mit diesen Worten stapfte sie an mir vorbei die Treppe hoch, ohne mir auch nur noch einen Blick zu schenken und verschwand oben um eine Biegung des Ganges. Ich versuchte nicht, sie aufzuhalten oder ihr noch etwas hinterher zurufen. Es hätte keinen Sinn gemacht, denn ich wusste, dass sie Recht hatte, mit dem, was sie sagte. Und obendrein hatte sie mir noch eine Kostprobe ihrer Kunst der verbalen Kriegsführung mit auf dem Weg in den Keller gegeben. Ihre Reaktion und ihre anschließende Ignoranz hatten alles gesagt, was sie von Gewalt und der Prahlerei mit ihr hielt – und das schon zum zweiten Mal!
Plötzlich beschlich mich ein ziemlich mulmiges Gefühl. Hoffentlich hatte ich gerade keinen ernstzunehmenden Fehler begangen! Ich Idiot hatte mit meinen Kampffertigkeiten ja auch wieder angeben müssen! Doch mit Sicherheit hatte sie mir gerade eben nur eine Lehrstunde in Sachen sozialem Verhalten gegeben. Sie war immerhin fast zwei Jahre älter als ich, aber dennoch manchmal ziemlich kindisch. Gerade deshalb wollte es mir nicht in den Sinn kommen, dass sie aufgrund dieser zwei Jahre einen gewaltigen Sprung ihrer intellektuellen Reife gegenüber meinem gerade zu primitiven Entwicklungsstatus gemacht hatte und aufgrund dessen in diesen Belangen mir gegenüber haushoch überlegen war.
Es erfüllte mich mit Ärger, dass sie sich eben geradezu hochnäsig verhalten hatte. War das ganze Gespräch nicht von Anfang an ein Test gewesen? Ich versuchte es in meinem Kopf zu rekonstruieren – und kam zu einem regelrecht erzürnenden Ergebnis.
Ich war verdammt noch mal kein unreifes Bürschchen! Aber hatte sie mich nicht schon immer genau so behandelt? Jetzt wo ich gerade, erstarrt zur Salzsäule auf der Treppe stehend, darüber nachdachte, kam es mir, dass sie mich wohl die ganze Zeit verarschte. Sie schien regelrecht mit mir zu spielen, mich wie gerade eben ständig zu testen und auch noch großen Gefallen daran zu finden – Mist!
Doch meine Situation war aussichtslos. Ich konnte nichts dagegen unternehmen. Ihr gegenüber hatte ich mich noch nie anders verhalten können, als es mein Innerstes wollte. Ich war ihren Spielchen regelrecht ausgeliefert, zeigte mich ihr stets wie ein offenes Buch. Es bestand also überhaupt keine Chance, meine Reife zu beweisen.
Ich war verwirrt und schüttelte den Kopf, um mich aus dieser Gedankenstarre zu befreien. Den ganzen Tag über versuchte ich, diese doch recht blödsinnigen Ideen zu verwerfen und dachte an das kommende Wochenende, das ich mit meiner Mutter verbringen würde...
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Andy92
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Beitrag: # 6796934Beitrag Andy92
18.11.2009 - 20:07

Am 7.August, also am kommenden Donnerstag, hätte ich meine erste Rundfahrt bestreiten sollen. Vier Etappen wären es gewesen. Ein Zeitfahren, zwei hüglige und ein flaches Teilstück durch die Zentralschweiz, von Zürich über Luzern nach Bern. Doch meine Hand verhinderte mich, selbst Training war für weitere vier Wochen völlig undenkbar. Anschließend stand eine gut einmonatige Rehabilitationsphase auf dem Programm, bevor ich schließlich Mitte Oktober, Anfang November, gut einen Monat vor allen anderen mit dem Formaufbau beginnen, den Rückstand gegenüber allen anderen wieder reinholen sollte. Ich war in diesen Wochen der einzige im ganzen Internat, der überhaupt eine Verletzung hatte. Sven hatte zwar eine gebrochene Nase und einige blaue Flecken, konnte damit aber scheinbar problemlos trainieren. Zumindest zeigte er mir das stets mit größtmöglicher Gehässigkeit und prahlte damit, dass er als uneingeschränkter Kapitän an der Rundfahrt teilnehmen würde. Natürlich sagte er mir das nicht direkt – wir hatten immer noch kein einziges Wort miteinander gewechselt seit jenem Montag – aber mich erreichten diese Nachrichten stets über zig Ecken. Meist war es Danilo, der immerhin noch mit mir reden konnte und wollte, doch ich hatte das seltsame Gefühl, als würde ihn Sven von mir fernhalten wollen. Danilo wirkte stets nervös und kurzangebunden, wenn er mit mir redete, stieß ein paar Wörter hervor und war dann auch schon wieder weg. Leider war er da nicht der einzige. Ich wusste nicht, was Sven über mich verbreitet hatte, aber es gab sogar diejenigen, die nicht einmal meinem Blick standhalten konnten, dabei gab ich mir alle Mühe einen möglichst freundlichen Eindruck zu erwecken. Doch ich prallte bei vielen auf eine Wand. Auf eine Wand des Schweigens und des Ablehnens.
So kam es, dass ich das Wochenende wieder einmal mit meiner Mutter verbrachte ohne auch nur einen Fuß ins Internat zu setzen. Selbst über Nacht nicht, denn nach wie vor, musste ich mit Sven ein Zimmer teilen. Doch bislang hatte ich nicht den Mut gehabt, Alexander darum zu bitten, mich auf ein anderes zu verlegen. Ich hatte schlicht Angst davor, dass er auf seiner Forderung der Versöhnung pochen könnte. Immerhin hatte ich ihm dennoch problemlos unter die Augen treten können, als ich mich für das Wochenende diesmal ganz korrekt und formell abgemeldet hatte, was ich eigentlich zusammen mit meiner Mutter machen wollte. Doch irgendwann kam mir der Gedanke, dass es vielleicht keine so gute Idee wäre, mit ihr im Internat aufzukreuzen. Das wäre taktlos und für sie mit Sicherheit auch nicht gerade angenehm oder interessant gewesen, deshalb verwarf ich diesen Gedanken schnell wieder. Ich war mir sicher, dass irgendwann der Tag kommen würde, an dem ich meiner Mutter völlig problemlos mein Zuhause der letzten Monate zeigen konnte. Doch wie viele Wochen würden bis zu diesem Tag noch vergehen?
Mittlerweile fühlte es sich schon so an, als hätte ich nie irgendwo anders gelebt, so wohl fühlte ich mich hier – doch damit war es ja auch schon wieder vorbei. Inzwischen gab es gewisse Augenblicke, in denen ich mich weit fort wünschte. Zurück nach Deutschland oder in die neue Wohnung meiner Mutter, die möglicherweise bald hier irgendwo in der Gegend zu finden war. Andererseits würde ich dann Melinda nicht mehr jeden Tag über den Weg laufen und darauf wollte ich nicht verzichten. Nicht nur, weil ich sie dann schmerzlich vermisst hätte, sondern auch, weil ich sie dann freiwillig der Konkurrenz überlassen hätte – und davon gab es nicht nur hier im Internat mehr als genug. Es war beinahe so, als würde ich sie kontrollieren wollen, getrost dem Motto: Wenn ich schon nicht, dann keiner!

Meine Mutter hatte erfreuliche Neuigkeiten für mich. Die Dinge in der „alten Heimat“ hatte sie erstaunlich schnell abwickeln können. Das Haus hatte sich rasend schnell verkauft. Einen Großteil der Möbel und Einrichtungsgegenstände gleich dazu, denn in die neue Wohnung passte natürlich bei weitem nicht alles rein. Das war für mich die beste aller Nachrichten: Sie hatte eine Wohnung bekommen! Zwar nicht direkt in Luzern, sondern in Sarnen am gleichnamigen See. Die Konditorei war geräumt, der Umzugswagen unterwegs, jeglicher Behördenkram erledigt, was mich besonders überraschte.
„Ich hatte ja nichts anderes zu tun“, meinte sie nur und lächelte. Der Umschwung tat ihr richtig gut. Nur eine eigene Konditorei wollte sie vorerst nicht wieder aufmachen, obwohl sie ja jetzt durch den Hausverkauf mehr als genug Geld dafür gehabt hätte. Stattdessen beteiligte sie sich bei einer größeren Unternehmung mit zwei anderen Konditoren, die sie auf irgendeinem Kongress zig Jahre zuvor kennen gelernt hatte. Dieser Zufall überraschte mich dann doch etwas, doch auch ihr war dieser Einfall erst unter der Woche gekommen. Die beiden hatten das Großprojekt gerade erst gestartet und suchten schon seit einigen Wochen einen dritten Mann oder eben eine Frau im Boot. So hatten sich gleich zwei Probleme auf einmal gelöst. Jetzt wartete sie nur noch auf ihre Sachen aus Deutschland, die wohl am Montag endlich ankommen sollten – ein Teil von meinem alten Zimmer war auch dabei. Immerhin hatte sie zwei Feldbette in der Wohnung stehen, das ich liebend gerne gegen das Stockbett mit Sven eintauschte.
Und da war ich an den Punkt angelangt, dass ich ihr das ganze Problem eigentlich auch schildern sollte, doch ich war mir nicht sicher, ob sie das nicht verletzen oder verunsichern könnte – war sie mittlerweile wieder so stabil? Immerhin war sie gerade mal etwas mehr als eine Woche aus der U-Haft entlassen, wobei sie immer wieder betonte, dort die meiste Zeit zum Nachdenken über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft genutzt zu haben. Das wollte ich ihr glauben, doch mir schwebte immer noch das Bild vor Augen, als sie an jenem Abend in Deutschland festgenommen wurde – damals, als sie sich das Messer in den Bauch rammen wollte, was ich im letzten Moment noch verhindern konnte. Ich musste an die ganzen Monate zuvor denken, in denen sie so abwesend gewirkt hatte, abgeschottet von der Außenwelt, den Tod von Papa verdrängend. Ob sie seinen Tod mittlerweile akzeptiert hatte? Tatsächlich war ich bislang, nach dem wie sie sich in diesen Tagen verhielt, davon überzeugt.
Natürlich war ihr schon aufgefallen, dass sich der Verband an meiner Hand vergrößert hatte, also musste irgendetwas passiert sein. Diese Frage hatte ich noch abwehren können. Doch als ich ihr dann etwas zögerlich den Grund für meine überraschende Übernachtung bei ihr nannte – weil es mir bei ihr so gut gefiele, was ja auch zweifellos stimmte -, verriet mich die stammelnde, nach einer Antwort suchende Art und Weise und so versuchte ich schließlich doch, ihr alles möglichst schonend beizubringen.
Sie war der erste Mensch, der Sven zu verstehen versuchte. „Wahrscheinlich hat er den Tod seines Vaters noch nicht überwunden“, sagte sie. Das war auch meine einzig logische Erklärung für sein Verhalten, wusste aber auch, dass er den Trauerprozess nur alleine bewerkstelligen konnte – aber, auch wenn ich mich für diesen Gedanken im Endeffekt hasste, er schien es eben geistig nicht auf die Reihe zu kriegen.
Sie versuchte mich zu trösten und aufzubauen, immerhin konnte ich es kaum verheimlichen, dass der plötzliche Verlust einer wichtigen Freundschaft nicht spurlos an mir vorrübergegangen war. Gleichzeitig gab sie mir auch unmissverständlich zu verstehen, dass sie mir in dieser Sache unmöglich direkt helfen könne. Das Gespräch zu dritt zu suchen, würde wohl einem Himmelfahrtskommando gleichkommen. Mit ziemlicher Sicherheit würde der Schuss nach hinten losgehen, wenn wir versuchen würden sie mit Sven bekannt zu machen. Eigentlich konnte ihm bei diesem Problem von uns keiner ernsthaft helfen. Ich musste einfach hoffen, dass er irgendwann wieder auf mich zukam. Aus Sicherheitsgründen wollte ich den Versuch vorerst nicht unternehmen und den richtigen Moment lieber abwarten, das stand fest.

Es war Sonntag Abend und ich war mittlerweile wieder im Internat, wie so oft in diesen Tagen unten im Computerraum – als einziger. Ich besah die Strecke meiner verpassten ersten Rundfahrt auf deren Internetauftritt. Die erste Etappe führte von Zürich nach Luzern, über die Nationalstraße 4 über den Langenberg nach Zug. Schon dieses erste Teilstück der Etappe, eigentlich ein einziger Anstieg, stellte nach einer nur kurzen „Einführungsrunde“ in Zürich ein echtes Hindernis dar und bei meinem derzeitigen Leistungsstand hätte ich dieses mit Sicherheit nicht mit den besten Fahrern meistern können.
Kaum in Zug und am gleichnamigen See angekommen, führte die Strecke auch schon wieder bergauf. Gegenüber den 100 Höhenmetern von eben, bildeten die nun folgenden fast 300 hinauf nach Unterägen eigentlich erst die richtige Herausforderung. Ab dem Ägerisee ging es dann nur noch bergab. Zuerst hinunter zur anderen Seite des Zugersees unterhalb des Rigi – dort wo Melinda und ich erst vor wenigen Wochen in entgegengesetzter Richtung entlanggeradelt waren – und dann über Küsnacht immer auf der Nationalstraße 2 nach Luzern. Drei Schlussrunden auf einem Rundkurs beendeten die erste mit fast 90 Kilometern schon recht anspruchsvolle Etappe.
Umso länger ich die Karten und Profile der Etappen bestaunte, desto größer wurde mein Verlangen, selbst wieder aufs Rad zu steigen. Schon beim Anblick der zweiten, der „Königsetappe“ machte mein Herz einige Hüpfer. Es ging auf direktem Weg von Luzern nach Brienz an der neuen Heimat meiner Mutter vorbei stetig bergan über den Brünigpass – das Ziel lag direkt am See in Brienz. Auch wenn die Etappe nur rund 60 Kilometer lang war, Zeitabstände würde sie mit Sicherheit bringen – und Spannung selbstverständlich auch!
Selbst die auf den ersten Blick ziemlich flache dritte Etappe bot zum Schluss noch einmal eine Schwierigkeit. Von Brienz bis nach Bern gab es keine einzige Schwierigkeit; es ging stetig leicht bergab. Doch in der Hauptstadt führte der letzte der fast 70 Kilometer noch einmal relativ steil bergan, dank einem Schlenker in das eingeschnittene Aretal.
Doch erst am letzten Tag der Rundfahrt hätte meine eigentliche Feuertaufe auf dem Programm gestanden. Berganfahren konnte ich, sogar ausgesprochen gut, aber ein Zeitfahren hatte ich erst ein Mal gegen externe Konkurrenz bestritten – bei den Deutschen Meisterschaften, die ich mit einem 21.Platz und über drei Minuten Rückstand abgeschlossen hatte. Wenn man es genau nahm, dann war die ganze akribische Vorbereitung, die die Deutsche Meisterschaft mit einschloss, auf dieses Zeitfahren die Saison über jetzt völlig umsonst gewesen. Immerhin ein langfristiger Effekt würde mit Sicherheit bleiben, doch auch diese neu erworbene Fertigkeit des Zeitfahrens musste ich in den kommenden Monaten erst einmal wiederfinden.
Der Kurs des abschließenden und alles entscheidenden Zeitfahrens der „Seentour“ (da gleich acht Seen durch die Strecke miteinander verbunden werden) würde den kleinen Tross der Rundfahrt wieder zurück nach Thun führen. Von dort aus musste jeder einzelne Teilnehmer fast exakt 24 Kilometer am Ufer des Thunersees entlang, entgegen der Strecke des Vortags, nach Interlaken zurücklegen. Dabei waren gerade mal acht Höhenmeter zu überwinden – das Profil war kurz gesagt einfach topfeben.
Jetzt hatte ich endgültig einen Narren an diesem Rennen gefressen. Es war eine Rundfahrt mit schier unzähligen taktischen Möglichkeiten. Da wollte ich nicht nur das Ergebnis wissen, da wollte ich dabei sein und die Zusammenhänge erfahren. Wurde das Rennen nicht von dem selben Veranstalter organisiert wie das über den Glaubenbergpass? Tatsächlich. Mit Sicherheit waren auch hier Teamfahrzeuge zugelassen, ganz bestimmt. Ich musste einfach nur Alexander fragen, ob ich ihm im Auto Gesellschaft leisten durfte, so wie Melinda vor rund 6 Wochen. Auch wenn Sven der Kapitän war, ich wollte an diesem Rennen teilhaben, und wer weiß, vielleicht sollte ich ja auch die Chance bekommen die Freundschaft wiederherzustellen.
Völlig in Gedanken versunken schreckte ich auf, als mein Handy, das ich auf die Tischplatte gelegt hatte, plötzlich zu vibrieren begann – der ganze Tisch schien mitzusingen. Es war eine SMS von Pierre Besson. Ich las sie mir schnell durch. Natürlich! Wie hatte ich das nur vergessen können?
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Beitrag: # 6796935Beitrag Fabian
18.11.2009 - 22:02

Andy92 hat geschrieben:Von dort aus musste jeder einzelne Teilnehmer fast exakt 24 Kilometer am Ufer des Thunersees entlang, entgegen der Strecke des Vortags, nach Interlaken zurücklegen. Dabei waren gerade mal acht Höhenmeter zu überwinden – das Profil war kurz gesagt einfach topfeben.
Naja, so ganz topfeben ist diese Strecke nun auch wieder nicht... Um nur 8 Höhenmeter zurückzulegen, musst du übers Wasser fahren, ansonsten geht's aber doch immer wieder hoch und runter...
Ansonsten: Weiterhin sehr gute Arbeit! Freue mich schon darauf, wenn Andreas endlich wieder Rennen fahren kann...
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Beitrag: # 6798386Beitrag Andy92
30.11.2009 - 20:58

Ja, hast recht, vielleicht ein kleiner Denkfehler - kann ich aber immer noch als Fehler meines Helden abtun. ;) Und danke für das Lob.

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Am nächsten Morgen wartete ich auf die Ankunft von Pierre Besson. Nachdem ich bei Alexander wegen der Möglichkeit die Mannschaft bei der Seentour im Teamfahrzeug zu begleiten, was kein Problem darstellte, nachgefragt hatte, wartete ich vor dem Haupteingang des Gebäudes.
Es war hochsommerlich warm. Die Sonne brannte bereits von einem makellos blauem Himmel auf die mittlerweile ziemlich ausgetrocknete Erde. Seit gut einer Woche hatte es kaum geregnet. Auch heute würden meine Mitschüler wieder ausgedehnte Trainingsfahrten unternehmen können. Dass Melinda heute alleine mit Svens Gruppe aufgebrochen war, versetzte mir einen Stich. Die Eifersucht war ein schreckliches Gefühl, vor allem dann, wenn man sie in einer aussichtslosen Situation verspürte, wie der meinigen und nichts gegen die Umstände unternehmen konnte. Ich wollte gar nicht erst daran denken, was gerade irgendwo dort draußen auf den Schweizer Landstraßen geschah. Ehrlichgesagt traute ich Sven sogar zu, mir Melinda aus Rachgelüsten wegzunehmen – auch, wenn ich nicht mit ihr zusammen war, so ahnte er bestimmt, was ich für sie empfand...verdammt! Ich musste diese Dinge doch auch einmal vergessen können! Ich benötigte eine Pause von diesem ganzen Stress. Diese Pause hatte ich schon an diesem Wochenende bei meiner Mutter nicht finden können und auch bei meinem jetzt bevorstehenden Treffen mit Besson würde es mir wohl nicht viel anders ergehen.
Endlich wurde ich von meinen quälenden Gedanken erlöst – sein Wagen bog um die Ecke und rollte über den Schotterparkplatz auf mich zu und kam neben mir zum Stehen. Besson, wie immer leger, und dennoch auffallend edel gekleidet, stieg aus dem Mittelklassewagen.
„Morgen Andreas“, rief er und zwang sich zu einem Lächeln. Anscheinend hatte er heute keine gute Laune – wer sollte es ihm verdenken?
„Guten Morgen Herr Besson“, entgegnete ich.
„Oh, ab jetzt bitte Pierre. Jetzt wo die laufenden Ermittlungen beendet sind und ich sowieso meinen Dienst quittiert habe, kommt es auf diese Förmlichkeiten wirklich nicht mehr an. Außerdem haben wir beide doch schon genug zusammen erlebt, oder?“
Ich war überrascht. „Natürlich, klar, sie haben Recht.“
Er schmunzelte, dann seufzte er schwer. „Tja, es wird ernst. Am Freitag hab ich meinen Schreibtisch geräumt, das Wochenende über gepackt, und heute werde ich mit meiner Frau unsre langersehnte Reise starten.“ Und wieder gab er einen tiefen Seufzer von sich.
„Dann wünsch ich dir viel Spaß und viel Erfolg bei den sportlichen Herausforderungen nächstes Jahr“, meinte ich, doch dieser Satz erzeugte einen unangenehmen Nachhall in meinem Kopf und wirkte plötzlich ziemlich abgedroschen, fast unpersönlich.
„Danke. Aber jetzt möchte ich erst einmal abschalten und so viel Abstand wie möglich gewinnen.“
„Von was?“
„Von meinem alten Leben. Wir werden zwar, wenn wir wieder zurückkommen, weiterhin hier in der Gegend wohnen, aber ich glaube ich schaffe es nicht mehr in die alte Wohnung zurückzukehren. Schon allein das nähere Umfeld wird mich zu sehr an die Vergangenheit erinnern.“
Ich verstand nicht wirklich, was er damit sagen wollte. Vielleicht wollte er das auch gar nicht? Für einen kurzen Moment war ich völlig verunsichert – was sollte ich denn jetzt sagen? So gut, kannte ich Pierre nun auch wieder nicht. Uns verband die Leidenschaft zum Radsport. Das einzige, was ich von ihm wusste, war dass er nächstes Jahr an Mountainbikeevents teilnehmen würde.
Ich überlegte kurz, dann setzte ich doch zur Frage an, ob es noch einen anderen Grund als seine sportlichen Interessen für seinen Lebensumschwung geben könnte. Doch noch bevor ich überhaupt ein Wort sprechen konnte, ertönte plötzlich wie aus dem Nichts das Aufheulen eines Automotors ganz in der Nähe. Ein Kleinwagen jagte um die Ecke und kam beinahe schlitternd gerade noch hinter Pierres Auto zum Stehen.
Pierre und ich waren völlig überrascht, unfähig irgendeine Regung auf das gerade Geschehene zu zeigen oder auf das, was nun passierte. Wir beobachteten, wie eine junge, sportliche, attraktive Frau aus dem Auto stieg, in Jeans, kurzärmligen T-Shirt und einer übergeworfenen Lederjacke gekleidet – sie war hübsch.
Ich erkannte sie sofort. Es war Pierres ehemalige Kollegin – Hagen hieß sie mit Nachnamen, so viel wusste ich noch. Doch im Gegensatz zu dem Tag, an dem ich sie das letzte und bisher einzige Mal gesehen hatte – der Tag, an dem ich meine Mutter verraten hatte – machte sie heute einen vollkommen anderen Eindruck auf mich, was zu meiner allgemeinen Verwirrtheit in erheblichem Maße beitrug.
Pierre schien es ähnlich zu ergehen. Er starrte sie mit weit aufgerissenen, fragenden, verständnislosen, ja ungläubigen Augen an, schien aber außer Stande zu sein, irgendetwas zu dem überraschendem Auftauchen seiner Ex-Kollegin zu sagen.
Sie hatte einen verschwommenen, geistesabwesenden Gesichtsausdruck, wirkte aber dennoch nervös und gehetzt. Außerdem verrieten ihre glitzernden Augen, dass sie den Tränen nahe war, oder sogar gerade eben erst geweint hatte. Warum? Das konnte ich beim besten Willen nicht erraten. Ich tappte völlig im Dunkeln und wartete wohl genau wie Pierre nur darauf, dass sie etwas sagte. Doch das tat sie zunächst nicht. Sie stand einfach nur da und starrte Pierre mit einem seltsamen leeren Blick an, der aber, so hatte es den Anschein, zugleich tausend Worte sagen wollte; mich dagegen ignorierte sie komplett.
Obwohl sie schwer atmete, völlig durch den Wind zu sein schien und äußerst angespannt, fast aufgelöst wirkte, hatte sie nichts, aber auch rein gar nichts von ihrer Schönheit eingebüßt. Es war faszinierend. Erst jetzt, erst heute, fiel mir auf, wie hübsch sie doch war, stellte aber zu meiner eigenen Überraschung fest, dass Melinda dennoch auf mich einen weitaus in einem überaus gesteigertem Maß attraktiveren und begehrenswerteren Eindruck machte. Schnell verwarf ich diesen Gedanken wieder, denn er tat im Moment nichts zur Sache.
Plötzlich veränderte sich etwas an ihrer Haltung.
„Endlich hab ich dich gefunden. Ich wusste doch, dass du irgendwann noch hierher kommen würdest“, sie sprach ruhig und mit einem sanften Lächeln auf den Lippen. Doch augenblicklich verschwand dieses. Sie atmete zwei Mal tief durch, dann stammelte sie ein paar Worte hervor und stockte abrupt. „Bitte – Pierre – komm zu mir zurück!“ Sie schluckte schwer, und wartete auf eine Reaktion ihres Gegenübers. Ich war zunächst völlig baff. Was hatte das jetzt zu bedeuten? Pierre dagegen schien aus einer Art Trance zu erwachen.
„Du weißt ganz genau, dass es nicht geht“, entgegnete er.
„Wieso nicht?“, schluchzte sie. Ich verstand auch weiterhin nur Bahnhof. Mir fehlte jedweder Bezug.
„Ich habe meiner Frau ewige Treue geschworen“, sagte Pierre schlicht, aber trotzdem eindringlich, als hätte er den selben Dialog schon einmal geführt. So langsam, schien ich zu begreifen und wich vorsichtshalber ein, zwei Schritte zurück. Ich wollte den beiden im wahrsten Sinne des Wortes nicht zu nahe treten.
„Darum geht es nicht“, widersprach die gertenschlanke Frau in barschem Tonfall. „Es geht allein darum, ob du etwas für mich empfindest. Und das steht fest, Pierre, du...“
„Tanja, ich fühle nicht das für dich, was du für mich empfindest“, unterbrach sie Pierre kopfschüttelnd. „Mal ganz ehrlich, welcher Mann würde sich nicht zu dir hingezogen fühlen?“, fuhr er mit einem aufmunterndem Lächeln fort, erntete aber keinerlei Reaktion dafür. Stattdessen sprach er nach wenigen Augenblicken wieder. „Ich empfinde nicht das, was du für mich empfindest. Das hab ich dir schon oft genug gesagt. Du musst es endlich akzeptieren.“
Doch da veränderte sich etwas in Tanjas Mimik. Ihr Gesicht wirkte plötzlich schmerzverzerrt, als hätte sie ein schwerer Schlag getroffen! Sie atmete schwer, ihre Brust begann zu beben, ihr ganzer Oberkörper zu zittern. Es regte sich etwas in ihr – es war kaum zu übersehen. Angestaute Gefühle vermischt mit Sturheit und Wut kochten hoch!
„Das ist eine Lüge!“, schrie sie mit schriller Stimme.
„Tanja, ich sage es noch mal, ich...“
Doch sie schnitt ihm das Wort ab. „Du wirst nur immer weiter und weiter Lügen! Du ziehst dich immer tiefer in den Sumpf – und leugnest deine wahren Gefühle!“
Pierre schüttelte den Kopf und blickte zu Boden. Tränen kullerten langsam über ihre Wangen, die Lippen zitterten. „Ich halte das nicht mehr aus“, schluchzte sie und schnappte wild nach Luft. „Du musst zu mir zurück kommen. Wir sind unser Schicksal...du spürst es doch auch“, flüsterte sie eindringlich in einem beinahe behutsamen Tonfall, aber dennoch mit so großer Verzweiflung und so wenig Hoffnung auf eine bejahende Antwort, dass sie mir wirklich Leid tat.
Ich überlegte, ob ich nicht doch besser zurück ins Internat gehen sollte. Die beiden hatten ein ernstes Problem, Pierre schien davor flüchten zu wollen und hatte wohl deshalb seinen Lebensumschwung veranlasst. Jetzt ergab alles einen Sinn. Sollten die beiden sich doch nur aussprechen, ohne dass ihnen dabei jemand zuhörte – das würde das Beste sein. Doch aus irgendeinem unerfindlichen Grund konnte ich mich nicht von der Stelle bewegen und beobachtete weiterhin die sich mir bietende Szenerie – ich sollte dafür bestraft werden...
„Es geht nicht“, entgegnete Pierre abermals, doch bereits wenige Augenblicke später wünschte ich, er hätte eben dies nie ausgesprochen. Das, was jetzt passierte, lag fern von jeglichen Erwartungen, außerhalb jeder Vorstellungskraft und logischen Denkens. Der pure Überlebenskampf begann schlagartig – von der einen Sekunde auf die nächste!
Tanja schüttelte fassungslos den Kopf. „Gut“, krächzte sie mit belegter, kaum verständlicher Stimme. Vor ihren nächsten Worten musste sie wieder schwer schlucken, sie atmete noch einmal tief durch. „Es ist nichts gut! Ich habe dich jetzt oft genug gefragt und eine einfache Antwort verlangt – Ja oder Nein. Da du anscheinend aus Gewissenskonflikten unfähig bist eine dieser beiden klaren Worte laut auszusprechen und ständig ausweichst, muss ich dich wohl dazu zwingen....Verzeih mir bitte die Unannehmlichkeiten...aber ich versichere dir – ich meine es ernst! Und zwar aus einem einfachen Grund: Du bedeutest mir alles!“
Sie zog etwas unter ihrer Jacke hervor. Es war schwarz...
Mit einer kurzen Bewegung ihrer Finger klickte das schwarze etwas, eine Art Reiter glitt über das schwarze Metall und schnellte wieder zurück, ich konnte noch immer nicht genau erkennen, was es war. Im selben Moment zog sie es hinauf und presste sich, mit den Schmerzen unterdrückter Tränen, die Öffnung des Laufs ihrer Dienstwaffe an die Schläfe...
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Andy92
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Beitrag: # 6801703Beitrag Andy92
16.1.2010 - 20:51

Heute ist leider eine etwas längere Einleitung nötig: So, nach längerer Pause nun ein kurzes aber äußerst wichtiges Kapitel. Es besteht aus zwei Teilen: Eine Erzählung und ein Dialog. Beide Teile sind vollkommen unabhängig von einander und können in beliebiger Reihenfolge gelesen werden. Ich bin mir nämlich über die Reihenfolge selbst nicht ganz im Klaren, habe aber beschlossen, aufgrund der chronologischen Abfolge, den Dialog doch an den Anfang zu stellen. Die inhaltlichen Vorraussetzungen für den Dialog kann man sich auch aus dem letzten Teil des vorigen Kapitels erschließen (wenn man vor allem die letzten Sätze mit Verstand durchliest). Ansonsten gibt die abschließende Erzählung dann denke ich Aufschluss.
Viel Spaß beim Lesen! Ach ja: Eine Sache wäre da noch. Der Dialog ist in dieser Form durchaus gewollt. Ein kleines Experiment von mir. Ich bin mal gespannt, ob es bei euch Anklang finden wird (wohl eher nicht, und wenn, dann nur bei wenigen) - es ist eine Art sprachliches Mittel zur Verdeutlichung/Verschleierung von etwas (schöner Gegensatz :) ).
Also, viel Spaß!

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2.Kapitel - Todesengel

„Findest du es nicht auch seltsam?“
„Lass mich bitte allein.“
„Ich muss es dir aber erzählen. Auch zu deiner eigenen Sicherheit.“
„Bitte, ich möchte allein sein, Sven. Kannst du das nicht verstehen?“
„Wenn ich es dir aber jetzt nicht erzähle, dann wohl nie. Mir ist gerade ein Licht aufgegangen, es sollte dich interessieren. Mir ist etwas klar geworden, von dem ich schon seit längerem eine Ahnung habe, aber jetzt bin ich mir sicher, dass es so ist. – Es geht um Andreas.“
„Ach Sven, lass es sein. Darf ich denn nicht mal mehr über alles in Ruhe nachdenken? Ich weiß überhaupt nicht, wie jetzt alles weitergehen soll. Was auch immer du mir sagen willst, es interessiert mich nicht.“
„Das glaube ich nicht. Ganz sicher.“
„Wenn es wieder um den Streit zwischen dir und Andreas geht, dann...“
„Nein. Nicht direkt.“
„Ach komm, Sven, lass mich doch einfach in Ruhe.“
„Glaub mir, es ist wirklich wichtig und zur Sicherheit von uns allen! Ich möchte dich zumindest warnen, bevor uns noch schlimmere Dinge zustoßen, als alles bisherige!“
„Wovon sprichst du bitte?“
„Die losgetretene Lawine werden wir wohl kaum noch aufhalten können, wenn wir einfach so weiter machen, wie bisher. Wir müssen etwas ändern!“
„Sven, was redest du da? Hör auf mit dem Schwachsinn! Was soll denn schlimmer sein, als das, was heute passiert ist?“
„Also, dann sag ich’s dir.“
„Bitte, ja. Damit ich dann endlich meine Ruhe habe. Vielleicht denkst du mal ein bisschen darüber nach, wie ich mich gerade...“
„Ich denke du weißt wie Andreas Vater gestorben ist – durch einen zweifellos heimtückischen, unnötigen und dümmlichen Anschlag von einer irren Möchtegern-Terroristenbande auf dem Stilfser Joch. Aber warum war er eigentlich dort oben, an eben diesem Tag und zusammen mit seiner Frau? Hätte Andreas an diesem Tag nicht die Idee gehabt, aufgrund seiner entdeckten Leidenschaft zum Radsport den Pass bezwingen zu wollen, dann wäre keiner von den dreien jemals dort oben gewesen. Dann wäre Andreas Vater nicht gestorben, seine Mutter nicht in Depressionen gestürzt – außerdem glaube ich nicht, dass er sie wirklich aufgefangen hat. So wie ich das mitbekommen habe, gab es in der Familie keinen Zusammenhalt mehr. Andreas hätte erkennen müssen, wie schlecht es seiner Mutter geht, aber wie so oft, war er mehr mit sich selbst beschäftigt, als mit seinen Mitmenschen.“
„Wie kannst du nur so etwas behaupten, Andreas ist ein...“
„...Egoist. Es schert ihn einen Dreck, wie es anderen geht. Das sieht man doch schon in den Wettkämpfen – stets darauf bedacht, sich in Szene zu setzen, erfolgssüchtig! Am liebsten möchte er, dass er der alleinige Kapitän des Internats ist und das ihm alle seine Helfer gehorchen – aber wenn es dann mal nicht mehr so gut läuft, legt er sich in einer Abfahrt auf die Nase, um eine Verletzung zu verursachen! Ich glaube, er hat ganz genau gespürt, dass er in den letzten Wochen zu viel trainiert hat.“
„Das glaubst du doch selber nicht!“
„Ich glaube, ich muss dir noch mehr erzählen, damit du es verstehst. Hätte er also seiner Mutter in dieser schweren Situation auch nur annähernd ausreichend beigestanden, dann hätte sie mit Sicherheit nicht wieder meinen Vater in der Schweiz aufgesucht, mit dem sie ganz nebenbei schon mal etwas hatte, um bei ihm Trost und Zuflucht zu finden. Aber dummerweise wollte der nichts mehr von ihr wissen, was gleichzeitig sein Todesurteil war. Andreas Mutter stand vor einem Scherbenhaufen ihres Lebens – der Mann tot, der Sohn entrückt, keine Verwandten, keine Freunde, und der einzige letzte Hoffnungsschimmer, mein Vater, sträubte sich wehhemmend gegen eine erneute Beziehung, da er ja sein Glück mittlerweile bei einer gewissen Isabel von Klavsen gefunden hatte, die ein gewisses Vermögen ihr Eigen nennen darf.“
„Ich weiß, was jetzt kommt und was du denkst. Danke, für die Zusammenfassung von Andreas tragischem 17. Lebensjahr.“
„Halt, es kommt noch mehr! Wie du ja gerade schon richtig erkannt hast, folgt der Mord der verzweifelten Katharina Wagner an Georg von Klavsen, meinem Vater. Es mag ein Unfall gewesen sein, keiner kann das eine noch das andere beweisen, aber dennoch ist mein Vater gestorben und ohne Andreas Mutter wäre er heute noch am Leben.“
„Ich versteh immer noch nicht, was du damit eigentlich sagen willst.“
„Eigentlich sollte es jetzt einleuchtend sein. Denk doch noch mal zurück, an den Anfang, was ist denn der Ursprung der ganzen Sache?“
„ – Du meinst also ernsthaft, dass Andreas Ausflug auf das Stilfser Joch der Auslöser für das alles ist? Ach, komm, das ist schon etwas weit...“
„Das ist noch nicht alles! Denn jetzt kommt deine Tante ins Spiel.“
„Bitte!? Was hat sie denn damit jetzt zu tun? Sag ja nichts falsches, sonst...“
„Sie führte zusammen mit Pierre Besson die Ermittlungen im Mordfall meines Vaters durch. Und zwar hab ich erfahren, dass die beiden zusammen nach dem Handy von Georg gesucht haben, im Frühjahr, bei schönem Wetter und klarer Bergluft. Dabei haben sie sich wohl ineinander verguckt, ansonsten wäre es wohl nicht zu dem Drama gekommen, dass sich zwischen den beiden abgespielt hat. Pierre ist verheiratet, liebt seine Frau offensichtlich sehr und erwartet auch noch Nachwuchs. Dieses Leben wollte er wohl nicht zerstören, eigentlich vernünftig, und hat so lieber die Notbremse gezogen, bevor es zu spät sein sollte, doch das war es schon längst. Wahrscheinlich hat er seiner Frau alles gestanden, ansonsten wäre es völlig unlogisch, dass sie damit einverstanden ist, wieder zurück in die französischsprachige Schweiz zu gehen. Aber deine Tante hat das wohl nicht verkraftet, das tut mir wirklich Leid.“
„Ich hab bei ihr gewohnt, bevor ich hier ans Internat kam. Ich denke du weißt, dass meine Eltern in Südtirol leben.“
„ – Ja. Aber hast du verstanden, was ich mit all dem sagen möchte?“
„Nein, überhaupt nicht. Wenn du meinst, für all die Tragödien, ob in meiner oder in deiner Familie, Andreas die Schuld geben zu können, dann liegst du gewaltig daneben.“
„Fällt dir nichts auf? Du hast es eben selber gesagt.“
„Bitte? So langsam kotzt es mich an – komm endlich auf den Punkt, Junge! Ich hab echt keine Lust auf dein absurdes Gedankenspiel!“
„Du hast doch gerade gesagt, dass es sowohl in meiner, als auch in deiner Familie Tragödien gab?“
„Ja, und?“
„Jetzt denk noch ein Mal über alle Beteiligten nach, vor allem über diejenigen, die jemanden verloren haben und über deren Beziehung zu Andreas. Es sind immerhin drei Menschen innerhalb des letzten Jahres gestorben, die uns dreien, also Andreas, dir und mir nahe standen.“
„Es ist schlimm, richtig traurig – etwas anderes fällt mir dazu nicht ein.“
„Also gut, dann erklär ich’s dir. Seit Andreas mit dem Radsport angefangen hat, stoßen all seinen Freundschaften schreckliche Dinge zu – seine Mutter eingeschlossen. Er ist der Auslöser für die Lawine, verstärkt sie auch noch, indem er mehr und mehr Hänge lostritt, ohne Rücksicht auf Verluste, bis sie alles niedergemäht hat, was sich im Tal befindet. Und wenn man alles aus seinem Standpunkt betrachtet, dann sind wir das, die sich unten im Tal befinden. Verstehst du es jetzt?“
„Nicht wirklich.“
„Also gut, dann noch mal von vorne. Er fängt mit dem Radsport an, möchte im Urlaub das Stilfser Joch bezwingen, seine Mutter verliert ihren Mann. Die Sache mit Georg ist eng damit verbunden, er war mein Vater, zu dem ich endlich eine Beziehung aufgebaut hatte und natürlich auch zu meiner Schwester, mit der Andreas für einige Wochen sogar zusammen war. Und jetzt durch Tanjas Tod, der ebenfalls in dieser Kette liegt, haben du und Pierre Besson eine Tante beziehungsweise eine gute Freundin verloren – sie war Besson wichtig, da bin ich mir sicher. Sonst hätte er sich nicht so verhalten wie heute.“
„Ein wenig weit her geholt....Aber – irgendwo ist es doch ein wenig seltsam. Hat Andreas sonst keine engeren Freunde?“
„Nicht das ich wüsste.“
„Und hatte er so einen guten Draht zu diesem Pierre Besson?“
„Ich glaube schon. Vielleicht haben es beide noch nicht gewusst, wie nahe sie sich durch den Sport tatsächlich stehen. Ich glaube fast, Andreas wäre ihm gerne gefolgt. Von Alexander hab ich so etwas erfahren, dass Besson vor hat, nächsten Sommer professionell an Mountainbikewettbewerben teilzunehmen. – Weißt du vor was ich wirklich Angst habe?“
„Nein.“
„Vor dem, was als nächstes passiert.“
„Du glaubst also, dass es noch schlimmer werden könnte? Dass vielleicht auch noch Alexander etwas zustößt?“
„Könnte sein. – Es ist erschreckend, wie Recht du damit haben könntest – darauf bin ich noch gar nicht gekommen!“
„Auf was?!“
„Isabel, sie...versprich mir, dass du es niemandem sagst.“
„Ich verspreche es.“
„Seit Georgs tot, hat sie sich sehr verändert. Zwar war sie mir schon vorher ein wenig unsympathisch, aber seitdem ist sie zeitweise richtig unausstehlich und dann spielt sie plötzlich die verständnisvolle, führsorgende Stiefmutter – etwas, was sie früher nie getan hat. Aber das ist noch nicht alles. Zu ihren psychischen Problemen sind auch körperliche hinzu gekommen: Ihr Herz.“
„Hm, das wäre wirklich schrecklich!“
„Natürlich ist es das, aber ich fürchte fast, dass es da keinen Ausweg mehr gibt. Für sie zumindest nicht.“
„Wie kannst du nur so etwas sagen?“
„Du hast mich doch erst auf den Gedanken gebracht. Alexander wäre es doch, welcher der eigentliche Leidtragende wäre. Isabel ist das einzige was ihm noch geblieben ist; sein Vater ist schon lange tot.“
„Ich fürchte fast, du hast Recht – es würde wohl in das Schema passen.“
„Willst du wissen, was ich ursprünglich für eine Theorie hatte, welche Kreise die ganze Sache ziehen würde?“
„Erzähl.“
„Ich hatte Angst, dass es als nächstes uns selbst trifft. Die Lawine wird nun mal größer und immer gewaltigere Gesteinsbrocken mit ins Tal reißen und uns, die ja dort unten stehen, irgendwann erreichen – immerhin sind wir schon geschwächt.“
„Ich weiß nicht wieso, aber das Ganze gibt mir doch zu denken. Hast du eine Idee wie wir es stoppen können? Ich würde vorschlagen, dass wir alle zusammen führen und die entstandenen Fronten klären sollten.“
„Das wird nicht funktionieren. Bring mal Andraes Mutter ins Internat – Isabel wird entweder auf sie los gehen oder vor Schreck einen Herzinfarkt bekommen. – Ich würde etwas anderes vorschlagen.“
„Und was?“
„Wir müssen entweder versuchen Andreas loszuwerden – für seine Ziele gibt es auch noch andere Wege, wie zum Beispiel über Pierre Besson oder was weiß ich wen – oder wir versuchen ihn zu meiden. Ich bin zwar nicht abergläubisch, aber der Zusammenhang zwischen all diesen Todesfällen ist doch frappierend! Auch wenn er es nicht beabsichtigt, aber Andreas bringt Unglück über alle, die ihm wichtig sind – soll er das doch mit anderen machen und nicht mit uns.“
„Na ja, genau genommen bringt er ja nicht nur ,Unglück’.“
„Ganz genau. Ich würde sogar behaupten, er ist eine Art Todesengel.“


Mit den Worten „Sie hat es mir leichter gemacht“ verschwand Pierre Besson aus meinem Leben.
Ich wusste nicht, ob ich ihn jemals wieder sehen würde. Er hatte nichts zurück gelassen, nur eine letzte schreckliche Erinnerung, die mich noch über Jahre hinweg verfolgen sollte.
Obwohl ich Tanja Hagen kaum gekannt hatte, hinterlies ihr Freitod die gleiche Leere, wie der Tod meines Vaters. Doch diesmal war es die Art und Weise, die über allem das Gefühl der Gleichgültigkeit hinterließ, eben dieses Gefühl, das die Tage wie im Flug vergehen lies, die Zeit zum Stillstand zwang, zeitlos machte und das Mundwerk müde. Alles erschien mir plötzlich sinnlos und unbedeutend zu sein: Meine Erfolge in diesem Jahr, meine gewonnenen Erfahrungen, das Internat, meine Mitschüler, der Streit mit Sven, meine Verletzung am Handgelenk. Einfach alles war nichts im Gegensatz zu den grauenhaften Bildern, die mich jede Nacht im Traum heimsuchten. Immer wieder sah ich die Szene so deutlich vor mir, als wäre sie gerade erst geschehen. Die kreischende Stimme von Tanja, der Versuch Pierres beruhigende Worte zu sprechen, dann der Schuss, der an den Berghängen wiederhallte, das kurze und leise Aufflammen des Blutregens, der gellende Schrei von Pierre, der knirschende Kies, als zuerst Tanja, dann Pierre auf den Boden fallen, die eine Tod, der andere lebendig. Es waren allein die Geräusche, welche die Gesichte nacherzählten. Der Bilder bedarf es nicht.

Der Schuss hatte beinahe alle aus dem Haus gelockt. Ich war noch minutenlang an ein und der selben Stelle gestanden, hatte Pierre beobachtete, wie er sich wie ein Wurm am Boden wand und weinte und rannte urplötzlich fort, den Berg hinauf, als er merkte, dass Alexander und Isabel durch die Eingangstür hasteten. Doch keiner nahm die Verfolgung auf. Vielleicht auch doch? Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern. Die Bilder waren bis dahin zu verschwommen, die Geräusche jedoch klar.
Das erste, was ich wieder bewusst wahrgenommen hatte, war Melindas ausdrucksloses Gesicht. Ich konnte nicht anders, als mich wie ein kleiner Bub in ihre Arme fallen zu lassen. Es tat einfach gut und half die vergangenen Minuten ein wenig zu vergessen. Jedoch wusste sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wer oder was die Ursache für den Tumult war, und ich hatte keine Ahnung, dass Tanja Hagen Melindas Tante war.
Kurze Zeit später sah ich sie wieder, mit tränenverschmiertem Gesicht, sie rannte auf mich zu und diesmal war sie es, die mir in die Arme fiel...
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commandercharly
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Beitrag: # 6801729Beitrag commandercharly
17.1.2010 - 12:24

Also den zweiten Teil finde ich ganz gut, Der Dialog ist zwar gut geschrieben aber von der Story doch verdammt weit hergeholt. Das plötzlich beide an diesen besagten Todesengel glauben ist wohl etwas zuviel des guten.

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Mor!tz
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Beitrag: # 6801786Beitrag Mor!tz
17.1.2010 - 17:04

Also ich finde das ganze echt gut, es kommt gut rüber... Zu dem Dialog passt es ganz gut, dass man nichts über den Ort weiß und auch nichts über Mimik und ähnliches erfährt. Allerdings finde ich, dass es etwas plötzlich kommt, dass Melinda ihre Einstellung zu Svenns Theorie ändert. Mir fehlt auch irgendwie die Begründung dafür...
Dass du die Reihenfolge so gewählt hast, finde ich auch gut, denn dass Tanja Hagen Selbstmord begangen hat, merkt man ja recht schnell. Passt gut...

Andy92
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Beitrag: # 6809943Beitrag Andy92
5.4.2010 - 12:22

So, kreative Pause bis der RSM 10 draußen ist - also wahrschienlich mindestens bis Juli. Aber bis dahin hab ich ein anderes Schmankerl für euch. Schaut euch einfach mal im Forum um. ;)
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RadioShack11
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Beitrag: # 6835317Beitrag RadioShack11
20.10.2010 - 20:11

Der RSM 2010 is jetzt schon draussen und auch schon gute DB's.

Da wollt ich fragen ob der spitzen AAR noch weitergeht???
Mein AAR: Das große Ziel

"Im Golf schwimmt jetzt bald genug Öl und Teer rum, dass die Kubaner zu Fuß nach Florida einwandern können".

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vino 12
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Beitrag: # 6835319Beitrag vino 12
20.10.2010 - 20:47

Fände es schade, wenn er nicht weitergehen würde. War/Ist einer der besten AARs der letzten Monate/Jahre.

Andy92
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Beitrag: # 6835325Beitrag Andy92
20.10.2010 - 21:57

Wow, danke Leute, dass überhaupt jemand diesen Thread mal wieder gefunden hat. Ich muss euch aber leider vertrösten - der AAR ist zwar nicht beendet, aber er wird wohl noch eine ganze weile pausieren müssen. Ich schreibe dieses Jahr Abitur, mal sehen, vielleicht finde ich im Winter nach der Seminararbeit ein wenig Zeit. Andererseits, ich hab ja auch noch einen anderen AAR am "Laufen". Auch der pausiert zurzeit. Es tut mir echt Leid, dass ich zurzeit keine klaren Aussagen machen kann, ich weiß es nämlich selbst auch nicht besser - so ein Ende hab ich der Story eigentlich nicht gewünscht.
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